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I.
Vorspiel. Das Standbild des Eros

Der Frühling von Paris hat die Anmut einer Genesenden und das Lächeln einer Wöchnerin; der winterlichen Aufgeregtheit folgt eine müde Entkräftung; der alte Pan herrscht siegreich über die Stadt der Kunstfertigkeit, und in den Gärten des Weichbildes bezeugt der Strauch, prahlerisch wie ein Soldat die Eroberung, bezeugt der Grashalm zwischen dem Pflaster der Höfe stolz die Verjüngung der Erde.

Von der gewölbten Fensteröffnung des Ateliers eingefasst, einem impressionistischen Aquarell gleichend, belebte sich das Gärtchen mit dem dünngesäten Rasen unter der Bestäubung einer bleichen Sonne. Neben einem Apfelbaum, der von seinen weissen Blüten ganz besternt ist, führte die Hausnatter ihren zitternden Mäander spazieren.

Nebo stand, die Arme gekreuzt, den Rumpf zurückgeworfen, mit einem Fusse auf dem Querholz des Gestelles und prüfte mit geistiger Anspannung ein Standbild, das er eben befeuchtet hatte. In grauem Trikot, während das Spitzenhemd sich über den Kniehosen bauschte, schien er zwischen den weissen Mauern des Saales ein Quattrocentist zu sein; das Werk aber datierte vom Ende einer Kultur und vom Verfall einer Rasse. Die Zwischenfelder des Parthenon, nicht mehr als die florentinischen Bronzen, hatten die Patenschaft dieses Werkes, wo die Idee, die Form verletzend und den Daumen verdrehend, literarisch modelliert hatte, ohne sich um die reine Plastik zu kümmern. Uebersinnliche Anstrengung eines kühnen Träumers, der einen Begriff durch einen menschlichen Körper darstellt, eine abstrakte Mythe in runder Statue schreibt.

Nackt und aufrecht, einen Arm in befehlender Gebärde halb ausgestreckt, den andern weich in die Hüfte gestützt; die Bildhauerfassung des »Vorläufers« Johannes der Täufer von Leonardo da Vinci, ein Gemälde, das Peladan überaus liebte. im Louvre; jedoch mehr Nerven unter weniger Fleisch, mit Verstärkung der lächelnden Ironie. Hier war der sphinxhafte Ausdruck nicht auf die Augenwinkel, nicht auf die Mundwinkel begrenzt: der ganze Körper lächelte in allen seinen Gelenken, in allen seinen Falten, auf allen seinen Flächen. Eine anziehende Ironie entkleidete diese Nacktheit, sie mit geheimnisvoller und böser Unruhe verschärfend. Dieses Standbild hatte ein unerklärliches Helldunkel, trotzdem es bestimmt geformt war, und in der Bewunderung, die es erregte, spürte man Sünde. Kein hermaphroditisches Zögern in den Formen selbst, es war ein wirklicher Mann, und doch bei dem doppelgeschlechtlichen Charakter der Aufregung hätte man die eine Hälfte für den Körper eines Jünglings und die andere für den Körper eines Mädchens gehalten, die mit wunderbarer Kunst senkrecht aneinandergesetzt waren. Während die rechte Seite sich stolz aufrichtete, in mantegnischer Härte, mit bestimmtem Armmuskel, mit gerader Hüfte, mit fester Kniekehle, bewegte die linke, nach Correggio geformt, die Hüften, in Ermattung nachgebend. Diese glückliche Zwitterschaft zeugte von einer so zauberhaften Kunstfertigkeit; der Punkt, der das Werk des Lichtes von der grotesken Fehlgeburt trennte, war so eingehalten, dass man Furcht empfand, die aufregende Vision könnte sich durch plötzliche Verwandlung in ein Schreckbild auflösen. In diesem doppelstirnigen Idol, dem priesterlichen Androgyn, der das »Ich liebe dich« den Lippen der Jungfrau wie den Lippen des Kriegers entlocken konnte, schlummerte etwas Ungeheuerliches.

Der Künstler, ebenso unbeweglich wie sein Werk, schien mit ihm zu sprechen. Unterlag er dem Zauber?

Sein Antlitz spiegelte Gedanken des Jenseits wider, die das gegen die Regeln ausgeführte Meisterwerk übertrafen.

– Sie haben lange gezögert, mich aus der Verbannung zurückzurufen, sagte eine Stimme, welche die Erregung dämpfte.

Als sich Nebo umdrehte, sah er die Prinzessin Riazan vor sich, in weissem Frühlingskleide.

– Liebe Schmeichlerin! rief der junge Mann gerührt aus und drückte die beiden behandschuhten Hände, die sie ihm reichte. Nebo ist also ihr Wahlvaterland?

Sie blickten einander lange an, wie von einer Trennung zurückgekehrt, mit dieser Prüfung, die eine Wiederinbesitznahme ist: man vergleicht seine Erinnerung und die Gegenwart, glücklich, sich als dieselben wiederzufinden.

Sie hatten sich doch verändert oder besser verwandelt. Das junge Mädchen, etwas erschlafft, mit feuchtem Auge, von langsamer Gebärde, war empfindsamer geworden; und der Platoniker, mit lebhafter Farbe, ritterlichem Benehmen, nicht so bitterem Lächeln, hatte sich verjüngt. Nach dem gegenseitigen Magnetismus des Lebens und des Verkehrs sahen sie sich wieder: Nebo war männlicher und Paula weiblicher geworden.

Er warf eine Bahn Samt auf einen Schemel, setzte sie darauf und blieb aufrecht vor ihr stehen:

– Haben Sie, meine Schülerin, in diesen vier Ferienmonaten, an die Lehren der Umschiffung Die Umschiffung der Hölle von Paris, die Peladan im Roman »Weibliche Neugier« schildert. gedacht?

