Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.
Heilige Preisgabe

Das ganze Erdgeschoss des weiten Hauses durchs Entfernen der Türen in eine Flucht von Sälen verwandelt, erstrahlte von Licht und Lärm. Die Herzogin von Novara hatte jeder Verkäuferin die Sorge, ihren Laden einzurichten, selbst überlassen. »Ich liefere den Saal und die Kerzen, alles andere ist Ihre Aufgabe,« hatte sie gesagt, sich auf die Eitelkeit der Damen verlassend, die für den Erfolg ihres Wohltätigkeitsbazars sorgen würden. In ihrer Eigenschaft als Vorsitzende hatte sie nur einen einzigen Punkt beantragt: das Ballkleid für den Abendverkauf. Das Freudengeschrei, mit dem dieser Antrag angenommen wurde, zeigte der alten Witwe, wie ihre verderbte Umgebung sie verstanden hatte.

Schon an der Tür boten junge Mädchen dem Kömmling Knopflochblumen; wild in dieser Aufgabe, die ihr Leben sein sollte, den Mann zu foppen und zu prellen, stellten sie sich bis zu vieren hin, um den mit Blumen zu schmücken, der ihnen scheinheilig schien und nicht bewandert in diesen schwierigen Scharmützeln, bei denen man mehr als Geist braucht, um weder angeführt zu werden noch unhöflich zu sein.

Die vierfache Ausschmückung mit Blumen kostete vier Goldstücke, und kaum war man den Sträusschenverkäuferinnen entronnen, drückten die Zigarrenmädchen ihre Fichtenkästchen auf die Hemdbrust des Geplünderten:

– Ein Goldstückchen die Havanna, mein Herr, das ist nicht teuer.

Er hatte noch nicht fünf Schritte getan und schon hundert Franken ausgegeben.

Einige der Kömmlinge befestigten mit Nadeln wie einen Ordensstern an ihrem Anzug ein rotes Schild, das in grossen Buchstaben das Wort »Befreit« trug. Der Vicomte de Quéant hatte an die Gräfin von Novara ein Gesuch gerichtet, bedeckt mit den Unterschriften des »grossen Kreises«, in dem er bat, dass zum Preise von fünfhundert Franken eine Karte ausgehändigt werde, die, offen getragen, wie die der Wettrennen, von der Zudringlichkeit der Verkäuferinnen befreite. Und die Herzogin von Novara, die vor Künstlern und Schriftstellern Achtung hatte, eine Achtung, die in dem verdummten Adelsviertel fast unbekannt geworden war, hatte den Malern, den Dichtern, allen denen, die in einer Gesellschaft die Stellung eines Menschen oder die Seite eines Buches finden, rote Karten gegeben.

Der Verkauf fand statt zu Gunsten einer italienischen Stiftung. Der Pater Riccardi errichtete in Florenz eine Kirche, die dem Heiligen Geist geweiht war, und die Herzogin von Novara, die mit der römischen Geistlichkeit in Verbindung stand, hatte dem Prälaten einen Verkauf angeboten, wenn er in der Kirche des Heiligen Thomas von Aquino predigte. Der Jesuit hatte seine Hörer durch die Feinheit seiner Auseinandersetzungen hingerissen; ein sicherer Glaube sprach sich darin aus, durchsetzt mit ironischen Einfällen, und er versprach, am Schlussabend zu erscheinen.

Nebo hatte die Prinzessin Riazan gebeten, ihn hier zu erwarten. Verdriesslich im Likörladen der Frau von Estaque sitzend, hatte Paula dem Herrn von Genneton das Glas Grenadin ins Gesicht geworfen, für das er fünf Goldstücke bot, wenn sie zuerst daraus trinken wollte. Und diese ungestüme Handlung, unbekannt in der Geschichte der Wohltätigkeitsverkäufe, hatte eine Art Skandal bei den Frauen hervorgerufen, welche diese Kühnheit demütigte, und eine Bewunderung unter den Männern, welche diese Unabhängigkeit entflammte und lockte, das Schwierige zu erreichen.

