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XVI.
Eros Basileus

Unter der schweren und warmen Luft schlief der alte Park einen tiefen Schlummer, mit matten Regungen; der Himmel eines bis in Schwarz verdunkelten Ultramarins strahlte Betäubung, und einladende Ausdünstungen entsprangen dem Boden. Bald seinen Silberstaub streuend, bald hinter dichten Wolken verschwindend, schien der Mond ein Gestirn der Schlaflosigkeit zu sein, das einen Augenblick einschläft und bald wieder erwacht, selbst bezaubert vom Magnetismus einer Sommernacht.

Mitternacht schlug, und in einer kleinen Pforte der Mauer erschien eine männliche Gestalt Shakespeares, in grauem Trikot, mit Kniehosen, die von weissem Atlas geschlitzt waren; seine feine Figur umschloss ein langer Rock aus schwarzem Sammet; der Hals war nackt, den Kopf bedeckte ein Barett mit langer Feder, die Seite trug einen Degen. Ein Moderner im kurzen Herrenrock hätte diese prächtige Dekoration eines Liebesstelldicheins mit misstönender Hässlichkeit befleckt.

Nachdem sie sich umgeschaut hatte, ging die Gestalt entschlossen vorwärts; dann hemmte sie plötzlich den Schritt und zog die Arme an sich auf der Brust; man hätte sagen können: Hamlets Geist in einem Walde von Helsingör umherirrend.

Auf einmal wich er vor seinem Gedanken, wie vor einem Gegenstand des Schreckens zurück und blieb eine lange Weile unbeweglich in seinem Zaudern; dann zog er den Degen und durchschnitt die Luft um sich in Form eines Kreuzes; steckte den Degen wieder ein und beschleunigte seinen Schritt mit dem Wesen eines Mannes, der einen Entschluss von erschreckenden Folgen gefasst hat.

Auf einem Balkon des Schlosses zeichnete sich eine weisse Gestalt in einer erleuchteten Fensteröffnung ab.

– Bist du es, Romeo, modulierte eine verliebte Stimme.

– Nein, schöne Paula, es ist nicht Romeo, der süsse Täuberich, es ist der bittere Hamlet, die unruhige Seele, der verwirrte Geist, der den Fuss deines Balkons gewählt hat, um dort seinen Groll, seine Müdigkeit von unfruchtbaren Kämpfen zu begraben und zu deiner Ehre, abscheuliches Sühnopfer, sein altes Herz zu verbrennen, das einstmals stolz schlug und besser als eine Sonnenuhr das Ideal aller menschlichen Stunden anzeigte.

– Ich habe dir mehr Süsse zu bieten, als du mir Bitteres entgegenhalten kannst, mein süsser Hamlet; komm und verwirre mein blondes und duftendes Haar; die Brise der Liebe macht aus jedem meiner Haare eine Aeolsharfe! Diese Musik wird deine Geister beruhigen, wie Davids Harfe die Dämonen des Königs Saul beruhigte. Am Fusse meines Balkons wirf ab diesen Ballast von Hass gegen das ungerechte Schicksal, deinen Groll gegen das trügerische Gestern, dein Misstrauen gegen das rätselhafte Morgen. Verbrenne, was dein Herz alt gemacht hat; ich werde dir von meinem jungen geben, das du bluten machst, wenn du's zurückweist. Obgleich wir nicht durch dieselbe Brust atmen können, fragen wir die Stunde meiner Jugend, die das Leben noch nicht welk gemacht hat; sie zeigt, eine Sonnenuhr, die ideale Stunde des Kusses an.

– Sie sind recht barmherzig für eine Jungfrau; der Liebesbettler ist zuweilen ein Dieb; Sie geben ihm den Kuss, aber er kann Ihnen nehmen, was der Leichenbeschauer ihn nicht zurückgeben lassen wird; Sie würden auf allen Plätzen von Helsingör ausrufen lassen, was Sie verloren haben; niemand wird es finden, und doch hat der Dieb es nicht behalten. Ach, gütige Jungfrau, werden Sie niemals Pförtnerin des Klosters, Sie würden dem Teufel zu leicht öffnen! Nein, gnädige Frau, das Kloster wäre nichts für Sie! Was brauchen Sie? Einen Hauch, die leichte Berührung einer Seele, zwei Worte, dies (er warf eine Kusshand) oder, Frau Base, Sie brauchen einen Vetter, der nicht ausser Atem kommt, der Sie umarmt, verwöhnt, beneidet. He, auf was warten Sie auf dem Balkon? Dass ein Engel niedersteige oder ein Tier hinauf?