Paula blickte ihn offen an und legte ihre Hand auf den Arm des Künstlers, um die Regung des Unmutes zurückzuhalten, die sie voraussah:

– Ich habe an den Lotsen gedacht. Runzeln Sie nicht die Stirne; lassen Sie diesem Augenblick seine Süssigkeit, seinen aufrichtigen Ausdruck meinem Gedanken. Zudem haben Sie dieses Ergebnis erwartet, oder ich begreife Sie nicht. Die Schülerin hat sich wohl der Aufgaben erinnert, aber sie hat nichts auswendig behalten als den Lehrer … Oh, die Scham hört nicht, wenn die Liebe nicht als Dritte im Bunde ist! … Ja, die Umschiffung endigt mit Nebo, dem Hafen, wo bei ausgeworfenem Anker mein melancholischer Gedanke vier lange alltägliche Monate die heldischen Nächte vermisst hat. Mein einziges Vergnügen war es, allein geblieben, mir Geschichten zu erzählen, die unsern Abenteuern glichen: da traten Sie dazwischen, sowohl mitfühlend wie richtend, und immer als Heiliger Georg im schwarzen Gewande. Ich liebe Ihr Erstaunen von eben nicht … Auf dem hässlichen Hintergrunde der Sitten des Zeitalters heben Sie sich allein ab, und in den Augen des Weibes wie in denen des Androgyns leben Sie allein; denn Sie haben die Güte und Sie haben die Kraft, mächtiger Freund … Ja, machen Sie mir die zärtlichsten Augen, Nebo, denn Sie sind erhört; ich habe über die grossen Worte nachgedacht, mit denen Sie mich von Anfang an betäubt haben; sie sind an mir haften geblieben, sie haben in mir geblüht; Ihr Einfluss macht mich fruchtbar, Ihre Führung erhebt mich; Sie sind für mich der Ansporn, die höhere Welt zu erreichen; Ihnen zur Seite schreiten, heisst wachsen. Zauberer, die Verwandlung vollzieht sich, und ich werde bald die kleine Diotima sein, die Sie haben wollen … aber (und ihre Stimme schmeichelte) Sie dürfen mich nicht mehr so lange von sich verbannen.

Nebo zog die Augenbrauen in die Höhe, als er sah, dass die Ansprüche dieser Frau nicht zu überwinden waren, sie vielmehr ihre Macht ausübte.

– Oh, wie schwer sind Sie zu befriedigen, rief die Prinzessin aus. Wie soll man bewundern, ohne den Wunsch zu haben, sich des bewundernswerten Gegenstandes zu erfreuen? Stehe ich Ihnen gegenüber, so verlassen mich die kleinen Schwächen der Frau; weder kindisch noch gefallsüchtig, finde ich mich zur Hälfte auf dem Sockel, den Ihnen meine Phantasie gesetzt hat, und Sie stürzen mich herunter!

– Nein, liebe Seele, Sie werden darauf bleiben, und bald noch fester stehen; aber ich verteidige Sie gegen die Lust und allzu süsse Rührungen. Auf zum Studium, Paula, von neuem! Der auserlesene Zustand, in dem wir uns befinden, wird nur dauern, wenn ich Sie in den andern Styx tauche. Um auf bessern Gewässern zu schwimmen, entfaltet der Nachen der Umschiffung seine Segel. Nach Ihrer Gymnasialbildung in die Philosophie! Von der Sittenlehre zur Seelenkunde, meine Schülerin! Der Vorhang, der über dem Schauspiel der Triebe gefallen ist, wird sich über der Frage der Gefühle erheben. Hier sind keine materiellen Greuel mehr; der Ekel wird nur unter dem Versuch des Durchdringens hervorbrechen; der schlechte Ort, das ist der Garten Armidas Tassos »Befreites Jerusalem«, 16. Gesang., und das Girren Romeos und Julias orchestriert den grossen Schrecken!

– Ach, Nebo, wie traurig ist es um Ihren Mut bestellt …

– Man muss alles wissen oder nichts wissen; Sie würden unter einer halben Verderbtheit zu sehr leiden.

– Was kann es noch Scheussliches geben, das ich nicht kenne? Haben Sie mich nicht in den Kulissen des Verbrechens und des Lasters spazierengeführt Peladans Roman »Weibliche Neueier«..

– Es gibt noch die Kulissen der Leidenschaft; wenn Sie die »Nächte« von Musset lesen, müssen Sie zwischen den Zeilen lesen, damit Ihre Empfindlichkeit stirbt, wie Ihre Begierde gestorben ist.

– Ich werde Ihnen folgen, um mit Ihnen zusammen zu sein, nicht mehr des Schauspiels halber: die »Neugierige« ist müde.

– Diese Umschiffung verwirrt mehr, als Sie sich vorstellen, ein Fegefeuer, in dem man büsst, selbst bevor man sündigt; in diesem Reiche nimmt die Seele mehr teil und auch die Verirrung.

– Ich wünschte, meine Erziehung wäre beendigt!

– Im Laster und im Verbrechen? Beendigt, während Sie noch nicht versucht worden sind? Sind das Lockvögel für eine etwas hochstehende Seele, das Hurenhaus und das Messer? Sie müssen das Café sehen, das Sprungbrett der Macht, und die Kneipe, das Vorzimmer des Ruhmes; das stolze Leben, das im Diplomatenkleid geführt wird. Seine Majestät das Volk, das seinen Dreck auf dem Thron des heiligen Ludwig macht; der Handel mit weissen Sklavinnen in den Händen von dekorierten Frömmlingen und Steuerzahlern; das Liebes-Kontor, dem Auswärtigen Amt benachbart; der Don Juan des Montmartre, Kumpan des Polizeipräfekten; das Heer des Verbrechens, von der Politik besoldet; der Grosshandel, ein Kuppler der Venus Pandemos; Rudenty Peladans Roman »Weibliche Neugier«. Minister und Cora Peladans Roman »Weibliche Neugier«. mit einer geschlossenen Krone; Thamar Peladans Roman »Weibliche Neugier«. ihren Fächer in die Wagschale werfend, wenn die Interessen der Völker abgewogen werden; und auf einem Gelage von Emporkömmlingen die lateinische Kultur entehrt und vernichtet durch die Prostituierten, die sie zu unsäglichen Schrecken führen. Beendigt? Ei, Sie kennen nur die Menschheit der Strasse und des Ecksteins; im Zimmer werde ich Ihnen den Menschen der Leidenschaft zeigen, und zwar in Ihrer eigenen Welt.

– Die Leidenschaft geht mit unbestreitbarer Idealität zu Werke, und die öffentliche Meinung verdammt sie nicht mit derselben Verachtung wie die Ausschweifung.