– Für einen Seelenforscher, sagte Nergal, den die rote Karte schützte, glaube ich, Frau Herzogin, ist das Schauspiel unbezahlbar: wenn die Fontänen springen, geht man nach Versailles; hier geben Sie die Wasserkünste der Koketterie, und meine Befreiung ist übertrieben, wenn auch notwendig, denn ich werde von hier eine Traube beobachteter Entartungen mitnehmen …

– Nehmen Sie alle Beobachtungen mit, aber bezeichnen Sie sie nicht; heute abend bin ich selbst Partei, sagte die Herzogin von Novara, die dem Eingang gegenüber ihren Sitz hatte, an einer Art Kasse, wo sie ihre roten Karten zu fünfhundert Franken anbot.

Dann folgten die Läden, verschwenderisch und verschieden. Die Baronin de Stains, in weissem Kleide, und ihre lesbische Freundin Frau von Montmagny, in altgoldenem Atlas, hatten einen orientalischen Bazar; und die Hände voll Serailpastillen, welche die Baronin unaufhörlich in ein Kohlenbecken warf, machten die Luft dick zum Aerger der Nachbarinnen. In ihrer Backstube schnitten die Fräulein von Chamarande für ein Goldstück die Kuchen an. Frau von Breuvannes verkaufte japanische Nippsachen; die Herzogin von Noirmoutier vertrieb Bildnisse der Familie Orleans, die von den Originalen unterschrieben waren.

Ganz im Hintergrunde, in einem der Pavillons, in einem mit einem kleinen Salon versehenen Laden, zeigte die Marquise de Trinquetailles zu übermässigen Preisen heimlich ein Album des Félicien Rops, öffentlich dagegen Photographien von Schauspielerinnen und Berühmtheiten.

Blanche de Nogent sagte die Zukunft voraus und legte die Karten.

Die Fürstin Dinska vertrieb nur Champagner zum Mitnehmen, wie die Aufschrift ihrer Bude besagte; sie verkaufte die Flasche nur für zehn Franken und lieh zwei Gläser für jede Flasche; jeder konnte zu diesem für den Ort mässigen Preise mit der Dame, der er den Vorzug gab, trinken gehen. Die Herzogin erschrak, als sie sechshundert Flaschen auf den Gestellen der Slawin sich aufreihen sah:

– Ich fürchte, meine Liebe, dieser Strom Champagner wird Mühlen drehen, die mit Nachthauben bedeckt sind Cornette, Nachthaube; Frau, deren Gatte untreu..

Nebo kam erst um zehn Uhr; die Prinzessin bemerkte ihn, wie er stillstand und von der Tür aus die Lage mit einem Blick übersah, während er mit langsamer Hand die Befreiungskarte in seiner Tasche suchte. Statt sofort zum Likörladen zu kommen, wo Paula war, begab er sich mit einer gewissen Hast zu Blanche de Nogent: vor dieser war Mrs. Connaught stehengeblieben, ihren Arm dem Herrn gebend, mit dem sie sich im Treibhause des Hotels Vologda verschworen.

– Gestatten Sie, mein Fräulein, sagte Nebo, dass ich an Ihrer Stelle die Karten erkläre, welche der Herr und die Dame eben gezogen haben?

Und ohne die Erlaubnis abzuwarten, fuhr er fort:

– Die 15 lässt mich einen teuflischen Plan sehen und die 17 zeigt mir an, dass es sich darum handelt, ein reines junges Mädchen zu verderben, durch die 13 gefolgt von der 4, das heisst dadurch, dass man sie in den Augen ihres Vaters entehrt, und zwar zugunsten eines Bruders aus zweiter Ehe, wie hervorgeht aus …

– Genug, mein Herr, sagte der Unbekannte erschrocken.

– Dann zahlen Sie hundert Franken an Fräulein de Nogent.

