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Zum dritten Male überschritt Nebo an einem Sonntagmorgen die Schwelle des Hotels Vologda; nicht mehr aus Zufall geladen, noch durch einen befreundeten Bildhauer eingeführt, noch wiedergekommen, um eine Zeichnung Peladans Roman »Weibliche Neugier«. zu überarbeiten; er war vielmehr von der Herzoginwitwe gebeten worden, die ihm geschrieben:
– In Erinnerung an Ihre Art, zu verschwinden, nachdem Sie Bewunderung erregt haben, drohe ich Ihnen mit meinem Besuch, um Ihnen zu danken, wenn Ihr Besuch auf sich warten lässt.
Als er eintrat, reichte ihm die geistreiche Gebrechliche ihre beiden Hände und sagte zu Paula:
– Liebe, an deiner Stelle würde ich ihn umarmen.
Die errötende Prinzessin tat so, als habe sie die seltsame Aufforderung nicht gehört.
– Setzen Sie sich dorthin, nahe bei mir, näher, sagte die alte Frau, damit ich diesen schwarzen Anzug sehe, der im gegebenen Augenblick den Stift des Leonardo oder den Dolch eines Femerichters aus der Tasche zieht! Man hat mir versichert, dass Chesters Wunde ein Mal zurückgelassen hat …
– Unauslöschbar, Herzogin. Die Dolche des Rosenkreuzes lassen das Zeichen eines Urteils auf den Stirnen.
– Was ist Ihr Rosenkreuz?
– Ein Geheimnis, da es eine Kraft ist.
– Und Sie sind das Haupt?
– Ich bin nicht das Haupt.
– Es gibt also einen andern, der noch überraschender ist als Sie?
– Es gibt einen andern, der unendlich überraschender ist als ich.
– Ich möchte ihn gern kennenlernen. Und welche Beziehung besteht zwischen Ihnen und der Freimaurerei?
– Dieselbe wie zwischen einem römischen Kardinal und dem Konvent. Lassen Sie mich Sie bitten, mit allen Ihren Kräften der Idee zu widersprechen, bei denen, die sie vorbringen sollten, ich sei mit Nergal, Quéant und dem Prinzen des Baux verbunden. Dass diese Herren dazwischengekommen sind, ist leicht anders zu erklären.
– Es ist das wenigste, Ihnen mit so wenig gefällig zu sein; um so mehr als die Dankbarkeit nicht weiss, was sie ersinnen soll …
– Was sollte sie ersinnen? Vor einer hässlichen Berührung habe ich eine Schönheit gerettet, die ich von tödlicher Bestürzung gerettet hatte; mein leichter Dolchstich ist ein letzter Strich mit dem Bleistift, um vom Modell einen Käfer zu entfernen, der es gestreift hätte.
– Einen Monat des kurzen Lebens, das mir noch bleibt, hätte ich für dieses Schauspiel gegeben; und diese kleine Larve schickt den Prälaten zum Studium der Moraltheologie zurück! An diesem Abend ist sie eine Riazan gewesen.
– Und Herr Nebo ist Nebo in Person gewesen, sagte Paula.
– Ich verstehe nicht, fragte die Witwe.
– Nebo ist der chaldäische Name für Merkur, sagte Paula.
– Du bist so gelehrt! Beim nächsten Bazar wirst du, glaube ich, einen Popen der Inschriften schlagen. Geh, Prinzessin, setze deine Teufeleien fort, und du wirst das Bewusstsein haben, dass du deiner Tante die Runzeln geglättet hast; ja, Herr Nebo, ein solch grosses Ereignis … das ist es in der Alltäglichkeit der Welt … verjüngt mich und belebt eine Vologda wieder, die Sie nicht ahnen können und die ich vor meiner Nichte nicht beschwören werde: dies allein wird sie Ihnen zeigen.
– Beschwöre, Tante, beschwöre, deine Nichte wird ihren Hut aufsetzen und du kannst deine Morgenhaube abwerfen.
Damit ging sie.
– Sie hören diese Sprache, welche die Zuhörer von Dumas und Sardou zurückstossen würde: sie gefällt mir, sie klingt wenigstens nicht falsch. Ich hasse nur zweierlei, die Demokratie und die Heuchelei, und mir ist eine echte Range lieber als eine falsche Tugend. Ich kenne nur, Herr Nebo, dieses Wissen, das sich mit den Jahren in uns anhäuft! Und in diesem sehr lichten Augenblick, da die alte Frau noch kein altes Tier ist, sehe ich, was schön, einzig schön ist: das ist die Entfaltung der edlen Persönlichkeit, in der Sonne der Geschichte, wenn die Geburt günstig, und für die eigenen Augen, wenn das Schicksal dunkel ist. Eine Nichte, albern und falsch wie Ihre jungen französischen Mädchen, hätte ich schon verheiratet; die wäre nur gut dazu gewesen, ihren Gatten kunstgerecht zu betrügen. Paula dagegen werde ich von der Ehe abraten; ich sehe niemanden, der ihrer würdig wäre, da Sie nicht der Prinz Nebo sind.
Die adelige Witwe erklärte durch dieses Kompliment, dass die Stände voneinander getrennt sind und an eine Heirat nicht zu denken sei.
Der Platoniker hatte durch ein Neigen des Kopfes für das Lob gedankt, ohne den Handschuh aufzuheben, den sie seinem bürgerlichen Stande hingeworfen hatte; und die schelmische grosse Dame dachte nicht daran, als sie die glänzenden Handlungen Nebos mit seiner gewöhnlichen Haltung verglich, in ihm einen Heuchler der Mittelmässigkeit zu erblicken und in seiner Hand jenes Rohr des Brutus zu sehen, das eine Stange reinen Goldes einschloss.
Paula kam zurück.
– Herr Nebo, ich werde den Nachmittag bei Olga verbringen; ich möchte Sie mit mir nehmen bis Durand Ruel Kunsthändler., um die Echtheit eines Corot zu prüfen; ich habe nämlich gewettet. Gleich darauf gebe ich Ihnen die Freiheit wieder.
– Prinzessin, meine Kunstkritik steht Ihnen zur Verfügung.
Die Witwe reichte ihm die Hand.