– Weil sie das höllische Feuer enthält, das sie büssen lässt; weil der Leidenschaftliche, der mit berauschenden Tuberosen bekränzt einschläft, mit eisernen Ketten beladen aufwacht; weil die Zange der Eifersucht, die so plötzlich rot wird, oder die eisige Gleichgültigkeit immer nahe Eumeniden sind. Ein Wüstling, der getrunken hat, trifft ein Mädchen: wenn das Mädchen gesund ist, bleibt die Hurerei straflos. Eine Leidenschaft dagegen endet mit einer Folter: da ist der Grund, weshalb die öffentliche Meinung Nachsicht mit dem romantischen Menschen hat. Stellen Sie sich zwei durchgegangene Pferde vor: das erste, das sich beruhigt, wird vom zweiten mitgerissen; sie stürzen und verletzen sich. So umschlingen sich die Liebenden, dann ersticken sie sich und ihre Küsse endigen als Bisse.

– Sollte denn die Leidenschaft toll sein?

– Buchstäblich, aber so allgemein, dass man sie höflicher bezeichnet. Hören Sie gut zu, Prinzessin! Der Dualismus, der aus einer falschen übereinstimmenden Ansicht geboren wurde, hat den grossen persischen Irrtum des Ahriman, die christliche Erfindung des Satans, des Gegners Jesu, veranlasst; und auch den grossen psychologischen Irrtum: dass Körper und Seele Gegensätze seien. Die Abwesenheit Gottes in einer Seele, in einem Werk, in einer Epoche: das ist der Teufel, das heisst die Abwesenheit des Lichtes. Die Dichtung hat darauf ein Tierbuch mit Arabesken ausgeschmückt und darin die Metaphysik eingehüllt. Instinktiv möchten Körper und Seele in guter Freundschaft bleiben; denn ihre Disharmonie erzeugt Schmerz und ihre ganze Feindschaft ist ihre Verschiedenheit. Dem Wesen nach steht der Körper auf den Füssen, wie die Seele Flügel hat. So stellt es der geflügelte Stier von Assyrien dar, der durch seine schweren Füsse verhindert wird, seine Flügel zu entfalten; in seinem Gang gehemmt wird durch seinen dauernden Wunsch, davonzufliegen: das Hin- und Herziehen, das sich aus dem Adlerstreben und dem Stierzwang ergibt, nennt sich menschliches Leben. Glauben Sie mir, der Mensch ist kein Zweikampf, wohl aber ein Einzelner mit doppelter Polarisation; unter den Romanschreibern sind die einen noch in der Lüge des Dualismus, und die andern, wie Herr Zola, vereinfachen die Frage, indem sie einen der beiden Ausdrücke streichen. Für mich sind seelische Erscheinung und körperliche Erscheinung zwei Irrtümer in der Menschenkunde: es gibt nur körperlich-seelische Erscheinungen. Leider ist die Seelenkunde als Wissenschaft nicht begründet und die Physiologie den Schriftstellern völlig unbekannt. Weiss Herr Zola, der Romancier mit wissenschaftlichen Ansprüchen, dass die Arbeiterin, die gesunde Eierstöcke besitzt, bei der Arbeit singen wird? Dass die Blasiertheit von der Schwächung der Hoden, und unaufhörliches Geschwätz von der Reizung der Drüsen kommt? Für den Physiologen hat der faule Arbeiter zu grosse Beckenmuskeln; die Unerschrockenheit ist eine Reizung des Sonnengeflechts, und Weichheit des Charakters hängt mehr oder weniger vom Kalk in den Knochen ab. Was ist Eigensinn? Verhärtung der Gehirnhäutchen. Bescheidenheit oder Eitelkeit hängen von der Gesundheit des Steissbeines ab, und das schlaffe Brustfell gibt die Demut des Herzens eines heiligen Labre Benoit Labre, kasteite sich, starb 1783.. Wenn die Mündung des Herzens gesund ist, ist man dienstfertig; grössere oder kleinere Ansprüche kommen von der Tätigkeit der Lymphgefässe. Die Dicke des Herzbeutels gibt einem Geizhals und Wucherer wie Gobseck Gestalten Balzacs. die Gefühllosigkeit; man ist gesellig wie der lustige Handlungsreisende Gaudissart Gestalten Balzacs. nach dem Zustande der Bauchgegenden. Die Falschheit einer Base Bette Gestalten Balzacs. entspricht der Verengung der Herzmündung, und das Geschwätz der Amme in »Romeo und Julia« deren Erweiterung! Die Freigebigkeit hängt mit der Lungenschlagader zusammen; die Höflichkeit entsteht aus der Gesundheit der Stimmritze und des Kehlkopfes. Der Geiz des Grandet Gestalten Balzacs. ist nicht möglich ohne die Härte der Schliessmuskeln. Man ist gerecht oder ungerecht, je nachdem die Herzklappe gut oder schlecht schliesst. Die Geschwulst der Schildknorpeldrüse deckt sich mit der Vermessenheit des Obersten Bridau Gestalten Balzacs., und die schlaffe Pfortader bestimmt die Trägheit des Vetters Pons Gestalten Balzacs.. Mut und Furcht haben ihren Sitz in den Eingeweiden; Ruhe und Zorn in der Galle; Trauer oder Freude in den Nieren, und Poiret Gestalten Balzacs. ist pünktlicher Beamter, weil seine Milz gut ist …

– Genug seziert! Sie sind nicht mehr der Nebo, den ich liebe, wenn Sie wie ein überlegener Student der Medizin sprechen. Werden Sie mir sagen, wenn ich eigensinnig bin: »Prinzessin, die Häutchen Ihres Gehirns verhärten sich?« Und wie wird die menschliche Würde herabgesetzt, wenn man annimmt, dass ich eine Lügnerin werde, sobald sich die Herzmündung verengt; dass ich schwatzen werde, sobald sie sich erweitert!

– Und rechnen Sie den Willen für nichts, die heilige Fähigkeit, welche die organischen Gesetze bändigt und den Körper nach ihrem Gefallen beugt? Wenn Frau von Serizy Gestalten Balzacs. die Gitterstangen des Gefängnisses abdreht, wenn Sombreval Gestalten Balzacs. aus dem Seminar ausbricht, ist es die Seele, die den Trieb reitet. Die Gefühlskräfte bieten der Abmessung Trotz; ihre Wundertätigkeit findet jedesmal statt, wenn ein Wesen glaubt oder unermesslich liebt.

– Erklären Sie mir vor allem, Nebo, die eigentlichste Erscheinung der Leidenschaft. Was ist lieben?

