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Die wenigen Gäste des alten Hotels auf dem Gipfel des Monte Gajo hatten seit einer Woche das Vergnügen, den Senator Romualdo Reda sprechen zu hören.
Endlich!
Nach einem Aufenthalt von zwanzig Tagen dort oben hatte der berühmte Chemiker von der Accademia dei Lincei noch mit niemandem ein Wort gewechselt. Er fühlte sich nicht wohl; er war müde. Man erzählte sich sogar, er habe letzthin in Rom im chemischen Laboratorium, wo er sich von morgens bis abends aufzuhalten pflegte, einen leichten Ohnmachtsanfall gehabt, und die Ärzte hätten ihn geradezu gezwungen, sich ein wenig Ruhe zu gönnen und wenigstens für einige Monate die Studien zu unterbrechen, denen er trotz seines Alters mit unbeugsamer Ausdauer und gewohnter unerbittlicher Strenge oblag.
Die gleiche Ausdauer und die gleiche Strenge beherrschten seine Lebensführung. Zweimal nachdrücklichst gebeten, den Posten des Unterrichtsministers anzunehmen, hatte er beide Male strikt abgelehnt, da er von seinen Studien und seinen Lehrerpflichten nicht lassen wollte.
Die sehr kleine Figur, fast ohne Hals, das platte, lederne, glattrasierte Gesicht, die Augenlider, die geschwollen waren wie Säcke, so daß die Wimpern nicht zum Vorschein kamen, das lange, graue, glatte und etwas feuchte Haar, unter dem die Ohren sich versteckten: all dies gab ihm das Aussehen einer alten, schwatzhaften Magd.
Jeden Nachmittag kam er auf den freien Platz vor dem Hotel herunter, von einem Diener gefolgt, der ihm ein großes Paket Wochenschriften und Zeitungen oder einige Bücher nachtrug; und auf einem Liegestuhl aus Binsen, von der hundertjährigen, majestätischen Buche überschattet, die den Gipfel beherrschte, vertiefte er sich für einige Stunden in seine Lektüre.
Die Buche war der üblichen Redensart nach majestätisch, aber es mußte ihr allmählich sehr langweilig werden, da oben zu stehen und allen Winden ausgesetzt zu sein. Und deutlich gab sie zu verstehen, daß sie die hohe Ehre und das ihr in diesen Tagen zuteil gewordene Glück, mit ihrem reichen Laub eine so berühmte Persönlichkeit zu schirmen, durchaus nicht würdigte. Man durfte sogar behaupten, daß sie sie nicht einmal bemerkte.
Auch das Gasthaus schien sich nicht dadurch geehrt zu fühlen, daß es den Senator beherbergte, und zeigte unbekümmert das bescheidene und melancholische Aussehen eines alten, verlassenen Klosters. Aber der Wirt! ja, man mußte ihn sehen, den Wirt! Er hatte den übrigen Besuchern gegenüber die würdevolle Haltung eines Diplomaten angenommen. Und die Kellner! auch die mußte man sehen! Die taten ihren Dienst mit einer unbezahlbaren Nachlässigkeit und gaben zu verstehen, daß sie sich um die anderen nicht mehr kümmern könnten als eben nötig, da sie ganz zur Verfügung des einen zu sein hätten.
Der junge Torello Scamozzi, Advokat und Journalist aus Liebhaberei, war geradezu verärgert; nicht so sehr seinetwegen, als, wie er sich äußerte, um der Damen willen. Er drohte, er werde sich in den vielen Zeitungen rächen, deren Mitarbeiter zu sein er vorgab; allein die Damen baten ihn edelmütig, sich ihretwegen nicht in Verlegenheit zu bringen.
Es waren ihrer vier, nämlich die beiden Gillis, Mutter und Tochter, Miß Green, eine nicht mehr ganz junge, blonde und blauäugige Engländerin, stets mit Kopfweh und Antipyrin behaftet, und die Frau von Doktor Sandrocca, der gelähmt und ständig an den Rollstuhl gefesselt war.