Und Nebo liess die beiden Schuldigen sehr blass stehen und ging zur Prinzessin. Diese ergriff ein Glas und fragte, ihre Neigung zu dem Platoniker verratend:

– Herr Nebo, was kann ich Ihnen zum Trinken anbieten?

– Ihre Höflichkeit ist eine Ironie; Sie wissen, dass ich nie Durst habe.

Und leise fuhr er fort:

– Ebenso gut könnten Sie mich jetzt umarmen; ich bitte Sie inständig, sich zu verstellen. Keine Einweihung ohne Geheimnis.

Eine nervöse Aufregung, eine Begeisterung ritzten den Firnis der Schicklichkeit; da die Haltung nachliess, schmeichelte das Angebot der Verkäuferinnen mehr, und die dreisten Käufer flirteten in offener verliebter Weise. Alles, was es da an geheimen Verhältnissen gab, enthüllte sich nach und nach; der glückliche Liebhaber, oder der nahe daran war, es zu sein, wich nicht von einem Laden und machte unausgesetzt den Hof, ohne sich von Verkäufen unterbrechen zu lassen.

Es war sehr warm, und die zu stark geschnürten Frauen wurden hinter dem Fächer rot, nicht etwa infolge der Anträge, die man ihnen machte. In ihren etwas verschwommenen Augen erschlaffte der Wille. Seit zwei Stunden schlugen sie sich mit Männern herum, die keinen anderen Wunsch hatten, als korrekte Schlüpfrigkeiten hören zu lassen: schliesslich gab ihre Haltung, die es müde geworden war, etwas steif zu sein, einer wachsenden Achtungslosigkeit nach.

– Ich habe gewettet, dass Sie den festesten Busen des Balles haben, erklärte Herr von Montessuy der Frau von Brécourt; beugen Sie sich etwas vor, damit ich sehen kann, ob ich meine Wette gewonnen habe.

Und die Dame, unschlüssig, ob sie lachen oder aufschreien sollte, geschmeichelt und verletzt von der frechen und groben Form der galanten Rede, blieb verlegen, als der Graf, einen Hundertfrankenschein hervorziehend, mit leiser Stimme fortfuhr:

– Es ist für eine Kirche, bedenken Sie, und Frau von Meyne, die auch Halsbinden verkauft, könnte Sie im Ertrag überholen, wenn Sie spröder als barmherzig sind.

Durch diesen letzten Grund wurde die Dame besiegt.

– Da es für eine Kirche ist …

Indem sie so tat, als lege sie Herrn von Montessuy die gekaufte Halsbinde um, beugte sie sich so weit, dass das Sträusschen, das die Lücke zwischen den beiden Brüsten durchduftete, herausfiel.

Montessuy kehrte zu einer Gruppe von Lebemännern zurück und lehrte sie seine Erfindung. Mit ausgelassener Fröhlichkeit stellten sich alle vor die Läden und kauften nichts anderes von den Verkäuferinnen als den Anblick ihrer Brüste. Und immer war der entscheidende Grund, der die Mieder unter den lüsternen Augen knebelte, die Versicherung, dass die Nachbarin, die Rivalin, mehr Einnahmen habe.

Solchen inständigen Bitten nachgebend, beugte sich die dicke Frau Sylvabelle zu sehr und ihre schweren Brüste sprangen aus dem Korsett heraus; sie musste sich in den Hintergrund des Ladens zurückziehen und den von einem stummen Lachen geblähten Käufern den Rücken kehren.

Für sechs Goldstücke riss Fräulein von Chamarande, die jüngere, die Spitze ab, die den Ausschnitt ihres Kleides verringerte.

Die Prinzessin Riazan hatte Nebos Arm genommen.

– Sehen Sie, sagte der Platoniker, das Verderbte dieses eleganten Hauses tritt schon in Erscheinung. Es gibt hier nur zwei Strömungen: die männliche, von diesen ehrbaren Frauen möglichst dirnenhafte Zugeständnisse zu erlangen, und die weibliche, diese Zugeständnisse sich möglichst teuer bezahlen zu lassen.