– Lieben? Ein allgemein anerkannter Wahnsinn, eine Verirrung der Wollust; ich werde der Trabant dessen, der auf mich den Sternen-Einfluss gewonnen hat, sagt Paracelsus. Jeder Mensch wird von einem Norden angezogen, der sein Schicksal ist: eine Frau tritt dazwischen, die ihn abweichen lässt, wie der Magnet die Magnetnadel. Die geschlechtliche Anziehung ist eine magnetische Erscheinung, ein lieblicher Zauber oder eine schmerzliche Behexung. Es gibt keine Arten in der Liebe, sie könnte nur verschieden sein im Grad und im Gegenstand: Stendhal hat sich geirrt, als er die Bewunderung zum Erzeuger der Liebe machte. Sie haben in der Kneipe Ligneuil Peladans Roman »Weibliche Neugier«. gleichzeitig seine Liebe wie seine Verachtung für seine Geliebte bekennen hören. Menschen von hoher Kultur gestehen sich die Hässlichkeit oder die Dummheit einer geliebten Frau.

– Und die berühmte Kristallisation? Stendhal, Ueber die Liebe.

– Heisst wissenschaftlich: Selbstmagnetisierung. Da ist ein Herr Charcot, der nicht zugeben will, daß der Hypnotismus eine Magnetisierung ist, von welcher der Kranke alle Fluidum-Unkosten trägt; er setzt zwischen die beiden Augen der zu behandelnden Person einen glänzenden Punkt, der ein konvergierendes Schielen hervorruft, von dem Fluidum ausstrahlend, das sich am Gegenstande selbst bricht. So erzeugt der Liebende, seine Einbildungskraft auf das bezaubernde Wesen richtend, ein konvergierendes Schielen seiner Gedanken und hypnotisiert, das heisst schläfert ein, jedes andere Gefühl als das seiner entstehenden Liebe.

– Der höhere Mensch wäre also derjenige, der von seinem Norden nicht abgewichen ist?

– Geben Sie Acht, Paula! Der Mensch ohne Leidenschaften und der passiv gewordene Mensch kommen von selbst herunter; es ist kein Ruhm, unfähig zu sein oder sich zu entmannen. Die Kraft seiner Leidenschaft eindämmen, sie auf ein ideales Ziel hin kanalisieren; kurz, sie in heldenhafter Anwendung beherrschen: das ist das Grossartige!

– Die Ueberlegenheit würde also die Versuchung voraussetzen?

– Sie werfen hier das Geheimnis der Ursünde auf. Oeffnen wir also die Genesis, nach der Geheimlehre. Mitten im Eden war eine beschriebene Säule aus Holz, die sich auf die Erkenntnis des Guten und des Bösen bezog. Gott sprach zum Manne: »Nähre deinen Geist von dem, was auf allen Säulen des Gartens dargestellt ist, nur nicht von der Säule des Guten und des Bösen, sonst stirbst du im Leben des Paradieses.« Adam liess es sich gesagt sein; aber die neugierige Frau, kaum geboren, hörte auf den listigsten der Seraphim, der also sprach: »Ja, ihr werdet aus dem Garten gejagt werden und ein elendes Leben führen, wenn ihr die verbotene Säule lest; aber um diesen Preis werdet ihr unsterblich sein, von einer höheren Unsterblichkeit, und ihr werdet das göttliche Wissen haben.« Und die Frau las die Säule und liess Adam sie lesen. Ihr Schicksal war entschieden; sie hatten die schmerzliche Einweihung dem friedlichen Eden vorgezogen. Gott gab ihnen Körper für das vegetative Leben und das irdische Dasein begann.

– Welche Lesarten des Katechismus! Der Baum des Guten und Bösen eine hölzerne Tafel mit Inschrift; der Apfel eine metaphysische Formel und die erste Sünde die heiligste Handlung der Menschheit.

– Halten Sie die Ursünde nicht für eine besondere Sünde des ersten Paares; niemand kann geboren werden, ohne sie zu begehen. Gott wirft uns nicht gegen unseren Willen ins Leben: wir treten darin ein aus freiem Antrieb. Der Instinkt der Seele, noch im Feuer des Unbedingten geschmolzen, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, heisst zur Individualisierung kommen, und wenn es durch tausend Leiden ginge: die ewige Persönlichkeit ist eine so unermessliche Wohltat, dass Gott sie nur unter der Bedingung bewilligen konnte, dass sie nachher durch die Leiden verdient wird; so sind Krankheit und Verzweiflung die schwachen und rückständigen Zahlungen dieses Unschätzbaren: die ewige Wesenheit.

– Dieses von der Mehrzahl der Lebenden verfluchte Leben ist gebilligt worden und übersteigt einen solch hohen Preis? Sie machen mich bestürzt, Nebo!

– Ja, Paula, »Sein«, das ist die einzige Wichtigkeit, weil Gott als das Sein sich erklärt; aber die Wesenheit wüsste nur das Glück zu finden im Bewusstsein und der Liebe zu sich selbst. Gott liebt sich und offenbart sich selber durch die Schöpfung, während der Mensch unaufhörlich das Bedürfnis hat, die Probe seiner Persönlichkeit durch andere zu machen. Und wie sollte er sich lieben? Seine Schönheit, so unvollkommen und kurz; seine Kraft, den Unbilden des Wetters ausgesetzt; sein Verstand, so leicht verdunkelt – lassen ihm von Liebenswertem nur den doppelten Widerschein des Unbedingten, das er einschliesst: die Geistesschöpfung und die Barmherzigkeit. Der Mensch, Gottes Nachahmer, das heisst Schöpfer, Heiliger, sein Herz bis zur Ursache erhebend; der Künstler, der es in einem Werke ausdrückt, wird immer selten sein, und das Menschengeschlecht, ohnmächtig, um den Geist zu bitten und sich in der Welt der Formen zu bestätigen, bleibt ausschließlich leidenschaftlich. Mag er sich anstrengen, ehrsüchtig, um zu herrschen; geizig, um Schätze zu sammeln; leckerhaft, um sein Empfindungsvermögen auf die Magengrube zu verweisen: diese Menge, die er schleppt; dieses Gold, das er anhäuft; dieser Frass, mit dem er sich vertiert, sind abscheuliche Proben seiner Wesenheit. Der allgemeine Mensch kann nur von der Liebe eine berauschende Bestätigung seines Selbst fordern; wenn er eine Frau in seinen Armen sagen hört: »Das ist der Himmel« oder »Du bist mein Gott«, täuscht er einen edlen Wunsch und befriedigt in niedriger Weise ein Gelüst nach höherem Wesen. Es gibt nur ein Gefühl allein, Paula, das alle andern erzeugt: das ist der Stolz; die Nabe des Rades der Leidenschaft, von der alle andern strahlen, und ich erkläre die Leidenschaften als schuldige Bejahungen der menschlichen Persönlichkeit.