– Sie sind schneidend, mein Herr, Sie sind schneidend; das ist ein schlechter Scherz, die Hand zu quetschen, die Sie liebkost. Ihr Hund beleckt Sie und Sie stossen ihn fort, indem Sie ihm sagen: geh ab, ich könnte dich niederschlagen lassen! Eine duftende und reine Blume neigt ihren Kelch gegen Sie und sagt: atme mich ein; Sie drohen der zarten Blume, sie zu brechen! Das Kloster? Ja, damit Sie mir die Beichte abnehmen können, mein Liebespriester! Meine Seele ist von Ihrem Bild erfüllt: ist das ein Makel? Für einen Engel würde ich ein Sturz sein, ein Tier würde mich entweihen; Sie aber, lieber Hamlet, Sie sind der Gast, für den ich das Haus festlich geschmückt habe; mein Hauch wird Ihre Stirne glätten und meine Lippen werden Ihre Lippen aufheitern.

– Würden Sie aus dem Becher des Säufers trinken? Und Sie wollen Ihre Lippen in meine Lippen tauchen! Das ist die Tugend! Allmächtiger Gott, hier ist ein Kind, ebenso rein wie am Tage der Geburt, ebenso wenig entweiht wie der Tagesanbruch, das seinen jungfräulichen Mund neigt, um aus meinem Becher zu trinken, den gemeine Orgien beschmutzt haben. Denke, bevor du diese purpurfarbenen Ränder deiner Seele mir näherst, dass ich von feilen Lippen Küsse geplündert habe, von Lippen, die sich für den Kuss eine Kupfermünze zahlen lassen. Du, junges Mädchen, die der Durst ans Ufer eines verpesteten Pfuhls treibt, küsse die elfenbeinernen Füsse deines Kruzifixes und opfere dein Verlangen dem, der sich für uns alle geopfert hat, wenn wir auch so infam sind, es zu vergessen.

– Mein hoher Herr, warum pressen Sie mir das Herz? Ich knie nieder und grüsse Sie und Ihre Worte treten meine Scham mit Füssen! Welch eifersüchtige Sorge tragen Sie für mich, die ich zu tragen vergesse? Da Ihre Lippen ihre Fehler verdammen, so wird die Berührung meiner Lippen sie reinigen. Wenn das Unreine Sie befleckt hat, meine ganze Reinheit genüge, um Sie zu reinigen; ich wäre glücklich, das Wasser dieser Liebeswaschung, das Sühnopfer dieser Erneuerung zu sein. Komm, mein süsser Hamlet, ich verlange nach dir, spürst du nicht meinen Hauch, der dich anzieht? Auf diese Leiter schwinge dich, und ich sei heute abend dein Paradies.

Und eine Strickleiter aus Seide rollte sich bis zu den Füssen der shakespeareschen Gestalt: der Balkon befand sich auf der Höhe des ersten erhöhten Stockwerkes.

– Du hast es gewollt, o Närrin! Klage weder deinen Schutzengel der Nachlässigkeit, noch deine Tugendwächterin der Vergesslichkeit, noch Hamlet deines Schicksals an: du ladest mich zu deiner Schönheit ein, du öffnest mir deine Seele … Verhülle dein Kruzifix, verstecke dein Gebetbuch, wende das Bild deiner Mutter gegen die Wand: ich bin nicht die Liebe, Paula, die Liebe ist ein Traum; ich bin die Wollust! Da das Fleisch ruft, hier bin ich, das tierische Echo deiner Tierstimme. Zerreisse dein Kleid, ich werde deinen Schoss bluten lassen und das Siegel brechen, das Gott auf deine Schönheit gedrückt hat, um sie gegen den Geifer der Sünde zu verteidigen. Deine Jungfräulichkeit quält dich, ich steige hinauf, um dich von ihr zu befreien.