– Kaufen Sie mir diese Bronze ab, sagte Frau von Breuvannes.

– Ich kaufe Ihnen einen Kuss ab, zahlbar morgen bei mir.

– Mein lieber Marquis, antwortete die Verkäuferin, das ist der Artikel der Verzweiflung! Wenn ich den Abschluss dieser Damen kenne, und wenn mein Abschluss sich nicht sehen lassen kann, dann werde ich Ihnen den Artikel verkaufen, aber bei mir und nicht bei Ihnen.

– Alles, was ich sehe, alles, was ich höre, ekelt mich an, murmelte die Prinzessin. Man glaubt seinen eigenen Augen und Ohren nicht.

– Wäre ich blind und taub, würde ich doch genau fühlen, was hier vorgeht; und es kann nicht anders sein.

– Ich begreife Sie nicht, Nebo, Sie finden sie natürlich, diese …

– Diese heilige Preisgabe, ja, natürlich und verhängnisvoll. Glauben Sie wirklich, dass diese Kinder der Welt nur aus Barmherzigkeit hier sind? Aus Mode sind sie da, und infolge gesellschaftlicher Verpflichtung. Viele werden hier fünfhundert Franken lassen, wenn nicht tausend und mehr; bis zu zehn würde ich die zählen, die das Geld, das sie auf die Ladentische werfen, geborgt haben, zu dreissig Prozent. Sie wollen nicht, dass es für ihre Laster ganz verloren sei; und aus Verderbtheit wie aus Rachsucht wollen sie, was sie heute abend den Dirnen nehmen, ihre gewohnten Vertrautheiten auskosten, indem sie die Frauen, die sie ausserhalb des Alkovens ausplündern, zu Dirnen machen. Die Verkäuferinnen wieder setzen, sobald sie dieses Kampffeld angenommen haben, ihre ganze Eitelkeit ein, um dort zu triumphieren. Die anständig geblieben ist und morgen auf der Sitzung der Festgeberinnen nur einige hundert Franken vorzeigen kann, würde sich für entehrt halten und sich zu Bett legen wegen dieser Erniedrigung. Können Sie zu den Lebemännern sagen: leert eure Börsen wie die Weisen, ohne geschlechtliche Hintergedanken; und zu den Damen der Welt: entsagt jeder Eigenliebe eurer Reize? Nein, wirklich nicht! Dieses doppelte Wettrennen des Käufers, der die Verkäuferin zu einer kleinen Preisgabe treibt, und der Verkäuferin, die damit einverstanden ist, ihrer Schönheit und ihrem Ansehen zuliebe, würde in diesen Gesellschaften mehr oder weniger verschleiert sein, aber niemals ganz fehlen.

Die Herzogin von Novara hatte geahnt, wie gefährlich die sechshundert Flaschen des Ladens der Dinska sein würden: Quéant, der Gläser trug, und Montessuy mit einer Flasche gingen von Bude zu Bude; sie hatten überlegt: wenn sie sich berauschten, würde man sie später als Flegel behandeln; deshalb verschworen sie sich, die Verkäuferinnen zu berauschen, und sie boten der ein Goldstück, die ein Glas Clicquot trank.

Ywanowna verfolgte mit pervers belustigtem Blick den leichten Rausch, der den letzten noch gewahrten Anstand brechen würde. Die Gastgeberin, Frau von Noirmoutier und die adeligen Witwen sahen einen Augenblick kommen, in dem selbst der Schein der Zurückhaltung schwinden würde, und verwünschten Quéant, Montessuy und den Prinzen des Baux, die den Verkauf in ein Jahrmarktsfest auflösten. Aber wie Klubleuten, die ihre Börse leeren, sagen, dass ein Wohltätigkeitsbazar keine losen Einfälle zulässt? Diese Damen hatten sich zusammengetan, um diese Herren auszuplündern; sie plünderten sie! Wenn der Zweck über die Erwartungen hinaus erreicht ist, wie die Mittel bekritteln? Und die reifen und verständigen Frauen fügten sich darein, sich mit den Sprüngen tröstend, die sie den ganzen Monat über machen würden, wenn sie den Ruf der Verkäuferinnen zerpflückten.