– Oh, so erklären, das ist freisprechen.

– Nein, das ist die Bestimmung durch die Erscheinung sehen und zum Beispiel von den tollen Formen der Liebe das hohe Bedürfnis der Ausdehnung, die sie erzeugt, freimachen.

Paula unterbrach ihn.

– Ist die Leidenschaft nicht aus der heutigen Gesellschaft verschwunden?

– Ach, Eros folgt der Mode! Da Almaviva nie den Schatten seines Mantels, der von einem Degen gehoben wird, in Ihrer Strasse gezeigt hat; da die silbernen Sporen Silvios nie das nächtliche Gras bei Ihrem Schlosse erhellt haben; kurz, weil die Gesellschaft nicht mehr dekorativ ist und Sie die Liebe im Lichte poetischer Feenmärchen sehen, glauben Sie, dass der Mensch sich geändert hat? Unter dem Vorhemd des Weltmannes, unter dem quäkerhaft zugeknöpften Ueberrock mahlt die alte Musikdose die ewigen alten Weisen. Die Liebe bestätigt sich bei jeder Zeitungsnotiz durch Vitriol und Messer; keinen König gibt.es mehr noch einen französischen Hof, und doch stirbt der Anwalt, der den Purpur zu nahe gestreift hat, durch eine Frau. Die Gesetze sind von der Mehrheit gemacht; die Mehrheit von der Kammer, die Kammer von den lokalen Leidenschaften. Sie werden von den Romantikern genarrt; diese bewundernswerten Künstler haben die Leidenschaft gemessen, die Sünde gesiebt und das Verbrechen purpurn gefärbt; und jene Porträts gleichen nicht den Originalen … Man liebt nicht mehr, denken Sie; man liebt anders, Prinzessin; die Liebe ist ein Verhängnis, eine Kugel am linken oder rechten Fuss; vom Krampf oder Müssiggang verlockt, verewigt der Mensch seine eigenen Irrwege aus verschiedenen Gründen. Die vorzeitige Ohnmacht wird allgemein; vertreibt die Ohnmacht die Begierde? Und wenn die Begierde beseitigt ist, bleibt da nicht die Eitelkeit, und schliesslich, in Ermangelung dieser, der immerwährende Schlendrian? Sehen Sie die Geschichte: der Wassertropfen, der den Becher des Ereignisses überlaufen lässt, ist immer gefühlvoll. Die Einnahme Algiers, ein Schlag des Fächers; und Rossbach antwortet auf ein Epigramm. Meine arme Prinzessin, Sie kennen die Geschichte nicht! Wo lehrt man sie übrigens? Welches Handbuch Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München, C. H. Beck, 1919: gekrönt mit dem Strindbergpreis. wird Richelieus Unversöhnlichkeit durch seine Verstopfung und seinen Harngriess erklären? In welcher Erziehungsanstalt wird man das Unrecht der Maria Leczinska gegen Ludwig XV. aussprechen? Napoleon, der Abenteurer, heiratete eine Abenteurerin, um den Oberbefehl für Aegypten zu erhalten; und das kaiserliche Heldengedicht, das mit der Prostitution angefangen hatte, fährt fort mit der Räuberei und einem abendländischen Thugismus. Was sieht da der Schüler? Regimenter, die sich über Grenzsteine wälzen, die Diplomaten versetzen. Die Geschichte ist eine so furchtbare Schule des Verderbens, dass man nach einstimmiger Ansicht den Ausschluss der Oeffentlichkeit erklärt hat. Man lehrt nur die Wahrsprüche der Geschworenen, das heisst die Verträge; die Verhandlungen verschweigt man; die Zeugenaussagen unterdrückt man. Niemand sieht, dass die Bartholomäusnacht nichts mit der Religion zu tun hat, sondern eine demokratische Bewegung gegen den Adel ist; und das Publikum war bestürzt über die Ausstellung der Aktenstücke des revolutionären Prozesses, der von Taine aufgehoben wurde … An Ihrem Erstaunen, liebe Prinzessin, sehe ich klar, dass Sie ebenso unwissend sind wie ein Unterrichtsminister und der Narr der Hefte einer Schülerin von Saint-Denis: Sie bemerken nicht den Roman in der Geschichte. Indessen, Ninos ist gestorben, um in der Wirklichkeit eine komische Oper, die Königin eines Tages, gespielt zu haben; Ilios ist in Asche gelegt worden, um eine Hahnreischaft zu rächen; ein Gatte rühmt sich nach dem Trunke seiner Frau, und Rom wird Republik; ein Decemvir verliebt sich in eine Näherin, und das Decemvirat stürzt; Curius, statt einem Mädchen Liebe zu schenken, erzählt ihr seine kleinen Händel und Catilina scheitert; Oktavius weigert der Fulvia den Beischlaf: Krieg mit Antonius; Titus erhält das Kaiserreich als Montyon-Preis, weil er auf seinen alten Vater Rücksicht nahm; Commodus kommt um, weil er ein Papier hat verschleppen lassen. Unter Constantius wird eine Steuer aufgehoben, weil eine Frau sich mit Zustimmung ihres Gatten hatte preisgeben müssen, um sie zu bezahlen; Jovianus liest laut einen Brief des Honorius: Rom wird von Alarich geplündert. Alle Siege des Beiisar sind vergessen, weil er als Hahnrei unzufrieden zu sein wagte wie Herr von Montespan.

– Wenn man Ihnen glauben sollte, so wäre die wirkliche Geschichte der Völker der Roman einiger Persönlichkeiten.

– Nichts anderes! Tonkin ist der Ehrgeizroman des Herrn Ferry, und der Peloponnesische Krieg hatte keinen anderen Grund, als dem Perikles das damalige Portefeuille zu erhalten. Wie die jungen Mädchen ihre grösste Illusion verlieren, wenn sie einen Priester in die Garderobe gehen sehen, so stellt sich das einfältige Publikum die ersten Personen der Geschichte befreit von Bedürfnissen vor, denen die Häupter unterworfen sind! Seinem Genius folgend, gibt der Mensch seiner Leidenschaftlichkeit die Richtung, er heiligt sie oder macht sie heldisch, aber sie bleibt wirkend selbst unter der Kutte, selbst auf dem Throne … Der Wilde, der einem Nebenbuhler ein Weibchen streitig macht, ist derselbe Mensch wie der Musketier, der seinen Degen zieht, weil man den Arm vor ihm angeboten hat. Die Entartung einer Gattung ändert nicht mehr ihren biologischen Zustand, als das Erschlaffen des einzelnen ihn nicht von den Gesetzen befreit, die seine Reihe beherrschen.