– Danken, das ist nicht genug; zurückgeben, unmöglich. Nachdem ich die Zahlungsunfähigkeit zugegeben habe, kann ich Ihnen nicht mehr sagen als das »Sie sind zu Hause« der Provinzialen, die es ihrem Gast bequem machen wollen.
– Diese kostbare Versicherung könnte ich leider missbrauchen, da ich oft abwesend sein werde, doch werde ich sie nicht vergessen.
Und der Platoniker stieg mit dem jungen Mädchen die Treppe hinab. Der Wagen wartete.
– Welchem Plane dient dieser Corot als Vorwand? fragte Nebo, sich ihr gegenüber setzend.
Die Prinzessin öffnete mit schelmischer Miene ihren Pelz.
– Sie sehen nicht, dass ich das einfache Kleid der Grisette angezogen habe; Sie haben nicht gesehen, dass ich Sie am zweiten Abend bestohlen habe?
Sie zeigte ihm die braune Perücke.
– Sie sind mein Mentor geworden, Prinzessin.
– Ich werde eine Grisette, ein Fräulein aus dem Warenhause, und ich will, dass der Ladenschwengel meiner Seele oder der Kommis meiner Gedanken mich aufs Land führt, um mich Gänseblumen zupfen und Matrosenfisch essen zu lassen.
– Sie haben Paul de Kock oder Murger diese Woche gelesen, Paula?
– Und Sie haben wohl gelangweilte Köpfe gezeichnet, denn Sie würden nicht sagen, ohne zu lügen, dass mein Plan Sie gerade so viel begeistert, um mich nicht ganz allein spazieren zu schicken.
– Die Klugheit …
– Oh, mein Freund, ich habe alle Einwendungen vorhergesehen; der Wagen lässt Sie auf der Place Royale und setzt mich am Boulevard Haussmann ab; ich entledige mich meines Pelzmantels, ich setze die Perücke auf und steige in die Droschke, die dort hält und in der Sie hinter herabgelassenen Vorhängen sitzen.
– Olga ist im Vertrauen?
– Sie wird glauben, dass ich meine Armen besuche. Fügen Sie sich, lieber Freund; steigen Sie hier aus und seien Sie in einem Augenblick vor Boulevard Haussmann 43.
Um über den schlechten Willen, den er hatte sehen lassen, hinwegzukommen, musste die Prinzessin diesen mutwilligen Streich heftig wünschen, und der Platoniker fragte sich, ob die Neugier nach einer Grisettenpartie nicht die Absicht eines verliebten jungen Mädchens verberge, das auf den Einfluss der Landschaft zählt, auf die Weichheit, die sich mit der Dämmerung senkt, und auf die Mitschuld eines Frühlingstages, um ein Herz zu zwingen, plötzlich in zärtlicher Liebeserklärung zu schmelzen. Dieses Misstrauen schwand, als er überlegte; er dachte, bei dem jungen Mädchen hatten diese Ideen, unbewusst und verworren, nicht den Charakter eines Planes: sie trug sie in sich, sie schliefen in ihr, ohne dass sie davon wusste. Er nahm sich vor, heute so sehr Lehrer zu sein wie möglich und diese unbewusst gelegte Falle zu vereiteln. Dass die Prinzessin errötete, als die Witwe sie aufforderte, ihn zu umarmen, war ein beunruhigendes Zeichen, das in ihm den Entschluss zu unpersönlicher Kälte befestigte, von dem er anfangs abgewichen. Jetzt, fühlte er, war zwischen ihnen eine Vorsicht gegen diese Ueberraschungen der Empfindsamkeit nötig, welche die Seele des jungen Mädchens stören und ihm für immer den unvergleichlichen Androgyn verderben würde, den sie verwirklichen sollte, unter der Befruchtung des nichtgeschlechtlichen Wortes.
– Guten Tag, Rudolf, ich bin Musette! sagte die Prinzessin, sich in die Droschke werfend, in der Nebo sie erwartete.
Ihr Kleid aus Merinowolle mit einfachem weissen Kragen, das den gesellschaftlichen Rang aufhob, erhöhte ihre Schönheit: geputzte Arbeiterin geworden, setzte sie die Bewunderung in Erstaunen.
– Seien Sie das Mädchen des Murger, wenn es Ihnen gefällt; ich bleibe Nebo, der junge, aber langweilige Erzieher. Um Ihrem Aussehen zu entsprechen, müsste ich mir eine baskische Mütze aufsetzen, an einer Pfeife kauen und mich zum einsamen Ritter einer Hütte vorbereiten. Nein, Prinzessin, wir spielen nicht die Komödie der Leidenschaft, wir betrachten sie; ich habe Ihnen ein Schauspiel versprochen, nicht, mit Ihnen auf die Bühne zu steigen. Wir werden, da es Ihr Wunsch ist, Berauschungen und Hurereien sehen; aber unempfindlich, kaltblütig und keusch. Wenn ich Ihrem Eifer nachgeben wollte, würde die Prinzessin Paula heute abend eine Dirne sein.
– Wenn der geschraubte Stil Shakespeares mich nicht auf Ihren vorbereitet hätte, würde ich Sie für grob erklären: für einen Prediger und Nörgler, weil Sie Ihren erhabenen Ekel nicht haben gestalten können, und weil die Wirklichkeit, die Sie mir gegen Ihren Willen zeigen müssen, sich schön abheben wird von dem schrecklichen Hintergrunde, den Sie mir gezeigt haben.
Nebo schüttelte den Kopf.
– Ich fühle in Ihnen Gefühle, die Ihnen selbst unbekannt sind, und ich wehre Schläge ab, die Sie unbewusst führen würden: Schläge, die unser Band zerreissen würden. Lassen Sie mich dunkel in meinen Ausdrücken sein und mögen Sie Ihre Befriedigung finden. Dieser Wagen bringt uns nach dem Bahnhof von Vincennes, und diese Strecke zum Abendessen im Freien und zum Mondschein am Rande des Wassers. Doch verlieren Sie nicht die Klarheit durch erfinderische Nerventätigkeit: ich predige, um eine ruhige und empfängliche Schülerin zu erhalten, die das Gemälde kritisiert, nicht eine, die vor dem Rennen durchgeht, welche die Ufer der Marne für die des Lignon Nebenfluss der Loire, in Honoré d'Urfés Schäferroman »Asträa« (1610). nimmt.