– Noch einen Augenblick, Prinzessin, sagte Nebo, und Sie werden nach dem Wort des Armand Hayem Armand Hayem, ein früh gestorbener Freund Peladans, hat die Monographie »Le Don Juanisme«, das Drama »Don Juan d'Armana« und die Soziologie »L'Etre social« drucken lassen; alle drei bei Lemerre, Paris. die Manon Lescaut, die in jeder Frau steckt, aufspringen sehen. Die Falte der äusseren Lauterkeit, welche die Sorge der Achtung ihnen auferlegt, wird sich verwischen; es bleibt nichts mehr als festgehaltene Bedenken; bald wird sich die Frau in ihr Dirnenspiel verlieben und um öffentlich zu bewilligende Gunstbezeigungen nicht mehr markten; die Unverantwortlichkeit wird kommen, eine verführerische Erscheinung vollzieht sich; seit mehreren Stunden sagt man und wiederkäut, nicht mit den Worten selbst, aber mit Blicken, Gebärde, dem Sinn der Worte: »Vorwärts, Spassmacherinnen, heute abend seid ihr Hetären«; und von der magnetischen Kette, die alle diese verdorbenen Männer bilden, verzaubert, werden sie sich wie unter dem Zauberstabe der Circe verwandeln. Schon ist fast kein Unterschied mehr vorhanden zwischen der Bar der Folies-Bergères und denen des Hotels de Novara. Vergleichen Sie diese Spaziergängerinnen und die des Eden: die Worte, die sie wechseln, unterscheiden sich, aber die körperliche Annäherung und das erotische Spiel sind dieselben. Das Geld ist nicht für sie, und sie werden nach Hause gehen, um allein oder mit ihren Gatten zu schlafen: das sind die einzigen Unterschiede, nicht wahr?

Der kleine Nonancourt hatte eine Idee, die begeisterte: statt des Glases wurden die beiden zusammengehaltenen Hände der Verkäuferin mit Champagner gefüllt, und der Käufer trank daraus, indem er sie küsste. Chaumontel erbat und erhielt als besondere Gunst, dass die Verkäuferin ihre nassen Hände an seinen Backen und an seinem Bart trocknete.

Der Herzog von Nimes bezahlte vierzig Franken für eine Zigarre, die Frau von Allichamps eine Minute unter ihrer Achselhöhle gehalten hatte.

Ein abscheulicher Wetteifer liess sie jede Geilheit suchen, die mit dem Ort zu vereinen war: um die Taschentücher, die von Schweiss feucht waren, riss man sich.

Von allen Läden machte die Milchhandlung, an einem Ende der Säle gelegen, die magersten Geschäfte; Frau d'Ardany, ohne Geist und bis zur Stunde ohne Kühnheit, erschrak, dass der Abend verging, ohne dass sie Ehre einlegte. Quéant bemerkte, dass sie schöne Arme von rosiger Weisse hatte, und riet ihr, sie in den Rahm zu tauchen und sie so zum Küssen anzubieten; und alsbald wandte sich die Gunst der Milchhändlerin zu.

Fräulein de Lectoure konnte keine Frucht verkaufen, die sie nicht angebissen, und Frau von Pexonne keine Zigarette, die sie nicht angeraucht hatte. Man raunte, dass die Marquise de Trinquetailles in ihrem hinteren Laden die Grenzen überschreite: dass die Küsse dort nicht mehr gezählt würden als die Goldstücke.

Paula, ganz bei der Prüfung dieser Liebesspiele, die sie bisher stolz durchschritten hatte, ohne sie zu begreifen, bemerkte nicht die böswilligen Blicke, die in Nebo zusammenliefen. In dieser Stunde der galanten Freude hätten die zahlreichen Bewunderer der jungen Prinzessin versucht, kleine Zugeständnisse von ihr zu erlangen, wenn der Platoniker nicht zugegen gewesen wäre.