Sehr viel klüger oder jedenfalls praktischer war ein anderer junger Gast, Leone Borisi. Der überließ Scamozzi das Vergnügen, bei den Damen den Helden zu spielen, besonders vor dem reizenden, lebhaften Fräulein Nini Gilli, und machte sich seinerseits daran, den Stuhl Doktor Sandroccas die Bergpfade entlang unter den Roßkastanien zu schieben, mit einer Hand den Stuhl zu schieben und die andere um die Hüften der Frau des guten Doktors zu legen, einer sehr sympathischen, lockigen Brünetten mit einem Spitznäschen und funkelnden Äugelchen. Ja, und das, seht ihr, geschah so in aller Unschuld, halb aus Zerstreuung, hinter dem Rücken des Ehemannes, der in einem fort lachte und lachte und schwatzte und die Pfeife rauchte.
*
Das Wunder, den berühmten Senator Romualdo Reda zum Sprechen zu bringen, hatte ein neuer Gast bewirkt, bei dessen Ankunft die vier Damen die Näschen gerümpft und der Wirt den Mund verzogen hatte.
Er war schlampig, troff über und über von Schweiß, hatte einen dicken, rasierten Kopf und richtige Speckschwarten im Nacken. Die Brillengläser rutschten auf seiner klumpigen Nase stets hin und her, und die großen, weitsichtigen Augen schienen immer etwas zu suchen und zwangen den Kopf zu allerhand komischen Verdrehungen, die an einen im Joch wild gewordenen Stier erinnerten. So war Professor Dionisio Vernoni in der Tat nicht geeignet, Vertrauen zu erwecken. Aber wenn man ihn dann reden hörte …
Vielleicht litt Professor Dionisio Vernoni innerlich an einem vulkanischen Durcheinander seiner vielen Leidenschaften und Fähigkeiten, aber was nach außen hin zutage trat, erregte nur Lachen. Lachen besonders auch deshalb, weil er trotz des Fleischgebirges, das er mit sich herum schleppte, ein unverbesserlicher Idealist war, der Herr Professor Dionisio Vernoni. Ja, ein Idealist war er, und selbst auf die Gefahr hin, abgewürgt zu werden, beruhigte er sich nicht, und konnte und wollte sich nicht dabei beruhigen, daß die Wissenschaft angesichts der gewaltigen Probleme des Daseins in empörender Weise versagte und sich bequem -- er nannte es feige -- hinter das sogenannte philosophische Denken innerhalb der Grenzen des Erkennbaren flüchtete. Und mit den dicken Händen verjagte er immer wieder die hartnäckigen Fliegen, die sich an sein beschwitztes Gesicht heften wollten.
Als er den Senator, der vor vielen Jahren sein Lehrer an der Universität gewesen war -- an mehreren Universitäten waren alle Professoren seine Lehrer gewesen, weil er drei- oder viermal nacheinander promoviert hatte -- als er den Senator unter der Buche erblickt hatte, war er zu ihm gelaufen, hatte sich mit erhobenen Armen auf ihn gestürzt und gerufen:
»O, Sie hier, mein verehrtester Herr Professor?«
Und fast auf der Stelle waren zwischen dem ehemaligen Schüler und dem alten Lehrer die glühenden Diskussionen wieder aufgeflammt, die jahrelang an der Universität berühmt gewesen.
Glühend, versteht sich, nur von einer Seite, nämlich von der Vernonis, denn der Senator antwortete trocken und bissig, mit einem kalten Hohnlächeln um die Lippen, und gab zu verstehen, daß er seinen wunderlichen Schüler einer Erwiderung nur würdigte, um sich über ihn lustig zu machen.
Die übrigen Gäste, die sich allmählich zum Zuhören eingefunden, hatten das wohl begriffen. Jetzt pflegte man dem geistigen Duell unter der Buche täglich nach Tisch wie einem richtigen Vergnügen beizuwohnen.