Ihre Lebhaftigkeit, buchstäblich geduscht, legte sich; sie seufzte:
– Es gibt Menschen, die man Freudetöter nennen müsste.
– Auch Tage, begann Nebo feierlich. Es gibt eine Traurigkeit, die man gut als die Traurigkeit des Sonntags bezeichnen könnte. Die allgemeine Seele, die aus der knechtischen Arbeit zu sich kommt, staunt und zögert bei diesem Stillstehen der Tätigkeit. Da die Strömung der sozialen Flut den gewöhnlichen Menschen nicht mehr trägt, bedrückt ihn die Ruhe, weil sie ungewohnt ist; sie lässt ihn von Angesicht zu Angesicht mit ihm selbst, eine schrecklichere Gegenüberstellung als die mit der Not. Der katholische Sonntag mit seiner Hochmesse und seiner Vesper ist der ideale Tag der Woche, der poetische und geflügelte Tag; aber der republikanische Sonntag, der von der Bastille bis zum Triumphbogen die Bürgerschaft in neuen Kleidern aufreiht, zerreisst das Herz wie das automatische Wesen seelenloser Menschen, die auf Befehl ausgehen und das ganze Jahr über an bestimmten Tagen spazieren … Den jungen Leuten bringt er mehr Gefühlsfreude. Wieviel Frauen berauben sich fast aller Dinge, um an diesem Tage sich mit modischen Fetzen zu behängen: die kleine Welt hat nur diesen Nachmittag, den wir jetzt mitmachen, um sich zu zeigen, sich zu brüsten, einander zu beneiden und zu verleumden. Von der Messe bis zum unvermeidlichen Spaziergange in den Champs-Elysées, das sind die Stunden, die von der Woche dem Liebesspiel durch Blicke und Nachgehen allein günstig sind. Für diese in der Provinz seltene Gattung, die in Paris Legion ist, deren Unabhängigkeit nicht mit der Rücksicht zu rechnen hat, ist das Freude und Trost. Alles was die grossen Warenhäuser an Angestellten und Gehilfinnen haben, die Schreiber und die Wäscherinnen, die Ladenburschen und die Modistinnen ergiessen sich zu dieser Stunde aufs Weichbild von Paris.
– Gut! ich will also natürliche Leute sehen, frei von jedem Joch, die ohne Fesseln lieben und ohne Groll noch Furcht sprechen.
– Nach dem, was Sie schon kennen, müssten Sie besser schliessen: diese Leute, frei vom Joch, sind etwas Wilde, und diese Liebe ohne Groll ist blutdürstig und bösartiger als der Hass.
– Sie ertränken doch unaufhörlich mit Ihren Reden die Dinge und Laute der Liebe in Flüchen.
– Wenn wir zurückkehren, werde ich Sie wieder nach Ihrer Ansicht fragen. Für den Augenblick bedenken Sie, dass nichts so gut erhellt wie das Interesse; und wenn die Gesellschaft die in den Bann tut, die ihr die Bürgschaften der Geselligkeit weigern, welche alle in dem Worte Rücksicht liegen, gehorcht sie dem Naturtriebe der Verteidigung, dem Kastengeist, und bezeichnet die freien Frauen und die ausschweifenden Männer durch ein »difidatevi«, ein »Hütet euch!«, wie an den Mauern von Monte Carlo steht: »Gebt acht auf die, welche keine Sitten haben, und gehorchet nur den Gesetzen.«
Der Bahnhof von Vincennes war von Nachzüglern erfüllt, die eine Sonntagsarbeit zurückgehalten hatte und die jetzt die befreundeten Scharen aufsuchen wollten. Eine lärmende Fröhlichkeit, lustig stossende Ellbogen, tierische Schreie, ausgestossen als Entspannung von einem langen Schweigen; die hellen Bänder der Strohhüte, die kurzen Herrenröcke aus weissem Zwillich, das Grün der Schmetterlingsnetze, die überlangen Angelruten, die auf die Botanisiertrommeln schlugen, das ganze Handwerkszeug der ländlichen Freuden; und fast in jeder Hand eine Flasche, in eine Zeitung gewickelt, oder einen Korb mit Lebensmitteln. Ungezwungen und sich im männlichen Drohnenschwarm feiner benehmend, stützten sich die Frauen auf ihre Schirmstöcke oder beugten sich zueinander, um sich vertrauliche Mitteilungen zu machen, die von Gekicher unterbrochen wurden.
Kaum war der Zug zusammengestellt, wurde er mit lärmendem Geschrei gestürmt; man hätte von einer Einschiffung nach Cythera sprechen können, so wie sie ein Impressionist malen würde, ein Bewunderer Manets, der seine Aesthetik aus Médan Wo Zola wohnte; Zola schildert Manet im »Kunstwerk«. geholt hätte.
– Dieser Zug ist von einem Leben! sagte Paula, sich ans Fenster setzend.
– Wenn Sie sagen würden, er ist von einem Lärm! Ein Zug mit Vieh ist auch lebendig, und an was denkt das Vieh, wenn es gefahren wird? Sich im Grase zu wälzen, auf die Weide zu gehen, kühle Getränke zu trinken und sich zu paaren: schliesst dieser Zug von Unsterblichen andere Erwartungen ein?
– Mein Herr Professor, Sie haben mir gesagt: »Nach den Sitten Peladans Roman »Weibliche Neugier«. die Leidenschaften; nach dem Trieb Peladans Roman »Weibliche Neugier«. das Gefühl.« Nun, wir setzen fort, was Sie Sittenlehre nennen und betreiben keine Einweihung in die Gefühlswelt.