– Der »höhere« Mensch, antwortete die Prinzessin, bewahrt also die Elemente in sich, um wieder gewöhnlich zu werden.

– Die menschliche Ueberlegenheit hat nur zwei Typen, Paula: den Vernichter oder den Zauberer; der den Tod gibt und der das ewige Leben verkündet: Nimrod und Orpheus. Der eine tritt, beraubt und mordet die Völker; er schreibt seinen Namen mit Blut, und die Menge vergisst ihn nicht; hat Bonaparte, der Würger, nicht seine Säule in der Stadt, die sich für die kultivierteste hält! Der andere, Oberpriester und Dichter, der erhabene Werber der idealen Legion, der ausgezeichnete Führer aller Geistigkeit, sagt der wilden Menschheit das Wort der Liebe: nachdem man ihn verhöhnt hat, tötet man ihn und vergisst ihn. Das grosse irdische Drama spielt sich zwischen den Nachkommen des Nimrod und den Söhnen des Orpheus ab; und die Menge schwankt nicht, wie der antike Chor, zwischen den beiden Mächten: sie liebt den Geruch des vergossenen Blutes; sie liebt den Krieg und das Hurenhaus, die beiden menschlichen Unrate. »Der Schweiss der Völker wird den Mörtel meiner Bauten netzen, und ihr Aas wird meine Felder düngen«: das ist das Credo von Nimrod, Alarich, Karl V., Bonaparte, Bismarck. Die Nachkommen des Orpheus denken nicht, dass sie weniger Pflichten haben, weil sie mehr Rechte besitzen; sie geben zuerst dem Pöbel das Glück; denn nur der Pöbel kann glücklich sein; sich behalten sie den höchsten Adel des Schmerzes vor. Dem Volk der feste, bestimmte und befriedigende Katechismus; uns den sinaitischen Wahnwitz der Geheimlehre; uns die langen Betrachtungen der Gnosis, dem Volke Karussell und Feuerwerk; dem Volk das Tier mit zwei Rücken und seine Befriedigung; uns den Traum der unmöglichen Lieben; ihm die Gesundheit und alle Früchte der Erde, uns das Fieber und die Säule der Erkenntnis des Guten und Bösen.

– Ihre Abstammung von Orpheus hat eben in Ihren Augen geleuchtet, Nebo, und obgleich kein Wunder davon zeugt, erscheint mir Ihr Genius; aber so brüderlich unser Band auch sein mag, unerschrockener Fährmann, in Ihrer chironischen Chiron, der heilkundige Centaur, der Lehrer des Achill, der Goethes Faust durch die klassische Walpurgisnacht trägt. Erziehung der Prinzessin Paula liegt ein Bedürfnis nach Ausdehnung, der Wunsch nach einem Begleiter von Ihrer Grösse; eine Zärtlichkeit, die viel gibt und selbst empfangen will; und die Erfindung einer Eurydice.

– Wie der grosse Cytherer, der Lotse einer Fahrt ins Kolchis der Leidenschaften, habe ich Ihren Dunstkreis erzittern lassen; und Ihre Seele, wie die Argo, die unbeweglich auf dem Gestade blieb, stieg in die Fluten der Neugier Peladans Roman »Weibliche Neugier«.; ich habe Sie, unbewusster Androgyn, der argonautischen Untätigkeit in Lemnos entrissen; und jetzt, da ich durch die Statue den Zorn der Mutter des Eros beschwichtigt habe, werde ich die dreifache Hekate anrufen, damit sie uns den dunklen Wald der menschlichen Gefühle erleuchte. Wie der Thraker mit seinen Gesängen die Stimme der Sirenen übertönte, werde ich Sie hindern, die flüsternden Stimmen der Sünde zu hören: wir sind hier noch an den stygischen Ufern. Werde ich Sie zum Leben des Androgynen zurückführen können? Eurydice, Eurydice, wirst du dich nicht umsehen, bevor du die letzte Probe der Einweihung hinter dir gelassen hast?

Und das Gesicht des Träumers betrübte sich durch eine Vorahnung.

– Verjagen Sie diesen schimpflichen Zweifel, rief die Prinzessin lebhaft, und lassen Sie mich erstaunen, dass Sie nach Art des Thrakers, Sohn Apollos, kein Werk des Lichtes vollenden.

Die Züge Nebos spannten sich, eine der Kühnheiten ausdrückend, die man nicht entwaffnet.

– Der Name des chaldäischen Hermes kann nicht unter einen Wahlanschlag geschrieben werden; das hiesse das Andenken der Götter preisgeben; vor fünftausend Jahren hätte ich die Tiara Siehe Peladans Drama »Babylon«. getragen; vor fünfhundert Jahren wäre ich Maler oder Kondottiere Siehe Peladans Drama »Der Prinz von Byzanz«. gewesen: heute ist die Pflicht meiner Arme, gekreuzt zu werden, die Pflicht meiner Lippen, zu speien; die Pflicht meiner Nächstenliebe, zu verwünschen. Möchten die Knechte der Pharaonen etwa die Minister von heute werden? Alle Wege sind verdorben; in einem Lande, wo man auf demselben Gebäude liest: »Gleichheit« und »Dieser Platz darf nicht verunreinigt werden«, wollen Sie, dass ich schaffe? Wissen Sie, was das republikanische Frankreich aus einem Orpheus machen würde? Es würde ihn nach Kolchis schicken, den Tornister auf dem Rücken, als Infanterist; nachdem es ihn den gotteslästerlichen Flüchen eines Korporals ausgeliefert, würde es ihn in einem Silo Bei den Strafkompagnien in Algerien wird der Verurteilte in ein enges Loch gesperrt. umkommen lassen, unter der Willkür eines Feldwebels. Da ich sechsunddreissig Millionen »Gleiche« habe, ist meine Aufgabe die Verachtung der Gesetze.