Hin und wieder brachen alle in ein Lachen aus, wenn der berühmte Senator eine scharfe Antwort erteilte, während Vernoni mit weit aufgerissenen Augen in die Höhe fuhr oder, ganz außer sich, mit den plumpen Händen über die Brust strich, als wolle er eine Lawine über ihn hereinbrechender Verwahrungen aufhalten.
Die alte Signora Gilli und Miß Green wurden jedoch manchmal von dem leidenschaftlichen Schwung, mit dem Professor Vernoni für seine edlen und hochherzigen Theorien eintrat, mitgerissen und pflichteten ihm unwillkürlich durch ein Kopfnicken bei. Der Senator erwiderte dann mit einem scharfen Ton in der Stimme; Vernoni aber zuckte die Achseln oder brummte bitter und unwillig:
»Nun, beispielsweise das Gras. Ja das Gras. Wir sind doch nicht lauter Schafe.«
Bei diesen Worten brach Nini Gilli in ein zügelloses Lachen aus, und die übrigen stimmten ein. Nur der Senator sah sich im Kreise um, als habe er nicht recht gehört, und fragte:
»Das Gras? Was soll hier das Gras? Ich verstehe nicht.«
»Doch, das Gras«, bekräftigte Vernoni, fast weinend vor Gereiztheit. »Was ist für die Schafe die allein existierende Wahrheit? Das Gras. Das Gras, das ihnen unterm Kinn wächst. Wir können aber, Gott sei Dank, auch nach oben sehen, verehrtester Herr Senator! Nach oben, zu den Sternen.«
Die alte Signora Gilli und Miß Green stimmten wieder, diesmal ersichtlich überzeugt, durch ein Kopfnicken zu.
Der Senator aber fuhr auf:
»Gewiß, auch nach oben, das sagt schon Sallust.«
»Das sagt schon Sallust, jawohl«, gab Vernoni schlagfertig zurück. »Verzeihung, aber auch wenn wir nach unten sehen … da ist der Maulwurf, Herr Senator. Betrachten wir den Maulwurf und folgen wir den logischen Gesetzen der Natur!«
»O nein!«
Als Senator Romualdo Reda die Natur nennen hörte, wurde er ernstlich erregt. Er wetterte los, während er mit beiden Händen auf den Armlehnen trommelte:
»Aber gehen Sie doch! Ich bitte Sie! gehen Sie mir mit Ihrer Logik, lieber Vernoni! Das ist ja zum Lachen. Lassen wir die Natur aus dem Spiel, um des Himmels willen!«
»Verzeihung, Verzeihung«, beeilte sich Vernoni zu erklären, indem er die Hände vorstreckte.»Kann man etwa in Zweifel ziehen, daß die Natur logischen Gesetzen folgt? Haben wir nicht einen schlagenden Beweis dafür in ihrer Sparsamkeit? Lassen Sie mich sprechen, verehrtester Herr Professor! Der Maulwurf … warum sind die Sehorgane des Maulwurfs so schwach entwickelt? Weil er unter der Erde lebt. Das ist klar. Und der Mensch? Verzeihung, warum kann der Mensch die Sterne sehen? Es muß doch einen Grund haben.«
Alle harrten einen Augenblick atemlos der Erwiderung des Herrn Senators. Der aber schloß halb die müden, geschwollenen Augen, wiegte den Kopf, öffnete die Lippen zu einem Lächeln mitleidiger Verachtung und enttäuschte sie sämtlich, indem er zitierte: »Gestit enim mens exilire ad magis generalia ut acquiescat; et post parvam moram fastidit experientiam. Sed haec mala demum aucta sunt a dialectica ob pompas disputationum.«
»Bacon?« fragte Professor Dionisio Vernoni, während er sich den reichlichen Schweiß von Stirn und Nacken wischte.
Und der Senator:
»Bacon.«
*
Eines Morgens aber wurden sämtliche Gäste des Berghotels in aller Frühe unvermutet durch gellende Schreie von Fräulein Nini Gilli und ihrer Mutter geweckt. Was war geschehen?