Die Ironie war so bitter, die Betonung biss so heftig, dass der Schatten auf dem Balkon sich zurückwarf, wie beschmutzt von der Stimme, die beleidigend zu ihm hinaufstieg.

Die schwache Leiter erklimmend, erreichte er bald den Balkon, übersprang ihn und ging gerade auf das Bett zu.

– Dort ist der Opferaltar, mein schönes Opfer!

Eher einem Rasenden als einem Liebhaber gleichend, zeigte er mit ausgestrecktem Arme auf das Lager.

– Gnade, Nebo, rief Paula, Sie foltern mich!

Und sie fiel auf ein Sofa nieder.

Ihr Haar war aufgelöst und wallte um ihre Schultern; sie trug ein langes Kleid aus Musselin, durch das ihre Brüste schienen; die Arme wurden durch den Schlitz der Aermel fast entblösst; seufzend und verstört lag sie hinter Nebo, der mit gekreuzten Armen immer das Bett anblickte, in eine schmerzliche Betrachtung versunken.

Was würde sich aus dieser Komödie ergeben? Weder der eine noch der andere sah es voraus. Paula gestand sich nicht, was sie im Grunde wollte: sie wollte nur Nebo von Liebe sprechen hören. Nebo suchte, wie er seinen Traum aus dieser seltsamen Gefahr retten könne.

Bei beiden hatten die Shakespeare nachbildenden Kostüme und Worte für den Augenblick die Persönlichkeit gefälscht; sie hätten nicht geschworen, dass sie nicht in einem Jagdhause im Lande der Ardennen lebende Personen des angelsächsischen Dichters wären. Tollkühn, beim gefährlichen Spiel der Einbildung, beherrschte sie die überspannte Phantasie. Nebo sah in seiner Rolle die Möglichkeit einer lebhafteren Verteidigung, und Paula rettete durch ihre Rolle die Scham etwas besser. Eine peinigende Aengstlichkeit schüttelte beide; in diesem seltsamen Zweikampfe stritt jedes für seine Idee. Wenn Nebo schwach wurde, scheiterte sein grosses Werk für immer; wenn Paula Nebo nicht schwach machen konnte, verzichtete sie für immer auch auf diese Liebe, die ihr das Blut entflammte, die sie in sich jede Minute rollen und wachsen fühlte.

Sie erhob sich und legte ihren nackten Arm auf den nackten Hals des Platonikers, der zuckte; dieses einzige Beben gab ihr Hoffnung.

– Mein artiger Hamlet, die Luft dieser Nacht wird Ihre brennende Stirn kühlen; steigen Sie in den Garten hinunter, ich werde Sie dort erreichen! Da Ihre Bitterkeit sich auf meine Bitte nicht zerstreut, werden unsere beiden Traurigkeiten sich die Hand geben unter dem silbernen Lichte, das weniger bleich ist als wir.

– Meine Melancholie, das ist der Zorn meiner Seele, schöne und ungenügende Trösterin eines Schmerzes, der nicht heilen kann, ohne dass die Welt wechselt und sich rückwärts dreht.

Und Nebo, der nur die Hand gegen das Bett auszustrecken brauchte, um den Kuss auf den Lippen des jungen Mädchens erstarren zu lassen, überstieg den Balkon. Er gewahrte zu spät, dass er jede Frucht seiner Eingebung verlor, indem er in den Park hinunterstieg.

Er fürchtete eine Aufwallung Paulas, die unmöglich ohne Grobheit abzuweisen war; sie kam sanft, ergriff seine Hand, und die Hand Nebos zitterte in der durch die Hoffnung gestärkten Hand seiner schönen Gegnerin.

– Ist es nicht süss, lieber Hamlet, sein Herz in dieser geheimnisvollen Stille zu hören? Ist es nicht süss, neben sich ein Echo seines Schmerzes zu spüren? Willst du nicht, mein Geliebter, dass ich auf die Phantasien deiner Traurigkeit, auf die Worte selbst der leidenden Ungerechtigkeit mit einem ewigen Amen antworte?

Sie umschlang seinen Hals mit ihrem Arm und legte die andere Hand Nebo aufs Herz, als fordere sie ihn zart auf, seine Gefühle nicht länger zu belügen.