– Glauben Sie denn, Paula, dass die Leidenschaften etwas anderes sind als Naturtriebe, welche die Seele in ihren Wirbel ziehen? Die Liebe, betrachtet in ihren Urbildern, wie Antonius und Kleopatra in der Wirklichkeit, Romeo und Julia in der Dichtung, ist nur geschlechtliche Aufregung. Ich würde die Leidenschaft als den in Gefühl umgesetzten Naturtrieb erklären; das heisst die Steigerung eines Bedürfnisses, auf seinen Gegenstand spezialisiert. Lieben, das ist, das gebieterische Bedürfnis haben, ein Wesen zu sehen, zu hören, zu berühren und von diesem Wesen gesehen, gehört und berührt zu werden, in der Gegenseitigkeit des Gefühls. Der Liebende, der sich überzeugt, dass er, um leben zu können, von der Einen geliebt werden muss, wird, wenn das nicht geschieht, sich aus der Ueberzeugung töten, dass diese Liebe seinem Leben unentbehrlich ist. Hören Sie eine Eifersucht zu sich selbst sprechen: »Andere sollten dieses Wesen besitzen! Andere Lippen! … Andere Arme! … Nein, nein, ich kann nicht.« Indem sie sich dieses »Ich kann nicht« wiederholt, wird die Eifersucht Wut und kann beissen. Die ganze tierische Natur steigt wieder zum Herzen und man steht einem mehr oder weniger gefährlichen wilden Tiere gegenüber.
– Die Erscheinung der wachsenden Steigerung des Gefühls hängt ab von der Vorstellung, fuhr er fort, aber ihr Scheitelpunkt ist die Lähmung des Gehirns. Sehen Sie den Zorn eines Löwen, der im Jardin des Plantes eingesperrt ist, und den, welchen Sie bei einem Gefangenen erregen könnten: im Paroxysmus, in dem sie beide rot sehen, befindet sich der Mensch auf der gleichen tierischen Stufe wie der Löwe. Da ist ein Regiment Turkos, das mit dem Bajonett angreift: vom psychischen Standpunkt haben sie keine Seele mehr und sind nur eine Herde Büffel. Der Liebesbesitz, je heftiger und wilder er ist, desto mehr richtet er sich nach dem Verb »bespringen«, weil in dem heftigen Taumel das Gehirn nicht mehr arbeitet und die Urteilskraft unter den Nervenzuckungen verschwindet. Auch ist der Irrtum ungeheuer, den Augenblick, in dem der Mensch seine Menschlichkeit verliert, als den Höhepunkt der Persönlichkeit zu bewundern. Wenn ich Chester ausserhalb der gesetzlichen Auffassung dieser Handlung mit meinem Dolche getroffen, hätte ich tierisch gehandelt, das Weibchen, das ich liebe, gegen ein anderes Tier verteidigt; ich habe ihn nur an der Stirn gezeichnet und habe ihn ohne Grausamkeit bestraft. Die Leute, die erstaunen, wenn sie lesen: »Die Kürassiere sind wie Helden dahingestürmt«, sind einfältig; erstens konnten sie nicht zurückweichen, weil sie das Kriegsgericht fürchten mussten, zweitens gingen sie, als sie erst in Schwung gekommen waren, in die Reihe der wilden Tiere über und starben im Zustande von Säugetieren, nicht im menschlichen.
– Der wirkliche Held, schloss er, ist der, dessen Tod eine Idee krönt, nicht der Tölpel, zu dem ein Land gesagt hat: »Die Losung ist sterben, damit die baumwollenen Mützen bei einem fernen Volke besser verkauft werden.« Hören Sie eine erhabene Liebesgeschichte: Eine junge und schöne, aber arme Frau verehrte ihren Geliebten und wurde von ihm verehrt. Da zeigt sich dem jungen Mann eine glänzende Ehe, die Anfänge einer grossen Zukunft! Was tut diese verehrende und verehrte Frau? Sie gibt vor, ihm entrissen zu sein, reisst ihn langsam von sich los, damit er nicht leide, und verschwindet. Das ist erhaben: lieben heisst jemanden sich selbst vorziehen, selbst seine Liebe ihm opfern. Alles andere ist Schwindel und in Wirklichkeit der Krieg zwischen zwei Egoismen.
Der Zug hielt in Joinville-le-Pont; die beiden jungen Leute stiegen aus.
– Gehen wir zuerst auf die Suche nach dem Restaurant, sagte Nebo.
– Das ist eine sehr materielle Sorge für einen Platoniker.
– Sie urteilen so vorschnell wie eigensinnig! Wird sich die Natur nicht beim leichten Rausch des Nachtisches entfalten? Wenn wir einen Tisch wählen, statt eine einzige Gruppe zu hören, werden wir mehrere Schauspiele zu gleicher Zeit sehen.
– Sie haben recht, trällerte Paula und warf sich, plötzlich ein wildes Mädel geworden, mit tänzelndem Schritt auf die Blumen, die sie erblickt hatte, um damit das Knopfloch ihres Kameraden zu schmücken; riss Blätter ab und kaute sie, ihren Blick in das Grüne einer Pappelallee tauchend. Dann nahm sie den Arm des jungen Mannes, um sich mit einer Ungezwungenheit darauf zu stützen, die von der Ueberraschung kam, welche die Natur ihren Sinnen bereitete. Und ihr Eigensinn träumte.
– Diese Zitterpappeln, die dem ersten christlichen Architekten die Idee der Kirchtürme eingaben, so gerade und so hoch gen Himmel zeigend, während sie in der Erde eingegraben bleiben, scheinen mir mit ihrer Wellenlinie und ihrem Blätterrascheln die Nebos und die Paulas zu sein, die sich erheben, sich erheben, die andern Bäume um zwanzig Ellen überragen, aber durch tiefe Wurzeln am Boden angekettet bleiben.
– Poetische Grisette, welcher Eindruck lässt Sie in Bildern sprechen?
– Ein Eindruck der Entspannung; meine Persönlichkeit verringert sich; ich urteile weniger und ich lebe mehr; eine plötzliche Gemeinschaft verbindet mich wieder mit der Pflanzenwelt; ich fühle Luft, Wind, Sonne, Leben in mich eindringen; wie ein Poussin, der ein Corot wird, gewinne ich Eindrücke und verliere Gedanken: ein Druck Ihres Armes würde mich mehr rühren als ein Blitz Ihres Geistes.
Und sie blieb stehen, wie um sich fühlen zu hören.