Anfangs erzählte man sich, die reizende Nini, die bei Morgengrauen allein in den Buschwald des Klösterleins gegangen war, habe eine häßliche Begegnung gehabt.
Häßlich? Wieso? Überfallen etwa? Aber noch nie hatte man gehört, daß sich im Buschwald des Klösterleins … nein, Räuber hielten sich dort nicht auf. Was für eine Begegnung also?
Die reizende Nini oder die kleine Gilli, wie man sie nannte, war in rasendem Lauf, zerzaust, heulend und von wahnsinniger Angst gepeitscht, aus dem Dickicht zurückgekommen. Jetzt lag sie in furchtbaren Krämpfen auf ihrem Zimmer.
Was für eine Begegnung hatte sie nun schließlich gehabt? Was hatte man ihr getan?
Der Buschwald des Klösterleins lag am Westhang des Berges. Er war sehr dicht und unübersichtlich. im eigentlichen Sinne war es gar kein Buschwald, denn die vielen Kastanien, die da standen, hatten, wenn auch zart geblieben, doch einen hohen Stamm und waren kerzengerade, so daß man schon von Gehölz reden konnte. Man hatte ihm die Bezeichnung »des Klösterleins« gegeben, weil an einer dünn bewachsenen Stelle in der Mitte ein kleines, altes Kloster stand, verlassen und verfallen und mit einem Kirchlein zur Seite, dessen geheimnisvolles Innere man durch die Ritzen des modrigen Portals eben, eben erkennen konnte.
Scamozzi, der bleich und ganz bestürzt war, forderte Borisi, forderte die Kellner auf, sich zu bewaffnen und mit ihm in den Buschwald zu gehen, um zu suchen. Aber was zu suchen? Man wußte ja noch gar nichts Genaues. Was sagte denn Senator Reda, der in das Zimmer des Fräuleins gelaufen war? Reda war auch Arzt, hatte diesen Beruf nur niemals ausgeübt.
Nur Professor Dionisio Vernoni erklärte sich bereit, Scamozzi zu folgen. Der traute ihm aber nicht und tat, als höre und sehe er ihn nicht.
Da kam Reda endlich, gelobt sei Gott, er lächelte.
»Nun?«
»Nichts, meine Herrschaften! Seien Sie ganz ruhig! Eine leichte, vorübergehende Psychose, ein hysterischer Anfall, weiter nichts. Es wird bald vorüber sein.«
Allein Professor Dionisio Vernoni trat finster und erregt vor:
»Psychose, sagen Sie? Dort im Buschwald des Klösterleins? Sie reden von Psychose; doch ich weiß, um was es sich handelt. Ich weiß alles, alles. Fräulein Gilli hat ›gesehen‹, Fräulein Gilli hat auch ›gehört‹!«
Scamozzi, Borisi, Doktor Sandrocca, seine Frau und Miß Green drehten sich um und sahen ihn mit offenem Munde an:
»Gesehen? Was?«
»Aber hören Sie doch nicht auf ihn, ich bitte Sie!« rief der Senator.