– Ich fange vielleicht an, Sie zu begreifen, trotzdem Sie so kompliziert sind, Nebo; Ihre offenbarenden Zornesausbrüche zeigen einen Tatendrang ohne Verwendung, ein zur Disposition gestelltes Heldentum, die zu anderen Zeiten die seltsame Macht, die sich jetzt an der Prinzessin Riazan übt, an die Führung von Völkern gewandt hätten …

– Das ist nur der Anschein! Eine einzige Macht verdient, dass man sie erstrebt, die der Kirchenfürsten; durch das Wort herrschen, die Gewissen leiten, das ist wahrhaftig die begehrenswerte Macht; aber ich schwöre es bei Gott selbst, zwischen der Volksabstimmung, die einen Kaiser macht, und Ihrer Anwesenheit hier würde ich nicht zaudern; und Sie wissen, dass dieses Wort nicht das eines Liebhabers ist. Der Eingeweihte könnte mit dem Staate nur Beziehungen der Verteidigung haben; man muß sich vor den bösen demokratischen Tieren hüten, dann seine Persönlichkeit in ein Werk oder in einen Traum ergiessen. Es gibt nur drei Menschen im Abendlande: den Menschen des Gebetes, den Menschen der Betrachtung und den Bummler; nehmen Sie die Mönche und die Künstler fort, so bleibt nur das Lumpenvolk, Aber diese beiden Kasten stehen auf solchen Höhen, dass aller aufspritzende Kot sie nicht beschmutzen wird.

Paula sah auf ihre Uhr.

– Lieber Lehrer, als Sie mich für heute einluden, haben Sie vergessen, dass es der Empfangstag der Herzogin Vologda, meiner edlen Tante, ist: ich kann Ihnen nur noch kurze Augenblicke widmen. Wann ist meine erste Stunde in der Leidenschaft?

– Samstag abend.

– Sie spielen unglücklich; ich muss den Ball der Prinzessin Dinska besuchen.

– Ich spiele glücklich: eben auf dem Balle der Prinzessin Dinska gebe ich Ihnen ein Stelldichein.

– Erlauben Sie mir, Nebo, Ihnen zu gestehen, dass ich jene Welt besser zu kennen glaube als Sie: ich erbiete mich meinerseits, Ihre Führerin zu sein.

– Wirklich, fragte Nebo ironisch, Sie kennen die Mörder, die Zuhälter, die Räuber und die Dirnen, die Sonnabend bei Ihrer Freundin Ywanowna sein werden?

Die Prinzessin betrachtete den Platoniker mit Bestürzung.

– Träume ich oder faseln Sie?

– Weder das eine noch das andere! All das Verbrechen und all das Laster, das wir in vierzehn In Peladans Roman »Weibliche Neugier«. Nächten durchforscht haben, wird auf einmal im Hause der Kleberallee vereinigt sein.

– Sie spotten auf eine Weise, die mich entnervt; wenn Sie die Wahrheit sagten, hätte ich doch schon etwas davon gesehen, wenigstens …

– Prinzessin, es gibt das Künstlerauge und das Auge des Seelenkundigen; man wird nicht mit diesen Augen geboren, man erwirbt sie.

– Ich wollte, es wäre schon Sonnabend, um den Grund für eine solche Behauptung zu erfahren.

– Sie sind wieder neugierig geworden, sagte Nebo mit sanftem Spotte.

– Philostrat erzählt, fuhr er fort, dass ein Schüler des Apollonius von Thyana seinen Meister zu seiner Hochzeit eingeladen hatte. Die Verheiratete war jung und schön; man beneidete den glücklichen Gatten. Kaum ist der Oberpriester erschienen, kaum hat er gesprochen, als die schöne Braut verschwand, um die Hexe Canidia zu werden. So wird Ihre Gesellschaft, die glänzend aussieht, sich Ihnen als der abscheuliche Vampir enthüllen, der sie in Wirklichkeit ist, auf mein Wort. Ich werde die Gaukeleien zerstreuen und den Zauber brechen, und Sie werden mehr bestürzt sein und mehr Ekel empfinden als im Erotic-Office oder im Grand-Trimard Peladans Roman »Weibliche Neugier«..

– Ihre Behauptung bringt mich ausser Fassung, murmelte Paula.

Seit ihrem Kommen teilte sich ihre Aufmerksamkeit zwischen den Worten Nebos und der seltsamen Statue, die sie mit wachsender Erwartung betrachtete; sie erhob sich und näherte sich dem Schemel.

– Wie taufen Sie?

– Sie ist heidnisch.

Einen Pinsel in das Gold einer Muschel tauchend, strich er es in die Vertiefungen der Buchstaben des Sockels:

 

König Eros

 

Beide betrachteten jetzt das seltsame Werk und sprachen nicht mehr.

– Wenn das Brennen gelingt, ich zweifle daran, das Stück hat für den Ofen eine ungewöhnliche Grösse, werde ich es Ihnen anbieten.

– Oh, grossmütiger Nebo, was für ein Schmuck für die Estrade der Halle.

– Nein, erwiderte der Künstler, ich will nicht, dass sie ausgestellt wird, sondern dass sie ein Lustwäldchen belebt; ihr Platz ist in einem Park: das sind die Klauseln der Schenkung.

– Gut, in Saint-Fulcran, dem Schlosse, das meine Tante eben gekauft hat, gibt es eine Lichtung, die nach Ihrem Wunsche für Ihren Eros – meinen Eros – passt. Ich werde mich heute abend wie Titus entkleiden können: sich ein Meisterwerk geben lassen, das nenne ich seinen Tag nicht verlieren! Also, Nebo von Thyana, Sonnabend ist die grosse Verwandlung: die Eingeladenen der Gräfin Dinska werden Vampire, Lärmen, Empusen, Incubi, Succubi …

– Warten Sie, sagte Nebo, sie zurückhaltend; sein Auge fieberte etwas, seine Stimme war bewegt, seine Haltung begeistert. Sie haben mich gefragt, wie ich diese Statue taufe. Nun, seien Sie ihre Patin und hören Sie die beschwörende Formel.

Die Hand dem jungen Mädchen auf die Schulter legend, die Augen auf das Werk richtend, improvisierte er diese orphische Hymne:

 

Hymne an Eros

I

Eros, König der klagenden Herzen, spottender Bogenschütze, dessen feurige Pfeile die Lenden der Sterblichen mit Verlangen bedecken!

Steige vom Olymp herab und beseele mit deiner Göttlichkeit diese Form, die fromm gebildet wurde, nach feierlichem Brauche.

