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2

Er hatte recht – und unrecht zugleich.

Die Begegnung in der Kirche hatte sie erschreckt, ihr Innerstes aufgewühlt und in eine noch nie empfundene Unruhe versetzt. Sein Hohn hatte sie empört, sein herzloses Lachen sie angewidert. Auch wenn er freundlich zu ihr sprach, war etwas Kaltes, Lauerndes in seinen Blicken, daß ihr angst und bange wurde, die freundlichen Worte würden im nächsten Augenblick schneidendem Hohn Platz machen. Und dem wollte sie sich nicht aussetzen.

Die Empörung trieb ihr das Blut ins Gesicht, als sie an seine herzlosen Worte an die arme Straßentänzerin dachte. Wenn er ihr jemals so kommen würde, sie würde ihm das Messer ins Herz stoßen!

Für ihr Leben gern wollte sie ins Theater! Sie hatte eine brennende Lust, einmal ein richtiges Ballett zu sehen! Aber nachher müßte sie ja zu ihm; und wer weiß, wie er zu ihr sprechen würde? Also lieber nicht!

Sie erzählte wohl der Mutter getreulich von der Begegnung mit ihm, tat nicht wenig stolz über ihre Unterhaltung mit dem berühmten Tänzer, über sein offenbares Interesse für sie: wie er ihr nachgegangen wäre, und wie wenig sie sich daraus machte! Aber sie erwähnte mit keinem Wort sein Anerbieten, auch nicht die Einladung, ins Theater zu gehen.

Die Mutter wurde ganz aufgeregt.

»Das Glück! Das Glück! Den bringe ich noch dazu, dich zu unterrichten!«

»Um aller Heiligen willen!«

»Schweig, du bist eine Gans – eine dumme Gans bist du! Das Glück fällt dir in den Schoß, und du brauchst bloß zuzugreifen! Bloß zuzugreifen brauchst du! Ja, hast du denn eine Ahnung davon, was das bedeutet, wenn solch ein großer Mann sich für dich einsetzt!? Ein Wort von ihm kostet es nur, und gleich liegt dir die Welt offen! – Schmuck, Reichtum, schöne Kleidung, Ehren aller Art werden sich dir zu Füßen häufen, und du brauchst bloß zuzugreifen –«

»Er wird sich hüten. Er hat anderes zu tun, als sich um so eine wie mich zu kümmern!«

»Wenn er dich bloß tanzen sieht, wird er weg sein! Du weißt nicht, wie hübsch du tanzest – du weißt es nicht! Ich hab's dir ja nie gesagt, denn ich wollte dich nicht eitel machen! Aber sooft ich dich sah, und neben dir die anderen, dann dachte ich es mir – und mehr als eine von den Basen hat's auch gesagt – und wie oft haben sie's mir gesagt: ›Die Babara muß zum Ballett! – Die Babara könnte mit den Beinen ihr Glück machen! – Sie hat das Zeug, daß ihr das ganze Leben zum Tanz wird!‹ Das haben sie gesagt! Aber wo hätte ich das Geld hernehmen sollen, um dich in die Ballettschule nach Mailand zu bringen? So etwas kostet Geld – viel Geld, und bei unserer Armut ...! Nein, da hab' ich's mir verbissen! – Aber ich habe zu der Madonna gebetet, ihr so manche Kerze geweiht! Und sie hat mich erhört! – Jetzt ist die Gelegenheit da – jetzt gehe ich zu ihm! – Sofort gehe ich und werfe mich ihm zu Füßen!«

Sie warf ihren Mantel um und wollte gehen.