»Einbildung, nicht wahr?« schrie jetzt Vernoni in hämischem und herausforderndem Ton. »Psychose … hysterischer Anfall … und wie erklären Sie dann, daß auch ich, jawohl auch ich neulich gegen Abend, als ich allein war, im Buschwald, bei dem kleinen Kloster Musik, jawohl, paradiesische Musik, die aus dem Kirchlein kam … Orgel und Harfen … göttliche Musik … gehört habe? Ich habe es niemandem erzählt, aber jetzt sage ich es, weil ich überzeugt bin, daß Fräulein Gilli das gleiche gehört hat. Nur weil ich mich geschämt habe, bin ich still geblieben, das schwöre ich, und weil ich Angst gehabt habe, solche Angst, daß ich spornstreichs davongelaufen bin.«
»Aber so hören Sie doch auf, ich bitte Sie, mein lieber Herr!« unterbrach ihn in diesem Augenblick der Wirt, der die Wirkung dieser Worte auf die übrigen Gäste bemerkte. »Sie ruinieren mich ja. Entschuldigen Sie, aber das sind Narrheiten. Noch nie ist hier so etwas behauptet worden, noch nie hat jemand dergleichen gehört. Ein Segen, daß Seine Exzellenz hier ist, ich meine den Herrn Senator … eine Leuchte der Wissenschaft … und noch ein anderer hervorragender Doktor, der zum Glück lacht. Ja, sehen Sie nur, er lacht, und er hat recht damit. Es ist ja auch wirklich zum Lachen, lieber Herr Doktor! Eine gewöhnliche Nervenkrise …«
»Ein hysterischer Anfall«, verbesserte der Senator. »Ein hysterischer Anfall … so ist es … wenn Er das sagt«, schloß der Wirt. »Schöne Musik, schöne Orgeln, schöne Harfen! Gehen wir alle zusammen in das Dickicht. Ich lasse Ihnen da unten das Frühstück auftragen. Ein wunderschöner Platz und völlig sicher. Wir werden die Kirche öffnen, und Sie sollen sehen …«
»Aber eine Orgel ist doch wirklich da?« fragte Signora Sandrocca.
»Nein, sie ist … das heißt … sie ist und ist nicht da«, erwiderte der Wirt verlegen. »Man stelle sich vor, was in all den Jahrhunderten aus ihr geworden ist … vielleicht ist eine Maus … aber gehen Sie, es ist ja zum Lachen. Es ist doch wirklich zum Lachen, meine Herrschaften, nicht wahr?«
Und er lachte, er, ja, er lachte, und seinem Beispiel folgte Doktor Sandrocca, der immer lachte. Aber die anderen lachten nicht und zeigten auch keine Neigung zu dem Vorschlag, im Buschwald des Klösterleins zu frühstücken. Was den Senator betraf, so zuckte er verächtlich die Achseln und ging davon, um sich auf seinem Binsenstuhl unter der Buche auszustrecken.
In diesem Augenblick erschien in höchster Eile und mit ungewohnter Tatkraft, obschon sie, vielleicht infolge allzu großer Erregung, etwas wie ein steifes Bein hatte, die alte Signora Gilli, um den Wirt zu suchen.
Gar nicht, aber auch ganz und gar nicht gefiel ihr die Erklärung des Herrn Senators, die ganz den Anschein hatte, als sei sie abgegeben, um den Wirt vor Schaden zu bewahren. Das war ein schöner hysterischer Anfall, wo ihre Tochter nie, ganz gewiß nie an Mutterangst gelitten hatte. So etwas läßt sich leicht behaupten. Die Beschuldigung bleibt, und die bösen Bemerkungen kommen nach. Nein, nein. Wahrheit mußte sein. Signora Gilli wollte die Sache richtiggestellt haben. Alle sollten wissen, was vorgefallen war, und dann wollte sie die Rechnung begleichen und sofort abreisen; sofort, denn ihre Tochter zitterte noch wie Espenlaub infolge des Schreckens und erklärte, sie würde sterben, wenn sie da oben auch nur noch eine einzige Nacht bleiben müßte.
Darauf erzählte Signora Gilli, die arme Nini habe in der Kirche des Klösterleins eine richtige Orgel vernommen.
»Hören Sie, hören Sie?« rief triumphierend Dionisio Vernoni.