Dich anzurufen, ist die Stunde günstig: der Stier springt im Tierkreis; Pasiphae folgt ihm, in kopflosem Laufe, in den kretischen Gefilden. Die süssen Geheimnisse des Frühlings, im fröstelnden Walde, offenbaren sich dem beherzten Liebhaber, der furchtsamen Liebenden. Die Welten, liebevoll in ihrer Sonnenrunde, strahlen reine Lichtstrahlen bis zu uns aus.

Die Luft ist voll fliegender Küsse, die ganz zart die nackten Arme der Jungfrauen streifen. Welch warmer Hauch lässt auf den Lippen das Verziehen zum Kusse, die Flaumhaare im schwachen Genick spielen?

Das Verlangen springt hervor unter den Schritten, und in den geraden Falten der Tuniken steigen unzüchtige Ausströmungen empor.

Erschlafft, umschlungen und irrenden Blickes gehen sie unter Bäumen die Blumen befragen; und in die Rinde der Birken schreiben sie mit ihren Haarnadeln den Namen ein, den sie nicht auszusprechen wagen. Weit entfernt vom langweiligen Erzieher, vereinsamt sich der träumerische Jüngling auf den schattigen Wegen, um auf die neue Stimme zu hören, die in ihm spricht und von Lieben flüstert. Hört er durchs Dickicht nicht die alten Faune grinsen? Erblickt er nicht das Aufleuchten des Körpers einer überraschten Nymphe, die zu den Weiden flieht, ein schlecht übergeworfenes Peplon auf den schönen nackten Gliedern?

Eros, König der klagenden Herzen, spottender Bogenschütze, dessen feurige Pfeile die Lenden der Sterblichen mit Verlangen bedecken!

Steige vom Olymp herab und beseele mit deiner Göttlichkeit diese Form, die fromm gebildet ist, nach feierlichem Brauche.

II

Eros, König der klopfenden Herzen, der die schwellenden Busen perlen lässt, Vermittler der ganzen Natur, Kuppler, durch den jede Brunst erhört wird!

Hauche dieser Tonerde die weiche Entzückung der sich vordrängenden Lust und die zuckenden Taumel ein!

Du, du herrschest und glänzest, wenn unter Helios' Golde die zirpende Grille die durch heftige Leidenschaft entstehende Ohnmacht der brennenden Erde besingt; wenn das Silber des Phöbus in der blauen Nacht stäubt! Soviel Schlafzimmer, soviel Altäre, Eros; soviel Opfer in deinem Namen, mächtiger Gott!

Wie erbitterte Ringer, einer an den andern gebunden, sind die Liebenden nur noch ein Leib; sie stammeln in Küssen sich verlierende Worte; in ihrer wilden Glut schreien und beissen sie. Zeus kann seine furchtbaren Blitze schleudern, Poseidon die ungeheuern Wogen aufwühlen und diese schreckliche Drachen ausspeien, ohne die berauschten Sterblichen nur zu stören. Das Schlagen ihrer Adern und der Pulsschlag ihres Herzens macht sie den Göttern gleich, entzückt und einsam, ohne Gedanke und ohne Furcht.

Eros, König der klopfenden Herzen, der die schwellenden Busen perlen lässt, Vermittler der ganzen Natur, Kuppler, durch den jede Brunst erhört wird!

Hauche dieser Tonerde die weiche Entzückung der sich vordrängenden Lust und die zuckenden Taumel ein.

III

Eros, König der sterbenden Herzen, Betrüger der aufrichtigen Seelen, der dem Herzen die Unbeständigkeit, dem Körper die Müdigkeit einhaucht!

Gib diesem Bildnis den bestürzten Blick einer betrogenen grossen Liebe, Urheber der bitteren Enttäuschungen!

Jämmerlich und eigensinnig, verwünschen die Sucherinnen der Liebe dich nicht; mit hängenden Brüsten, mit müden Lippen und dem in den Kämpfen der Lust ganz zerdrückten Leibe erbetteln sie noch einen gleich trügerischen Liebhaber.

Andere, verlassen, ergeben sich nicht, und mit derselben Hand, welche die Liebkosung spendet, zerreiben sie den Schierling; nicht imstande, ihren Liebhaber zu halten, weihen sie ihn dem Tode!

Habgieriger, plündern die Männer die Küsse auf den Lippen, die vorbeikommen, und eilen, fast ohne zu wählen, von Frau zu Frau, ohne je ihre schändliche Begierde zu befriedigen. Dort unten, abseits, bezeugt der leukadische Felsen, o Gott des Lebens, dass du mit dem Tode verlobst; die Menschheit bereitet dir, Eros, ein schreckliches Gefolge: das Röcheln des Todes, das Stöhnen der Lust mischen sich entsetzlich. Diese verworrenen Schreie, sind sie die des Hasses oder des Segens? Diese Leidenschaftlichen, deine Leibeigenen, sind sie weise oder toll? Bezauberst du das Leben oder betörst du es?

Eros, König der sterbenden Herzen, Betrüger der aufrichtigen Seelen, der dem Herzen die Unbeständigkeit, dem Körper die Müdigkeit einhaucht!

Gib diesem Bildnis den bestürzten Blick einer betrogenen grossen Liebe, Urheber der bitteren Enttäuschungen!

IV

Eros, König der geliebten Formen, mitten im Vergessen eines unbewussten Jahrhunderts, erstehst du wieder unter meiner Hand und dein Ruhm erscheint von neuem durch meine Kunst.

Haben die Thespier dir bei den Erosfesten ein schöneres Bild geweiht? Ich habe dich wieder auferweckt, Eros, um dir zu trotzen und dich zu besiegen. Siehe in mir Anteros, den Meister und Priester.

Die glänzende Form, in der du wieder auflebst, ist nur das Zeichen meines Willens; unter diesen Tonzügen kette ich deine Zauber und deine Reize und die zweite Ursache, die deine Kraft ausmacht. Ich habe die grüne Grün ist die magische Farbe der Venus. Linie längst gebrochen und ich breche sie heute für diese Jungfrau: so habe ich dir den doppelten Reiz des Eheteufels gegeben.

Herrsche über die Mengen, Eros; sie sind niedrig, sie sind eines solchen Königs würdig; aber denke daran, denen gefügig zu dienen, die auf der Natter und dem Basilisk schreiten und den Löwen und den Drachen zertreten.


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