»Tu's nicht!« rief Babara. »Ich will's nicht! Ich habe gar keine Lust.«

»Ob du Lust hast – ob du Lust hast?! Tanzest du nicht für dein Leben gern!«

»Zum Vergnügen, ja!«

»Das Leben ist kein Vergnügen, das Leben will verdient sein! Dir ist's gegeben, es dir mit den Beinen zu verdienen! Aber nicht so, daß du auf der Straße bettelnd herumstreichst, wie's sonst kommen wird! Sondern indem du die Gabe ausnützt, die dir der Himmel gab! Das Tanzen zum Vergnügen – wir wissen, wo das endet! In den Armen eines Burschen und dann in den Armen eines anderen und dann im Rinnstein! – Ins Elend führt der Tanz! Nein, da werde ich schon vorsorgen!«

»Ich will's aber nicht! Ich will nicht!«

»Ich will aber. Und du hast dich danach zu richten. Gehorchen sollst du, ob du willst oder nicht, wo deine Mutter nur dein Bestes will!«

Sie wollte gehen. Und da mußte Babara lieber mit der Einladung herausrücken.

»Ihr braucht nicht zu ihm zu gehen«, sagte sie schmollend. »Er hat mich gebeten, heute abend ins Theater zu kommen! – Mit Euch soll ich hinkommen! Und nachher will er uns sprechen!«

Die Alte sank auf einen Stuhl nieder.

»Und das verheimlichst du mir?!«

»Ich wollte nicht hin! Ich gehe auch nicht! Er macht sich nur lustig über mich! Ich mag nicht, daß er über mich lacht!«

Eine schallende Ohrfeige war die Antwort. Und dann prasselte eine Flut von Schimpfworten auf sie nieder. »Du Schlampe, du faules, nichtsnutziges Ding! Lumpenprinzeßchen du! Du blähst dich auf und zierst dich und dünkst dich zu vornehm, etwas zu tun, um im Leben vorwärtszukommen! Als ob du auf Gott weiß was für großen Reichtümern säßest, so hast du dich! Und dabei hast du nichts als das bißchen Jugend, das bald vorüber ist! Du willst nicht?! Ja, sag' einer bloß! Schämst du dich gar nicht, solche Launen zu haben?! Du Undankbare! Denkst du denn gar nicht an deine alte Mutter, die sich um dich geschunden hat und bald nicht mehr imstande sein wird, sich weiter für dich abzurackern? Und dann – was dann? Dann bist du auf dich angewiesen – dann mußt du verhungern, so ein faules und vergnügungssüchtiges Ding wie du!«

»Scheltet nur, soviel Ihr wollt! Ich gehe doch nicht! Und wenn Ihr mich noch so schlagt!«

»Sei doch nicht albern, sei nicht dumm! Benutze die Gelegenheit, die dir der Himmel gibt! Denn da liegt dir das Glück offen! Und du brauchst nur die Hand auszustrecken, brauchst bloß zu wollen – die Gelegenheit ist da! Jetzt oder nie! Einmal im Leben kommt das Glück nur, und da gilt's zuzugreifen! Die Minute, die du unbenutzt vorüberstreichen läßt, ist für ewig verloren! – Ich hab's an mir erfahren! Ich wollte auch tanzen – mein Leben lang wollte ich's, und immer noch tanzt's in mir, wenn ich euch Kinder tanzen sehe! Ich hätte es gekonnt – ich hätte es zu was gebracht! – Habe ich euch nicht tanzen gelehrt, daß alle Leute die Augen aufreißen, wenn sie euch springen sehen? Ich hätte es sicher zu was gebracht. – Aber mein Vater war dumm! Er hat's nicht eingesehen! Ich sollte ehrbar bleiben, hieß es immer! Ich sollte arbeiten lernen – einen braven Mann heiraten, anständig leben – und ich habe ihm gehorcht! – Nun – was habe ich davon gehabt? Einen Mann, der trank, der mich schlug und der viel zu spät gestorben ist – Gott hab' ihn selig! Was habe ich davon? Euch, die ihr mich bis aufs Blut aussaugt, für die ich mich schinden muß, ohne es zu etwas zu bringen! Und dann blüht mir das Siechtum und ein elender Tod! Hätte ich nur nicht auf ihn gehört! Wäre ich lieber davongelaufen! Hätte ich lieber mein eigenes Leben gelebt! Dann ging's mir besser! Euch aber will ich das Leben ersparen, das ich leben mußte! Ihr sollt es gut haben, in Glanz und Reichtum leben – ihr werdet es auch erreichen! Denn ihr seid schön – am schönsten du, Babara – und was ich nur in meinen Träumen haben durfte, das sollt ihr in der Wirklichkeit haben! Denn ich werde nicht so schlecht an euch handeln wie mein Vater an mir – ihr werdet mich nicht verfluchen wie ich ihn – ihr werdet meiner dankbar gedenken und für euren Gehorsam was vom Leben haben! Eine große Künstlerin wirst du werden, wenn du mir gehorchst; in der ganzen Welt wird man dich mit Ehren nennen, mit Auszeichnungen überhäufen! Greif nur zu, und die Welt wird dir zu Füßen liegen!