Die alte Dame hielt verdutzt inne, sah ihn an und fragte:
»Aber wieso … woher haben Sie das denn erfahren?«
Und Vernoni: »Ich habe es nicht erfahren, sondern vermutet, gnädige Frau, ja, ich war sogar überzeugt, mehr als überzeugt davon; denn ich habe sie ebenfalls gehört.«
Erschrocken und doch auch erfreut, klatschte Signora Gilli in die Hände und rief:
»Da sehen Sie es nun! Denn ich sollte meinen, der Herr könne doch wohl nicht gut an Mutterangst leiden …«
Dionisio Vernoni ließ den übrigen keine Zeit, über diese Erwägung zu lächeln, und drängte:
»Orgeln und Harfen?«
»Harfen? Von Harfen wüßte ich nichts«, erwiderte die alte Dame, über die Art bestürzt, in der Vernoni sie ansah. »Nini spricht von Orgeln und erzählt, sie sei anfangs nur überrascht gewesen, daß jemand sich zu so früher Stunde in die verlassene, kleine Kirche begeben habe, um dort zu spielen. Sie hat an nichts Außergewöhnliches gedacht und ist nähergetreten, um nachzusehen. Dann aber … ich weiß nicht, was sie eigentlich gesehen hat … sie läßt sich darüber nicht richtig aus … sie spricht von Mönchen … von Prozession … von brennenden Kerzen …«
Die alte Signora Gilli hielt im Sprechen inne, weil ein Mädchen meldete, sie möge schleunigst zu ihrer Tochter kommen, die wieder in Krämpfen liege. Das war der Augenblick für Professor Dionisio Vernoni, und alle wandten sich auch unwillkürlich an ihn. Der Professor begann sofort mit dem üblichen Eifer. Er sprach von Okkultismus und Medien, von Telepathie und Vorahnungen, von Klopfen und Materialisationen und bevölkerte die Erde vor den Blicken seiner verblüfften Zuhörer mit Wundern und Phantomen. Der törichte menschliche Dünkel nimmt an, die Erde sei nur von Menschen und den wenigen Tieren bewohnt, die wir kennen und derer wir uns bedienen, gewaltiger Irrtum! Es leben auf Erden auch noch andere Wesen, und zwar ein natürliches, ein höchst natürliches Dasein, nicht anders als wir, nur, daß wir sie infolge unserer Mangelhaftigkeit im normalen Zustande nicht wahrnehmen können. Zuweilen, unter gewissen ungewöhnlichen Bedingungen, geben sie sich jedoch zu erkennen und erfüllen uns mit Schrecken: übermenschliche Wesen insofern, als sie jenseits unseres armseligen Menschentums stehen, allein ebenfalls natürlich, sehr natürlich sogar, Gesetzen unterworfen, die nur wir nicht kennen oder, besser gesagt, die unser Bewußtsein nicht kennt, denen wir unbewußt aber vielleicht auch gehorchen; nicht menschliche Bewohner der Erde, elementare Wesen, Naturgeister jeder Art, mitten unter uns wohnend oder in den Felsen, im Wald, in der Luft, im Wasser, im Feuer, unsichtbar und doch manchmal imstande, sich zu materialisieren.
Verärgert, daß Senator Reda sich in keine Diskussion mit ihm einließ, gab Vernoni sich, um ihn zu reizen, absichtlich dem höchsten Flug der Phantasie, den kühnsten Vermutungen, den verlockendsten Deutungen hin und endigte schließlich in einem Angriff, der sich im Grunde gegen die positive Wissenschaft, gegen gewisse sogenannte Gelehrte richtete, die nicht eine Spanne weit über ihre eigne Nase hinaussehen können -- diesen Satz wiederholte er vier oder fünf Male --, die kalt, kurzsichtig und eingebildet sind und die Natur zwingen wollen, sich den Erfahrungen und Berechnungen ihrer Schreibzimmer und der Beschränktheit ihrer kümmerlichen Instrumente und ihres armseligen kleinen Verstandes zu unterwerfen.
Senator Romualdo Reda rührte sich nicht. Scamozzi, Borisi, Miß Green und Signora Sandrocca, entsetzt über die Gewaltsamkeit und die Kampflust Vernonis, warfen hin und wieder einen beobachtenden Blick auf ihn. Senator Romualdo Reda lag still und unbeweglich auf seinem Stuhl unter der Buche ausgestreckt und hielt die Augen geschlossen, als schliefe er. Plötzlich aber schien es ihm gut, sich zu erheben, und, ohne ein Wort zu sagen, ohne irgend jemanden anzusehen, steckte er zwei Finger zwischen die Knöpfe seiner Weste und ging ernst und gemessen, trotz seiner Kleinheit, den Pfad hinunter, der zum Buschwald des Klösterleins führt.