– Komm auf diese Bank, die der Mond beleuchtet: unsere Seelen sind müde, gefesselt wie sie sind an diese groben und schwachen Körper.

– Bei der dreifachen Hekate: Sie würden für den Blinden von Kythera nicht mehr Sorge tragen! Halten Sie das Klopfen meiner Schlagader für die Saite meiner Seele, dass Sie die mit Ihrer ganzen Schönheit wie mit einem Bogen streichen, um ihr ein C zu entlocken, ich weiss nicht welches? Ist es das tiefe oder das hohe, Zauberin der Begierde, deren Finger in scheinbarer Zerstreutheit meinen Hals wie ein Klavier behandeln? Für die Note, die Sie wünschen, Fräulein, ist es der Orgelpunkt, und ein langes Aushalten! Sie sagen »ja«. Oh, für eine Jungfrau ist das bedenklich, wohlan, drücken Sie das Pedal! Ohne das würden Sie nur grelle Töne erhalten, wie Schreie des Fischadlers, falsch wie Sie selbst, lieber Engel, denn Sie öffnen Ihre Flügel ganz weit, um sich besser im Schmutz zu entfalten!

Sie hatten sich auf die Bank gesetzt; Paula lehnte ihren Kopf auf die Schulter des Platonikers.

– Meine Liebe wird nicht eher ermüden als deine Gleichgültigkeit; ich umschlinge dich wie Efeu.

Die geistige Spannung, die warme Luft schlossen einen Augenblick Nebos Augen. Schnell wie eine Frau, die ihre Liebe zu retten hat, legte Paula ihren Mund an den Mund Hamlets: eine heftige Erschütterung durchfuhr beide; ihre Elektrizitäten prallten zusammen.

Lange blieben sie so, an allen Gliedern zitternd.

Als die Prinzessin, erstickend und ohnmächtig, ihre Umschlingung lockerte, da ihre Arme durch die Heftigkeit des Gefühls schlaff wurden, verdoppelte Nebo seine Umschlingung; seine beiden Daumen auf die Stirn des jungen Mädchens legend, schläferte er sie ein; dann legte er sie bequem auf die Bank, auf die sie zusammengesunken war: »Ich befehle dir, in fünf Minuten aufzuwachen.« Und er entfloh wie ein Wahnsinniger.

Als er sich entfernt genug wähnte, um den Nachspürungen der erwachten Prinzessin zu trotzen, nahm er seinen Kopf in die Hände. Was ging in diesem wunderbaren Gehirn vor, das von einem Frauenkuss gespalten war? Er bewegte sich nicht, wie versteinert stand er in diesem Schattenwinkel.

Eine lange Weile verfloss … plötzlich erhob er den Kopf bei den Klängen eines Klaviers. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, um die Schleier, die sich auf seinen Geist gesenkt hatten, zu entfernen. Man spielte einen Triumph-Marsch: Paula war es, die ihren Sieg besang und ihre Freude, ihn besiegt zu haben, ausdrückte.

Nebo erhob sich, ebenso bereit zu fliehen wie wieder zu kämpfen, als sich ein Schatten vor ihm ausstreckte; eine Wolke, welche die Mondeshelle verdunkelte, hatte sich eben verschoben; als er sich umwandte, sah er, als täuschten ihn seine Sinne, die Statue des Eros, die mit ihrem ganzen Leibe lächelnd emporragte: der wirkliche Gott dieser ohnmächtigen Natur, die ihn umgab.

Zornig sprang er vor, um sich am Ebenbilde seines Feindes zu rächen, zog seinen Degen und enthauptete mit einem furchtbaren Schlage die Statue.

Als der Kopf auf den Boden rollte, traf der Mond, der ganz hinter den Wolken hervorkam, die goldenen Buchstaben des Sockels:

 

EROS BASILEUS

 

Der Degen entfiel seiner Hand. Erstarrt vom Schrecken vor der geheimnisvollen Kraft, die ihn zu Boden streckte, ihn, den Meister der Kräfte, den Meister des Geheimnisses; fühlend, wie die goldenen Maschen seines heroischen Panzerhemdes brachen, rief er in die Nacht hinaus, mit erschrockener Stimme, mit wahnsinniger Gebärde:

 

EROS BASILEUS!

 


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