– Wahrhaftig, ich fühle mich so drollig und verwandelt, dass ich glaube, mit dem Kleid der Grisette auch deren Seele angezogen zu haben.
Sie gelangten ans Ufer der Marne; ein Gasthof im Freien hatte das Aussehen eines kleinen Dorffestes; Schaukeln flogen, Strumpfbeine zeigend, während kurze Angstschreie ertönten; die metallischen Scherben erklangen auf dem Holze eines Tonnenspiels »Bei dem metallene Wurfscheiben in die Oeffnung einer Art Kiste zu werfen sind.«; man hörte die Schüsse eines Scheibenstandes knallen und eine Drehorgel mahlte die verfälschten Noten des »Miserere« von Verdi.
Während Nebo eine Gartenlaube wählte und das Essen bestellte, blieb Paula vor den hölzernen Pferdchen stehen und liess sich von deren Kreislauf so fesseln, dass ein junger Mann vortrat und sich erbot, ihr eine Runde zu bezahlen. Sie antwortete mit einem schallenden Gelächter und liess den galanten Kommis starr vor Schrecken stehen.
Ein Boot plätscherte unmerklich, aus einer Decke von Wasserlinsen auftauchend; Paula wollte sich durchaus einschiffen.
– Selbstsüchtige Prinzessin, sagte der Platoniker, die Ruder ergreifend, Sie fragen sich nicht, ob mein Arm kräftig genug ist, Sie zufriedenzustellen.
Er ruderte mit Anstrengung, in langsamem Takt, der seine Muskelschwäche verbarg, die Mitte des Flusses haltend, und in gerader Richtung fahrend. Träumerisch liess Paula eine Hand ins Wasser hängen, mit der andern ihre Augen vorm Widerschein schützend. Plötzlich gab sie ein Zeichen, langsamer zu fahren, und ihre Blicke hefteten sich auf eine grosse Weide des Ufers. Dort umarmten sich, auf dem Rasen liegend, zwei Liebende, umschlangen sich, so völlig ihre Umgebung vergessend, dass sie das Geräusch der Ruder nicht hörten. Das Gesicht der Prinzessin färbte sich purpurn, und sie versank in diesen Anblick, als Nebo sie schroff, mit einem einzigen Ruck, aus dieser Betrachtung riss; unter ihrer Wimper konnte sie einen grollenden Blick nicht zurückhalten; auszusprechen wagte sie ihren Aerger nicht, da der Ruderer ironisch und etwas verächtlich lächelte.
Von nun an durchsuchten ihre Augen das Weidengehölz der beiden Ufer, die Büsche durchstöbernd, die Algen auf die Seite schiebend, um die Erzähler der Liebe, die Beter der süssen Sünde zu entdecken. Jeden Augenblick tauchte ein Paar aus dem Laub auf, das unzüchtig tollte; nervöses Lachen, sinnliche Ausrufe, ungewöhnliche Bewegungen fanden in dem hohen Grase statt; die Farbe eines gelösten und flatternden Bandes leuchtete auf; eine Romanze erklang, von Schweigen unterbrochen; zuweilen eine bittere Stimme, die Gegenbeschuldigungen vorbrachte; eifersüchtige Drohungen, heftiges Ableugnen.
Von der Geschlechtlichkeit, die in der Luft wogte, behext, betrachtete die Prinzessin Nebo verstohlen: im Auge hatte er die scharfe Analyse, die zerschneidet und verurteilt; er schien ihr kalt, ein ewiger Sprecher, ein Mensch ohne Poesie zu sein; ohne es sich zu gestehen, dass sie dieses beinahe übernatürliche Wesen lästerte, fand sie Nebo zu dieser Stunde, an diesem Orte nicht am Platze, unmenschlich, da ihn der Magnetismus des scheidenden Frühlingstages nicht in Schwingungen versetzte.
Die Barke fuhr immer noch die Marne hinauf, als die letzten Sonnenstrahlen erloschen.
– Kehren wir um, sagte Paula.
Folgsam drehte Nebo die Ruder und wendete das Fahrzeug.
Paula war erstaunt, dass sie die Oertlichkeiten nicht wiedererkannte, nicht mehr denselben Eindruck wiederfand; sie erblickte nicht mehr die grünen Ufer, die blauten; die Besänftigung des Abends ernüchterte sie von dem Rausch eines Augenblicks; und Nebo nahm in ihren Gedanken seine hohe Gestalt wieder an.
Sie bewunderte dieses diamantene Wesen, welches das Leben nicht ritzte und dessen Kraft den Reiz wie die Gefahr meisterte. Diese Barke, die sie beide in der Schwermut des Abends dahinführte, erschien ihr als ein Bild ihres Lebens, das sanft geleitet wurde von diesem schweigsamen Ruderer, der in dem wachsenden Schatten grösser wurde und dessen ernste und harmonische Bewegung dieser Kahnfahrt in der Abenddämmerung eine einlullende Poesie gab.
Als sie anlegten, floss der Wirtsgarten von Lärm über; es war voller Abend, die venetianischen Laternen brannten schon. Der Wirt hatte, wie er versicherte, grosse Mühe gehabt, den Tisch von den Verspäteten frei zu halten.
Kaum hatte sich Nebo gesetzt, als er mit seinem Blick die benachbarten Lauben durchforschte und befriedigt lächelte; auf den fragenden Blick Paulas antwortete er:
– Unsere Umgebung besteht fast ganz aus unseren Daphnis und Chloës; Sie werden bald sehen, dass das Schnäbeln immer doppelt ist: unter den Lippen, die küssen, werden die Zähne erscheinen, die beissen.
Eine derbe Fröhlichkeit, mit grobem Unsinn à la Commerson Gab die satirischen Zeitschriften »Tamtam« und »Tintamarre« heraus, gestorben 1879., mit Wortspielen, mit Nachahmungen von Schauspielern, lief von einer Laube zur andern; und Rufe in die Kulissen begegneten dem Echo einer spöttisch witzelnden Antwort; die Frauen lachten sehr laut und spreizten beim Trinken den kleinen Finger, mit einer Uebereinstimmung, die komisch wirkte.
– Weisst du, wenn man ein Mädchen knutschen will, muss man freigebiger sein; knickerig und abstossend, das ist zuviel auf einmal; nichts da!