»Gesegnet sei er!« rief der Wirt und sandte ihm mit den Fingerspitzen einen Kuß nach.
Dann, zu Vernoni gewandt:
»Sie, mein lieber Herr, mögen sagen, was Sie wollen. Es ist Ihr gutes Recht. Aber sehen Sie! Die beste Antwort ist die da.«
Und er zeigte mit der Hand auf den kleinen Senator, der im Absteigen allmählich unter den hohen Kastanien verschwand.
*
Als Professor Dionisio Vernoni und Torello Scamozzi, die den Damen Gilli kavaliermäßig zum Bahnhof von Valdana das Geleit gegeben und sich dann den ganzen Tag über in Valdana aufgehalten hatten, zu später Stunde, müde und hungrig, im kleinen Berghotel wieder eintrafen, fanden sie die übrigen Gäste in einen Zustand schweigender Betroffenheit versunken.
Senator Romualdo Reda war aus dem Buschwald des Klösterleins noch nicht zurückgekehrt.
Wie sollte man sich nach dem beängstigenden Abenteuer von Nini Gilli und all den am Morgen gehaltenen Reden die große Verspätung des Senators erklären?
Leone Borisi beeilte sich, die beiden Freunde zu unterrichten. Er erzählte, zuerst seien zwei Kellner ausgeschickt worden, um den berühmten Mann zu suchen, aber sie seien wiedergekommen, ohne ihn gefunden zu haben; dann habe der Wirt, nicht ganz davon überzeugt, daß die Kellner wirklich bis zum kleinen Kloster vorgedrungen seien, es sich nicht nehmen lassen wollen, selbst in Begleitung eines anderen Kellners zu gehen, allein auch er habe ihn nicht gefunden. Darauf hatte man vermutet, infolge der Heftigkeit Vernonis verstimmt, habe der Senator den ganzen Buschwald durchquert und sich zu Fuß zum nahen Ort Sopri begeben. Der Küchenaufwärter des Gasthauses jedoch, nach Sopri geschickt, um nachzuforschen, war eben jetzt ohne eine Spur noch irgendein Ergebnis zurückgekommen, obschon er seiner Behauptung nach den ganzen Ort Haus für Haus abgesucht hatte.
»Lassen Sie sich«, schloß Borisi, »um des Himmels willen nicht blicken, besonders Sie nicht, Professor Vernoni! Der Wirt hat den Teufel im Leibe, er ist imstande, Ihnen an die Gurgel zu springen.«
»Ich möchte ihn sprechen«, erwiderte Professor Vernoni nachdenklich. »Hören Sie, lieber Herr! Es würde mir leid tun, wenn Senator Reda etwas Ernstliches zugestoßen wäre. Er ist herzleidend. Allein eine kleine Lektion … eine kleine Orgelsonate, die könnte Gelehrten eines gewissen Schlages nichts schaden.«
Gleich darauf kam der Wirt aus dem Keller und brachte einige Windlichter, die einer letzten Expedition in den Buschwald dienen sollten. Er tat so, als bemerke er die Rückkehr Vernonis und Scamozzis nicht.
»Meine Herren,« sagte er und hatte fast Tränen in den Augen, »wenn Sie die Güte haben wollten, mir zu helfen. Ich fordere Sie alle auf. Sie werden meine Gemütsverfassung, bei der Verantwortung, die auf mir lastet, begreifen.«
Obschon sehr müde, ließen Vernoni und Scamozzi sich nicht zweimal bitten. Die drei Kellner und der Küchenwärter zündeten die Windlichter an, und so gingen sie zu acht auf die Suche nach dem kleinen Senator, der sich unter den dichten Kastanien des abschüssigen Buschwaldes verloren hatte.