– Man wünscht mir das Schlimmste, den Tod, weil ich Sie mit Beschlag belege, Paula: das macht nichts; aber man wird sich an Ihnen rächen, man wird Sie verleumden.

Sie zuckte ihre schönen Schultern.

– Was geht mich das an? Uebrigens ohne Ihren Schutz, als Ziel der schändlichen Nachstellungen dieser Schlingel, würde ich eine Szene machen, die meinem Rufe schaden würde.

Der Laden der Dinska leerte sich zusehends, und der Rausch entzündete solche Lachsalven, dass man an gekitzelte und überraschte Frauen dachte. Mit voller Stimme wurden die Ausrufe ausgestossen. In die Tapeten der Erfrischungsräume waren Flecken gekommen und in allen Läden herrschte Unordnung; die durch den Schweiss aufgelösten Schminken gaben den Gesichtern einen etwas gemeinen Ausdruck; die, man wusste nicht wie, in Unordnung gebrachten Frisuren, die unerklärlich zerknitterten Kleider sagten, dass im nächsten Augenblick eine allgemeine Tollheit ausbrechen werde. Die Einfälle der Männer wurden absurd: die Fräulein von Chamarande mussten ihr Zuckerwerk mit ihrem nackten Ellbogen zerquetschen, um es zu verkaufen, und die Schokoladenplätzchen aus ihrem Busen ziehen, was sie beständig zwang, mit ihren Taschentüchern die Spuren auf ihrer Brust zu tilgen.

Als alle Händlerinnen ihr Busensträusschen und die Blume aus ihren Haaren verkauft hatten, bemächtigten sich Quéant und Montessuy der Blumen, die noch in den Händen der Blumenhändlerinnen geblieben waren, und zahlten, um sie selbst befestigen zu dürfen.

Ein Augenblick kam, da ihre Erfindungsgabe zu Ende ging: da schlug der Herzog von Nimes eine Börse der Küsse vor. Einige stellten sich hin als Wechselmakler, bildeten eine Gruppe, das Taschenbuch in der Hand, den Bleistift erhoben, um einen angenommenen Maklerplatz. Mit schrecklicher Stimme schrie der Herzog von Nimes: »Meine Herren, die Börse der Küsse ist eröffnet.« Bei dieser Seltsamkeit hörten sämtliche Gespräche auf und die erstaunten Augen richteten sich auf die Gruppe.

– Kuss Trinquetailles, zwanzig Goldstücke.

– Kuss Chamarande, die jüngere, fünfundzwanzig.

– Kuss Montmagny, dreissig.

Dieses Mal entstand ein Gemurmel der Verwahrung: das ging doch über den Spass, und die Herzogin von Novara wollte sprechen; aber nichts konnte diese Posse aufhalten, welche die Klubleute als einen Höhepunkt betrachteten, des Andenkens würdig, und die Schreie vermehrten sich. Ohnmächtig und gezwungen, dieses unvermutete Zwischenspiel zu dulden, fanden die Verkäuferinnen in diesem unverschämten Spiel bald wieder dieselbe Anziehung der Eigenliebe, die sie den ungesunden Forderungen gebeugt hatte.

Plötzlich durchschnitt eine klare Stimme den Lärm:

– Kuss Riazan, hundertfünfzig Goldstücke.

Diese Höhe hatte noch kein Kuss erreicht.

– Wer hat gerufen? fragte Paula zornig Nebo.

– Ich weiss nicht, antwortete er, aber ich will den Dreisten in Verwirrung bringen.

Ein Rosenkreuz mit den Fingerspitzen erhebend, wartete er einen Augenblick.

– Zweihundert Goldstücke, rief Nergal.

– Die hat er ja selbst nicht.