Und das grosse blonde Mädchen, das Paula in den Armen ihres Geliebten gesehen hatte, begann einen Wortwechsel.
– Schweig doch um der Leute willen; du kannst dich nicht halten, du bist die Dirne, erwiderte der Partner, ein Kommis mit rotem Gesicht und von gutmütigem Aussehen.
Das Weib antwortete mit derben Worten, gleich aus der Flasche trinkend, um sich anzufeuern, und breitete beider Vertraulichkeit mit ihrer Jauche und ihrer Schande aus; an den andern Tischen trat Schweigen ein, damit man dem Schimpfen des Paares zuhören konnte; ein Teller flog über den Kopf des Liebhabers, und die Geliebte bekam einen Nervenanfall: wie in ein Büschelfeuerwerk endigte ihre streitsüchtige Laune.
Von den benachbarten Tischen eilte man im Tumult herbei; zwei Ladenburschen, ihre Serviette um den Hals, klopften ihr in die Hände; die Frauen hakten ihr die Bluse auf: und unter dem Strahl eines Siphons, der ihre Nase traf, kam sie wieder zu sich, um zu schluchzen. Unter Scherzen stiess man sie in die Arme ihres unbeholfen gutmütigen Galans; sie griff wieder zur Gabel und sagte zu einer Freundin, die sich noch beunruhigte:
– Alberne Gans, ich befinde mich sehr wohl; das hatte ich nötig.
– Pfui, sagte Paula, dieser läppische Bengel wird sie wieder nach Paris bringen, statt sie in die Marne zu werfen.
– Das Gesetzbuch ist nicht psychologisch; und ein galantes Volk hat die weiblichen Vergehen nicht vorausgesehen. Alles, was nicht an Mord und Diebstahl streift, ist sozial mit dem musikalischen Zeichen »nach Belieben« versehen. Was auch vorkommen mag, in der Liebe teilt die allgemeine Meinung die Ansicht Guignols Guignol, Hanswurst des Puppentheaters.: es ist ihm recht geschehen, er hätte nicht dahin gehen sollen. Wird jemand von seiner Frau hintergangen, geschmäht, so umschreiben die Geronten Greise, die sich leicht leiten lassen, in französischen Lustspielen. das: »Was hatte er in dieser Galeere zu schaffen?« In der Tat, man umarmt eine Frau, die nicht einmal ein anständiger Mensch ist: mit grossem Geschrei wundert man sich, wenn sie betrügt. Die Gesellschaft kann auf dem leukadischen Von einem Felsen der Insel Leukadia stürzte sich die griechische Dichterin Sappho ins Meer, aus unglücklicher Liebe zu dem schönen Jüngling Phaon: Grillparzers Drama. Felsen kein Geländer aufstellen, noch den mit Vitriol Bedrohten eine eiserne Maske anlegen. Der Ausdruck »schwaches Weib« ist hier nicht am Platze; das Weib, das beim Skandal nichts zu verlieren hat, das Weib mit einer Waffe ist durchaus kein schwaches Weib: es ist von diesem einzigen Geschlechte, das sich den Feind nennt. Wenn dieser Tölpel seinen Stock genommen und die nervöse Person geprügelt hätte, ein Zetergeschrei hätte sich gegen ihn erhoben und Kavaliere wären dazwischengetreten. Hätte sie ihm den Kopf mit dem Teller gespalten und seine Wangen mit ihren Nägeln bearbeitet, hätte man ihn zurückgehalten mit den Worten: es ist ein Weib. Diese einfachen Worte enthalten tausendundeine Freiheit; und die Pariser Geschworenen haben eine so entwickelte Anlage zur Dummheit, dass sie als gerechtfertigte Offenbarung des Gefühls den Mord zulassen. Diese ehrenwerten Tölpel sprechen so: wenn man einem gleichgültigen Menschen den Tod gibt, verdient man das Schafott; aber seinen Geliebten töten, das kann man verzeihen und billigen. Ich habe gehört, wie eine Dame sich über einen ähnlichen Fall äusserte: »Sie hat ihn sehr lieben müssen, um ihn zu töten.« Frauen haben nach einem Bruch ernsthaft gesagt: »Ich liebe dich nicht genug, um dich zu prügeln.«
Bittere Worte liessen sie die Ohren spitzen; hinter ihnen sammelte sich ein Gewitter an, auf einen Vorwurf hin, den sie nicht gehört hatten.
Eine grosse kräftige Braune legte mit zischender Sprache los:
– Geh, mein Lieber, mach dich fort, die Zuschauer schützen dich; aber sind wir erst zu Hause, werde ich dir ein nettes Leben bereiten … In der Nacht, wenn du schlafen möchtest, werde ich weinen oder Anfälle haben; am Tage immer dieses Schweigen, das dich krank macht, das dich eine Gefahr ahnen lässt; ich werde dir die Schüsseln so hinschieben, dass du den Appetit verlierst … Ich bin Korsettmacherin, ich werde dir ein Korsett aus Nadelstichen machen, in dem du vor Schmerz krepierst.
Als Paula bei der Beschwörung dieser folternden Vertraulichkeit den Kopf wandte, sah sie den Handlungsgehilfen erbleichen wie einen Mann von 1600, dem man mit der Folter gedroht.
– Aber die Liebe ist ja ein amerikanisches Duell, rief die Prinzessin aus, und noch wahnwitziger: man schliesst sich in eine Verbindung ein und hackt sich gegenseitig in kleine Stücke, ohne sich zu töten, was besser wäre.
– Verlassen oder immer nachgeben sind die beiden einzigen Lösungen der Frage. In diesem Kriege aller Minuten trägt die Frau immer den Sieg davon, wenn sie es nicht mit einem Flegel zu tun hat, der nicht streitet, sondern prügelt. Je nervöser der Geliebte sein wird, je mehr Eindrücke auf ihn wirken, je verfeinerter seine Erziehung ist, desto weniger wird er für diesen Kampf der Behexung gewaffnet sein. Man gibt der Frau das Recht aufs Alberne und auf die Grillen; sie missbraucht es geschickt. Sie ermüdet den stärksten Widerstand, indem sie immer wieder stachelt, und erzielt die seltsamsten Zugeständnisse durch eine Komödie, die man treffend »Szenen machen« nennt.