Wiewohl unter dem Druck des Schreckens und von angstvollem Eifer belebt, fühlten sich doch alle zu dem seltsamen phantastischen Bild hingezogen, das der nächtliche Buschwald im rötlichen Schein der rauchenden Fackeln gewährte. Bei jedem Schritt schwebten gewaltige Schatten auf. Die schlanken, geraden, himmelwärts strebenden Stämme färbten sich blutrot und schienen bald in Reih und Glied im Hintergrund des Dickichts zu stehen, bald alle miteinander im Kreise zu wirbeln. Dazu kam das Knistern des trockenen Laubes und das ferne Rufen der Nachtkäuze und anderer Vögel, die man aufgestöbert hatte, und wirkte eigenartig auf die geschärften Sinne der unversehens zu nächtlichen Kundschaftern gewordenen Personen.
Mehrmals schlug der Wirt vor, sich wenigstens paarweise im Dickicht zu verteilen, da es unnütz sei, den Senator auf dem Pfad zum kleinen Kloster zu suchen. Aber keiner wollte sich vom andern losmachen, weil es ihm unwillkürlich graute und er sich dem Ansturm der ungewohnten mächtigen Eindrücke nicht allein aussetzen wollte.
Als man das kleine Kloster erreicht hatte, hefteten sich sämtliche Blicke auf das modrige Portal des Kirchleins. Ein Schauer rieselte allen über den Rücken, als der Wirt sich ihm näherte und mehrmals mit der Hand dagegen drückte.
Geschlossen!
Scamozzi und Vernoni schlugen vor, in den Ruinen des Klosters zu suchen. Aber der Wirt versicherte, er habe das schon mit größter Sorgsamkeit getan. Im Dickicht, im Dickicht müsse vielmehr gesucht werden, denn der Senator sei vielleicht durch die Bäume eingedrungen und habe dann den Ausweg nicht mehr gefunden. Sie seien acht und hatten vier Windlichter! Also je zwei und zwei, wenn er bitten dürfe, ein Paar hierhin und eins dorthin, langsam und aufmerksam!
So geschah es, und die Nachforschungen dauerten ungefähr eine Stunde. Hier und da erlosch eine Fackel, und es kostete viel Mühe, sie wieder anzuzünden. Dann begannen das Grauen des Ortes selbst und die Müdigkeit einerseits weniger düstere Vermutungen einzuflüstern, andererseits das Vertrauen in das Gelingen des Unterfangens zu schmälern. Man rief sich, versammelte sich wieder auf dem Pfad, von dem keines der Paare sich sonderlich weit entfernt hatte, und alle wurden sich leicht über die aussichtslose Schwierigkeit des nächtlichen Suchens einig, zumal die Fackeln schon fast zur Hälfte aufgebraucht waren.
Morgen, morgen früh bei Licht!
Und am anderen Tage wurden in der Tat bei Morgengrauen die Nachforschungen wiederaufgenommen. Die acht vom Abend vorher suchten diesmal jeder für sich, und das gesamte Dickicht wurde von allen Seiten durchstöbert, aber ohne jeden Erfolg. Endlich ein Schrei! Er kam von der dünn bewachsenen Stelle her, wo die Trümmer des kleinen Klosters waren. Alle liefen atemlos und keuchend hinzu. Da, gerade unter den ersten Kastanien, fünfzig Schritte vom Kloster, lag auf dem Rücken ganz klein der Leichnam des Senators Romualdo Reda, ohne eine Spur von Gewalt aufzuweisen, ja, als habe jemand die Füße zusammen- und die Hände dicht an den winzigen Körper gelegt und ihn so für die Ewigkeit gebettet.
Alle betrachteten ihn entsetzt.
Ein ganz dünner Spinnenfaden, der von den hohen Kastanienkronen herunterhing, hatte sich an die Nasenspitze des kleinen Senators geheftet.
Das Ende dieses Fadens konnte man nicht sehen. Und von der Nase des kleinen Senators, als käme sie von den Haaren an den Nasenlöchern her, reiste, kaum noch sichtbar, eine kleine Spinne unwissend den Faden hinauf, der sich im Himmel zu verlieren schien.