– Beruhigen Sie sich, er bietet höher auf meinen Wunsch. Sehen wir, wohin das führen wird, nachher können Sie sich entrüsten.

– Zweihundertfünfzig, erwiderte die klare Stimme, die zuerst geboten hatte.

– Dreihundert, sagte Balthasar des Baux.

– Vierhundert, sagte Quéant.

– Fünfhundert Goldstücke, fing die klare Stimme wieder an, im Strudel der Neugier.

Nebo erblickte den amerikanischen Nabob Chester.

– O Titania, sagte er, lieber von einem Orang-Utang geküsst werden als von dem Yankee Chester!

– Abscheuliches Schicksal, rief Paula, so gemarktet und gekauft zu werden von einem, der mit Pökelfleisch handelt.

– Lassen Sie diesen Minotaurus Ihnen sein Gold zu Füssen legen; ich entferne mich ein wenig, Paula, weil die Aufmerksamkeit auf Sie zusammenläuft: aber seien Sie versichert, Sie sind unter meiner Hut.

Die Prinzessin begann die Fassung zu verlieren; der Yankee nahm Montessuys schlechten Scherz ernst, und seit sie Nebo kannte, hatte sie alle, die sich ihr genähert, so sehr gekränkt, dass die Gesellschaft ihr fast feindselig war und ihr eine Demütigung wünschte.

Nach und nach ging man auseinander, und der Amerikaner und die Slawin sahen sich. Diese die Arme an die Brust ziehend, während der Fächer zitterte, behielt ihr stolzes Wesen. Umsonst versuchte die Herzogin von Novara dem Chester seinen Missgriff verständlich zu machen; der wollte nicht begreifen, sondern rief:

– Tausend Goldstücke!

Eine tiefe Stille trat ein. Chester blickte um sich, wie um zu fragen, ob niemand ihn überbiete; und da alle auf die Seite traten, ging er auf die Prinzessin zu. Blass vor Zorn, erhob diese ihren Fächer.

– Nicht näher, Vieh, sonst schlage ich Ihnen ins Gesicht.

Chester trat vor. In diesem Augenblick war der Pater Riccardi eingetreten, ohne gesehen zu werden. Eine Bangigkeit machte unbeweglich und auch eine schlimme Neugier schwebte über dieser seltsamen Szene. Chester hob einen Arm, um den Schlag des Fächers aufzufangen, und streckte heftig seinen schweren Kopf vor, aber er wich zurück und ballte die Fäuste: vor ihm hielt Nebo einen Dolch, an dem er sich die Stirn verletzt hatte. Bevor er die Faust erheben konnte, bog ihm der Prinz des Baux die Lenden über sein Knie; Nergal und Quéant warfen ihn zu Boden.

– Verzichtest du? fragte Nebo.

Der Yankee bejahte ohne Wort durch ein Zeichen: sofort liessen ihn die drei Rosenkreuzer los und stürzten sich ins Gedränge mit der Eile von Leuten, die gegen ihren Willen gezeigt hatten, dass sie zusammengehörten.

Der Pater Riccardi, der die Menge durchbrochen hatte, fand sich Nebo gegenüber; die Herzogin von Novara entschuldigte sich, aufs tiefste betrübt, bei der Prinzessin, die seltsamerweise fast fröhlich vor Stolz geworden war, da Nebo ihr einen so glänzenden Beweis seiner Macht gegeben hatte. Der Amerikaner hatte sich tief gekränkt zurückgezogen, über den Widerspruch der französischen Sitten fluchend.

Der Platoniker und der Priester hatten einander neugierig angesehen, aber die Herzogin von Noirmoutier hatte sich des Priesters bemächtigt, um ihm die Ursache dieses tragischen Schlusses des Verkaufes und die Börse der Küsse zu erzählen. Er verzog keine Miene; als er aber erfuhr, dass er tausend Goldstücke durch Paulas Weigerung verlor, machte er eine Gebärde des Aergers.

Auf diese Gebärde kam die Prinzessin Paula zu ihm.