Komm, ich putze dich – komm, ich mache dich schön – du brauchst gar keine Angst zu haben, daß man dich im Theater scheel ansieht – du kannst dich in jeder Gesellschaft zeigen – komm, mein Püppchen, sollst sehen, deine alte Mutter wird schon für dich sorgen!«

Und sie suchte aus ihren Schränken und Truhen allerhand vergessenen Tand aus ihrer Jugend, bunte Perlenschnüre, seidene Tücher, Schürzen, Mantillen, Hauben und einen geblümten seidenen Rock, der ihrer Babara wie angegossen saß!

»Jaha – ich war auch mal schlank – ich war auch mal wie ein Prinzeßchen – schau mal dies Mieder – da bist du noch viel zu üppig dazu – aber es geht schon – wir schnüren ein bißchen – das wird schon gehen!«

Und sie schnitt und nähte und änderte und paßte ab und putzte ihr Töchterchen aufs prächtigste heraus! Und die ließ sich's gefallen und fand sich so allmählich damit ab, mit ihr in die Vorstellung zu gehen.

Wenn die Mutter mitginge, wäre es ja nicht so gefährlich. Da würde er sie wohl nicht zu verhöhnen wagen! Und wenn auch – schließlich war die Sache das wohl wert! Schließlich konnte man das hinnehmen, wenn man bloß einmal ins Theater könnte und ein richtiges Ballett zu sehen bekäme!

Am Abend saßen sie dann auch im Theater in einer der ersten Reihen des Parterre, wo man schon angefangen hatte, Sessel einzustellen, die Domina stolz und sicher, als wäre sie in ihrem Leben nichts andres gewohnt gewesen, als ihre Abende dort zu verbringen, und Babara aufgeregt und neugierig in diese ihr so neue und bunte Welt hineinblickend, die bald ihre Welt sein würde.

Es war ihr wie ein Traum. Das schwatzende, lachende Publikum in schönen Kleidern, reich geschmückt, die bunte Masse, die sich schreiend und johlend im Parterre hin und her schob und drängte, die Musik – das Mitsingen des Publikums, die fröhlich ausgelassene Stimmung, die Blumen, die festliche Beleuchtung, das Drängen, der Kampf um die besten Plätze, und schließlich die Aufführung, die viel zu schnell vorbei war. Sie fühlte sich bedrückt inmitten all der Pracht! Das bunte Treiben verwirrte sie – dann ging der Vorhang auf – und zum erstenmal empfand sie die Macht, die hat, wer auf der Bühne steht – die Herrschsucht packte sie – schlich sich in ihre Seele und nahm sie in ihre Gewalt. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück – jetzt mußte sie hin, ob sie durfte oder nicht.

»Denk, Baberina – wenn du da oben stehst – und all die Tausende nach dir blicken!« flüsterte die Mama. »Das wäre doch ein Glück!«

Babara hörte nicht; mit weit offenen Augen starrte sie nur hinauf. Fossano gab die Hauptrolle in der Pantomime: »Pierrots letztes Abenteuer«, eine burleske Szene voll derb grotesker Situationen, die wahre Lachsalven im Publikum entfesselten. Dann tanzte er einen Bauerntanz mit dem ganzen Corps de Ballett, und zum Schluß »Das Urteil des Paris«, eine wahre Orgie in sinnbetörenden Farben und Formen, eine bis an die äußerste Grenze des Gewagten gehende und doch das künstlerische Maß innehaltende Phantasie voll glutvoller Leidenschaft, deren einzelnen Phasen das Publikum in atemloser Stille folgte, um dann, als der Vorhang fiel, in rasende Beifallskundgebungen auszubrechen, die nimmer enden wollten.