Ein Wortwechsel am Ende der Wirtschaft unterbrach ihn.
– Sie haben Madame unterm Tisch gekniffen! schrie eine zornige Männerstimme, und das Folgende verlor sich in allgemeinem Geschrei.
Vor dem durcheinandergeworfenen Nachtisch stützten sich die Ellbogen auf: die Zigarren und die Pfeifen glühten sichtbar beim trüben Schein der Stocklaternen. Dort küsste man sich; daneben balgte man sich; die Paare von guter Eintracht, die mit ihrem Messer Endreime klopften, schienen in Paulas Augen Gesindel zu sein; und die Haltung der andern liess Hass und Berechnungen von Gegnern, die einander belauern und vom Zaun gebrochenen Streit suchen, erraten.
Paula und Nebo stiegen nach der Marne hinunter.
– Als Sie mir die Ausschweifung des ersten besten mit der ersten besten zeigten Peladans Roman »Weibliche Neugier«., empörte mich deren Bestialität; jetzt, da ich die gebilligte und wählende Liebe sehe, lässt mich die schwarze Bosheit, die davon ausströmt, fragen, welche mehr wert ist: die Dirne, die zu jedem kommt, oder die Frau eines einzigen Mannes, dem sie mit ihrer ganzen Bosheit zusetzt. Ja, Sie haben recht: was die Leidenschaft verzeihlich macht, ist ihr Schmerz; die öffentliche Meinung hat nicht den Mut gehabt, ihre Steine auf so unglücklich ermordete Wesen zu werfen.
Der Mond stieg am Himmel empor, das schwärzlich gewordene Wasser metallisch färbend; als sie sich vom Wirtshaus, das voll Geschrei war, entfernten, fühlte die Prinzessin noch, wie sie die Natur, die so ganz anders war, gefangen nahm; und auf ihre Lippen stiegen Seufzer, die sie nicht ausstiess. Mit einem Bedürfnis nach vertraulicher Mitteilung, nach einem liebkosenden Worte, stützte sie sich auf den Arm des schweigsamen Platonikers, dessen Zigarette im Schatten glühte. Sie fühlte sich sehr betrübt und hatte Lust zu weinen, köstlich gerührt; sie musste sich mitteilen, und so sagte sie mit bewegter, sanfter Stimme:
– Nebo, Sie sind mein guter Freund, und ich liebe Sie sehr.
– Sie lieben mich in diesem Augenblick mehr als vorhin, Paula?
– Ja, erwiderte sie.
– Dieses Gefühl ist nichts anderes als die augenblicklichste Empfindung; das Ufer beim Mondschein macht empfindsam; was Sie lieben, ist diese Landschaft um neun Uhr abends; der grosse Pan ist nur für die Eingeweihten tot; für die Frauen lebt er hinter der Wolke und kauert im Gebüsch: der Einfluss, den die Umgebung auf die verliebte Netzhaut des Auges übt, das ist Ihr guter Freund, der so geliebte Nebo.
Paula wollte sich beklagen, dass er dem köstlichen Augenblick mit Unerbittlichkeit die Poesie nehme, als auf dem schmalen Pfade eine Frau, die mit kurz abgesetztem Schritte ging, sie streifte. Man hörte das Geräusch eines atemlosen Laufes; sie blieben stehen, und ein keuchender Mann schoss auf sie zu.
– Haben Sie nicht meine Geliebte vorbeigehen sehen? Sie will sich ertränken!
– Sich ertränken? Warum? fragte Paula.
– Weil ich mir zwei Abende in der Woche vorbehalten wollte, um in die Welt zu gehen.
Die Prinzessin lachte laut auf.
– Schweigen Sie, sagte Nebo; wenn sie hört, dass Sie nicht daran glauben, ist sie vielleicht eitel genug, um es zu tun, und ich würde mir nicht einmal den Schuh nass machen, um sie wieder aufzufischen.
Die Frau kam zurück; ihr Geliebter stürzte sich auf sie; aber sie wusste ihm zu entgleiten, sich jedoch an den Zweigen einer Weide haltend. Der Verliebte zog sie zurück: wie eine Elfe hatte sie sich nur das Kleid am Saume nass gemacht.
– Geh zum Theater, Ophelia! Welche Schauspielerin! Sie haben ohne Gefahr Selbstmord verübt; Sie haben sich ertränkt, ohne Ihr Strumpfband zu benetzen!