– Sie finden es schlecht, Ehrwürden, dass ich mir diesen Kuss nicht habe nehmen lassen.

– Ja, sagte er deutlich.

– Ich bedauere, für die heilige Prostitution nicht zu taugen.

Bei diesem Ausdruck fuhr der Prediger zusammen.

– Die Sünde, sagte er, liegt in der Lust; da dieser Kuss Ihnen zuwider war, konnten Sie ihn mit ruhigem Gewissen bewilligen, denn er zielte auf die einzig würdige Sache hin, die es auf dieser Erde geben kann: die Erbauung eines Tempels für den wahren Gott.

– Ihre kasuistische Theologie ist schwach, erwiderte die Prinzessin ironisch; wenn die Lust allein die Sünde macht, dann sündigen die meisten Prostituierten nicht.

– Ich sehe keine Tugend, nur Stolz in Ihrem Verhalten, antwortete der italienische Prälat trocken. Wenn es sich an Stelle eines unangenehmen Menschen um einen jungen Mann gehandelt hätte …

Er wandte sich an Nebo.

– Gemach, Ehrwürden, sagte Nebo, niemand in der Welt wird die Prinzessin Riazan ungestraft beleidigen; da Ihnen Barmherzigkeit fehlt, haben Sie Scharfblick.

– Sind Sie Freimaurer?

– Ich bin römischer Katholik.

– Und Sie wagen mir zu trotzen!

– Und ich wage es, auf einem Felde, das ich besser kenne als Sie; Sie haben die Weihe des Sakraments empfangen, andere haben die Weihe des Geheimnisses empfangen. Es würde vielleicht in einer heiligen Laienschule ebenso viel Lichter der Vernunft geben, als es übernatürliche in der römischen Schule gibt; kirchlich stehen Sie über uns durch die Weihe und die Tugenden; was die Geheimlehre angeht, so ist das eine andere Sache. Die Geheimnisse, die Sie die Ehre haben zu zelebrieren, würde ich Ihnen vielleicht erklären.

Bei diesen Worten, die mit einem Ausdruck gesprochen wurden, den man an Nebo nicht kannte, wandte sich der Priester zu Paula und sagte mit wahrer Demut:

– Verzeihen Sie mir, Prinzessin, falsch über Sie geurteilt zu haben; ich bitte Sie inständig um Entschuldigung! Herr Nebo hat richtig gesagt, mir haben Scharfblick und Barmherzigkeit gefehlt. Und da ein Priester niemals Aergernis geben darf, schulde ich Ihnen eine Erklärung.

– Bevor ich das geistliche Gewand anzog, habe ich das Leben der Welt gelebt, und im Priesterstande habe ich die schmerzliche Zweifelsucht eines bekehrten Sünders bewahrt, jedoch ohne mich über die Menschheit und mich selbst einer Illusion hinzugeben. Das Gute für das Gute zu erhalten, kann man nur von wenig Seelen hoffen, die alle in der Ausnahme sind; man muss also (es ist gefährlich, das gebe ich zu) eine Tugend aus einem unvermeidlichen Laster herausziehen. Jede Woche begeht diese Gesellschaft dieselben Sünden, die sie heute abend begehen konnte; wieviel Kirchen und Abteien, deren Gründung ein Verbrechen ist, das ein Machthaber so zu büssen gedacht hat; die Koketterien dieses Abends werden sich nächstens in Gebete auflösen für die Bekehrung und das Heil der Spender.

Und sich zu Nebo wendend:

– Und Sie, starker Geist, den ich hier nicht sofort erkannt habe, wie ich diese Tugend verkannte, und er grüsste Paula, würden Sie nicht wie ich verkünden, in den Grenzen der Barmherzigkeit, dass es einen Grund gibt, der die nichtigen Zweifel auflöst und alle grossen Erbauungen krönt, derselbe, der in der Schöpfung erscheint: die Allgewalt des Zweckes?


 << zurück weiter >>