Immer wieder mußte Fossano mit seinen Partnerinnen vor dem Vorhang erscheinen, von den Evvivarufen umtost. Er wurde mit Blumen, Kränzen und Goldstücken beworfen, und man ruhte nicht, ehe er nicht als Zugabe seinen berühmten » pas du diable« zum besten gegeben hatte.

Während sich die Zuschauer in dichten Massen am Bühneneingang und im Hof der Pilotta stauten, um ihm bei der Abfahrt vom Theater ihre Huldigung darzubringen, wurden Babara und ihre Mutter zu ihm geführt. Er empfing sie im Foyer der Solisten, immer noch im Kostüm, jetzt ganz der große Künstler, vornehm, herablassend, sie kaum eines Grußes würdigend.

»Ah – sieh da – die kleine Bekanntschaft von heute früh! Nun – du hast es jetzt gesehen! – Es ist kein Kinderspiel, so leicht es auch aussieht! – Arbeit, harte, emsige Arbeit – wenn einer es so weit bringen will – und – Talent, versteht sich – vor allem Talent! Nun – wir werden sehen, was mit dir los ist! Ich werde dich erst ausprobieren! Du wirst gleich im neuen Ballett mittanzen – du brauchst keine Angst zu haben! Es gilt da noch lange keinen Kunsttanz – es ist gar nicht schwer! Du brauchst bloß zu verstehen, was du darzustellen hast – ich mach es dir klar – ich übe es mit dir ein! Kannst du das bewältigen – und ich erwarte es von dir – dann werde ich dich unterrichten – dann wirst du meine Schülerin sein!

Erst will ich aber sehen, ob du Talent hast, und ob ich dir mit gutem Gewissen raten kann, Tänzerin zu werden! Und ich glaube, ich werde es können – – –«

Domina Campanini ließ die Tochter nicht zu Worte kommen. Sie floß gleich über vor Seligkeit und Rührung, küßte Fossano die Hände und rief den Segen aller Heiligen auf ihn herab. – Er würde schon sehen, daß er sich nicht geirrt hätte! Die Babara hätte Begabung wie wenige! Seit sie klein war, hätte sie getanzt – wie eine Sylphide – wie eine Elfe – wie ein Engel Gottes! Und sie hatte es von sich aus – ganz allein hätte sie sich alles, was sie könnte, ausgedacht! Denn sie wären arm, sie hätten nichts, womit sie den Unterricht hätten bezahlen können – –

Hier stockte ihre Suada. Sie bekam plötzlich Angst, er würde sie nicht als Schülerin aufnehmen, wenn sie nicht zahlen könnte!

»Aber was sein muß, muß sein«, sagte sie dann rasch, ehe er noch antworten konnte. »Ich werde arbeiten gehen, ich werde verdienen – ich habe auch Verwandte und gute Bekannte, die alle gern helfen werden, damit meine Baberina ihr Glück machen kann – sie müssen alle was beisteuern, denn der Unterricht bei solch großem Meister kostet doch wohl viel – –?«

Hier stockte sie wieder, in der Erwartung, er würde ihre versteckte Frage mit der Erklärung beantworten, es koste bei ihm nichts! Er empfand das und wollte es auch gleich sagen, hielt aber inne und blickte Babara an. Ein unbestimmtes Vorempfinden sagte ihm, daß er vielleicht doch in die Lage kommen würde, einmal Entgelt von ihr zu verlangen!

Er lächelte also bloß, winkte der Alten gnädig zu, blickte Babara an und sagte:

»Das wird sich später finden! Vorerst wollen wir sehen, ob du was taugst, und dann fleißig lernen!«

Er hielt ihr die Hand hin, die die Alte schnell ergriff und mit Küssen bedeckte, streichelte Babara die Wange, nickte herablassend und ging in die Garderobe. Die Audienz war zu Ende.


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