Sie warf Nebo ein Schimpfwort und einen bösen Blick zu; der setzte seinen Spaziergang fort und sagte zu Paula:
– Die Geliebte eines jungen Lords hat mir erzählt, sie sei auf einem Gipfel der Alpen mit ihrem Liebhaber in Streit geraten; sie forderte ihn auf, zurückzunehmen, ich weiss nicht mehr, was, sonst würde sie sich in den furchtbaren Abgrund stürzen. – Liebten Sie denn Ihren Liebhaber nicht, fragte ich sie, da der Anlass Ihres Streites nichtig war; und wären Sie gesprungen, wenn er Sie nicht zurückgehalten hätte? – Ja, antwortete sie mir, aus Eigenliebe. – In vielen Frauen steckt eine mehr oder weniger rasende Tolle, immer aber geschickt, ihre Tollheit zu gebrauchen, im Interesse ihrer Lenden oder ihrer Börse. Um eine solche Tolle zu lieben, muss man ihr die Weisheit einflössen oder sie teilt ihren Wahnsinn mit. Hätte dieser Seladon die Spanne eines Pulsschlages überlegt, so würde er sich in Ruhe eine Zigarre angesteckt haben, um abzuwarten, bis seine Göttin zur Vernunft gekommen; doch zog sie ihn mit unsichtbaren Fäden hinter sich her … Lieben, das ist seine fluide Atmosphäre mit der eines Weibes mischen; sie durchdringen sich so sehr, dass binnen kurzem zwei Liebende Zwillinge geworden sind, vom Stern aus gesehen. Diese Gemeinschaftlichkeit der persönlichen Astralsäule erklärt nicht nur die Tatsachen von Ahnungen auf grosse Entfernungen, sondern auch gewisse Feigheiten des Willens, die sonst unerklärlich wären. In den Leidenschaften kommt eine Stunde des Besitzes; der eine wird der Teufel des andern und kann ihn sinnlose Handlungen begehen lassen. Man hat widerrechtlich Menschen mit Halluzinationen verbrannt, weil man sie für Zauberer hielt; wenn aber ein Prälat die Teufelsbeschwörung befahl, verordnete er eine Behandlung von übersinnlicher Heilkunde; Gegenwart, Worte und Gebärden der Priester wirkten, um das verdorbene Fluidum zu verjagen, das ein Wesen in Missklang brachte. Ich betrachte einen leidenschaftlichen Liebhaber als Besessenen; und für den, der die Kraft des wahnsinnigen Erstarrens kennt, der weiss, was es für sinnestäuschende Formen um ein Wesen hervorbringt, erscheint das schrecklicher als der gehörnte, bekrallte, bärtige, geschwänzte Teufel vom Hexensabbat des Dichters. Warum ist es so selten, dass die erlöschende Liebe Freundschaft wird? Weil in der Tatsache einer Lossagung der Bruch des fluiden Zwillingstumes liegt und die zweigeschlechtlichen Larven, da sie nicht zu ihren Ausgangspolen zurückkehren und nicht mehr genährt werden, buchstäblich sauer werden: das Verderben eines Liebesstrahles ist ein Strahl des Hasses. Selbst nach einem langen Zeitraume und nach vielem Vergessen fühlen sich die Liebenden, wenn sie sich wiedersehen, noch unsichtbar gebunden, wenn nicht der eingeweihte Mann seine fluide Atmosphäre hat austreiben und daraus alle Larven dieser Liebe hat verjagen können. Der Ort der Leidenschaft ist weder der Körper noch der Geist: der Uebergeist ist es, der die beiden ersten unterdrückt, sobald, wenn der Körper zittert, der Geist das Zittern kristallisiert hat, wie Stendhal gesagt hätte, wenn er die Liebe wissenschaftlich analysiert.
Nebo bemerkte, dass Paula schlecht auf seine Dynamik des Gefühls hörte, sondern vorzog, allein zu träumen, da sie aus ihm kein Wort hervorholen konnte, das zu ihrem Seelenzustand gestimmt hätte.
An der Brücke schien eine Frau, die unbeweglich im Schatten stand, das Gesicht mit einem Schleiertuch verhüllt, zu warten; die Starrheit ihrer Haltung setzte Nebo in Erstaunen.
Als sie die jungen Leute sah, trat sie vor:
– Gehen Sie nicht in die Wirtschaft?
– Könnten Sie Gaston Fauche, einem grossen Rotkopf, der einen Anzug aus weissem Zwillich trägt, nicht sagen, dass eine Dame ihn an der Brücke von Joinville erwarte?
– Das ist leicht getan, wir gehen sofort hin.
– Durch die Maschen ihres Schleiertuches habe ich eine Glasflasche schimmern sehen, sagte die Prinzessin.
– Kein Zweifel mehr, eine Vitrioleuse. Dieser Gaston Fauche ist ein Dekorationsmaler von wunderbarer Einbildungskraft.
Nebo hatte einige Mühe, den Künstler in einem Punschkreise zu entdecken; er führte ihn beiseite.
– Sie haben heute abend um neun Uhr ein Stelldichein an der Brücke von Créteil; Sie hatten es vergessen.
– Wahrhaftig, es ist wahr! Ich hatte es vergessen, ein Stelldichein mit einer Unbekannten! Doch warum interessiert Sie das?
– Es fliesst Wasser unter einer Brücke und auf ihr heute abend Vitriol.
– Ach, gehen Sie! Das ist nur Hermance, eine Geliebte, die ich vor einem Jahre verlassen habe und die vergeblich wieder hat anknüpfen wollen.
– Hermance oder Dorothea, das ist gleich, erwartet Sie, um ein Experiment mit Salpetersäure zu machen! Da ich von Ihnen beachtenswerte Skizzen gesehen habe, bezahle ich den künstlerischen Eindruck, den ich Ihnen schulde, indem ich Ihnen dieses hier anbiete.
Nebo gab ihm seinen Revolver; ohne sich weiter aufzuhalten, schlug er mit Paula die Richtung nach dem Bahnhof ein.
– Nun, Musette, Sie kehren zurück, nachdem Sie sich zwei Male berauscht haben, das eine Mal unter der Sonne, das zweite Mal unter dem Monde. Was denken Sie jetzt von diesen natürlichen Leuten, die frei von jedem Zwang sind und ohne Bitterkeit lieben? Die fünfstündige Idylle, die in Wortgezänk oder Rauferei endigt, die Gemeinheit bei den Männern, die böse Selbstsucht bei den Frauen: ist das nicht genug moderner Longus Grieche, um 400 nach Christus; schrieb den Schäferroman »Poimenika«, lat. Pastoralia (Hirtengeschichten), der die Liebe zwischen Daphnis und Chloë schildert.? Und glauben Sie nicht, dass Schutzleute solche Liebenden zu überwachen hätten?
Ein Knall unterbrach den Platoniker.
– Ah! stiess Paula hervor, das ist Fauche.
Ein zweiter Revolverschuss war zu hören.
– Schicksal! sagte Nebo ernst.
Die Prinzessin sah die Szene vor sich, wie die Säure geworfen wurde und die Kugel antwortete: erschüttert, lehnte sie sich an einen Zaun; erschrocken, sah sie in ihrer Einbildung das Verbrechen den König Eros geleiten. Ein Abscheu erfüllte sie, dass sie dieser Menschheit angehörte, und zum ersten Male begriff sie, welch edlem Willen sie gehorchte. Nebo würde sie gegen die Tierheit und die Leidenschaft verteidigen: niemals würde die stolze Riazan dem Wahne verfallen! Sie ergriff die Hand ihres Virgils und wiederholte ihm, aber in festem und mannhaftem Tone:
– Sie sind mein guter Freund, Nebo, und ich liebe Sie mit der ganzen Idealität, die ich Ihnen schulde.