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Der Leidensweg des deutschen Republikaners ist noch nicht beendet. Erst trieb man ihn unters Joch des Militarismus, dann unter das des Richters. Jetzt kommt als Dritter der Priester und meldet seine Ansprüche an. Der Generalangriff der katholischen Partei auf die Schule zerreißt die kulturpolitischen Stipulationen der Weimarer Verfassung und damit das letzte, was uns die Fiktion aufrechterhalten ließ, wir lebten in einem liberal-demokratischen Staat. Artikel 149 besagt: »Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der Schulgesetzgebung geregelt.« Dieser Rahmen soll jetzt geschaffen werden, und man ist daran, ihn so weit zu spannen, daß dabei auch der Spitzensatz des Artikels 137: »Es besteht keine Staatskirche« praktisch einbezogen, also unwirksam gemacht wird.
Damit endet ein kurzer, nicht immer krisenloser Traum: Das Zentrum als Stütze des demokratischen Staates, des Staates der Gedankenfreiheit und Toleranz. Volkstribun Erzberger ist begraben und vergessen, mit ihm der republikanische Radikalismus seiner Partei; der Tag gehört dem mausgrauen Herrn Marx, vor zwei Jahrzehnten schon Verkünder der konfessionellen Schule. Der ewig wandelbare Katholizismus zeigt wieder ein andres, ein strengeres Gesicht als vor kurzem noch. Wir wollen nicht vergessen, daß von allen alten Autoritäten die katholische Kirche im Kriege am besten standgehalten hat. Während die katholischen Parteien in den einzelnen Ländern willenlos von der Kriegsfurie fortgerissen wurden, blieb das römische Pontifikat in geistig überlegener Neutralität. Während die furchtbar roten Sozialisten in Stockholm anstatt sich zu einigen, sich gegenseitig des Annexionismus und der blutigsten Atrozitäten bezichtigten, unternahm Benedict, der große Papst des Weltkrieges, den einzigen ganz ernsten Friedensschritt. Mit gesteigerter moralischer Macht kam die Kirche in das unfriedliche Europa der Friedensverträge, und ihre bissigsten demokratischen und sozialistischen Gegner kapitulierten innerlich und bewunderten den erhabenen zweitausendjährigen Bau. Ja, in diesem Europa voller Nahrungssorgen, in diesem Europa der gelösten alten Bindungen ohne neue, erkannte man im steinernen Schweigen gotischer Kathedralen, in der betäubenden Luft goldprunkender Barockkirchen die letzte große Macht einer seelischen Einheit, die keine Fragen zuläßt, bewunderte man die Weisheit einer Institution, die alle Extreme des Lebens vom Rausch bis zur Zerknirschung, von der Wollust bis zur Entsagung umfaßt und noch unter die grüne Verwesung des Crucifixus eine schöne Frau stellt. Das ist groß und erhaben, und wer nie im Kreuzgang eines Klosters für Minuten nur die brave Uffklärung sozialistischer Bildungsarbeit vergessen hat, der mag ja ein ganz strammer Klassenkämpfer sein, aber daß auch die Phantasie eine Macht ist, und deshalb ein Aktivum, das wird er nie begreifen und deshalb stets in Rückstand kommen. Wenn im Kriege Gott mit den stärkern Bataillonen ist, so siegt auf dem politischen Schlachtfeld schließlich immer die Armee mit der stärksten Imagination.
Wenn nur der katholische Alltag dem schönen Bild entspräche! Da ist nichts mehr von der romanischen Farbenfreude des alten Kultes zu finden. Da flammen die Bannstrahle oberpriesterlicher Autorität gegen eine weibliche Turnhose, und eine ehrwürdige Moraltheologie wird bemüht, um den etwas zu eng sitzenden Badeanzug eines Mädels zu verketzern. Die Kirche der großen Madonnenmaler und der venusdienenden Päpste, die mit einem Vers Anakreons auf den Lippen das Hochamt betraten, hat als ecclesia militans keinen Zug von Liberalität mehr, und namentlich, wo sie sich mit Protestanten balgen muß, sucht sie die verhorntesten Konsistorialräte an verkniffener Prüderie zu überbieten. Ein Zwiespalt klafft zwischen katholischem Wesen und dem Leben von Heute. Kunst und Literatur? Die Kirche setzt jedes Werk, das uns wert ist und wo wir unsern Atem spüren, auf den Index. Sport und Leibesübungen? Sie wittert Konkurrenz und lehnt ab. Unsicher und oft verkennend steht sie vor den sozialen Kämpfen. Wer Knecht ist, soll auch Knecht bleiben. Das ist ihrer Weisheit letzter Schluß, der dadurch nicht schmackhafter wird, daß sie den Industriegebietern christliches Erbarmen zur Pflicht macht. Die Familie zerfällt. Die Kirche aber verkündet die Biedermeier-Tugend eines »christlichen Hauses«, das schon lange von ganz andern Bewohnern bezogen ist. Die Kirche, die sonst stets das eben noch verwünschte Neue durch Hintertüren eingelassen hat, findet jetzt den Anschluß nicht. Sie koppelt den alten Glauben, der noch immer lebt, mit der alten Moral zusammen, die es nicht mehr gibt. Sie verbündet sich mit einem Leichnam.
Ihr Gesetz will, daß der Staat der Kirche untenan sei. Als in grauer Vergangenheit die Christuslehre aus den Katakomben stieg, nahm ihr oberster Priester den leeren Platz der Cäsaren ein. Das war der erste Sündenfall der neuen Weltreligion. Aber es atmete eine große Idee darin: das Gottesreich, das Reich des Gewissens, übergeordnet aller Gewalt der weltlichen Herren und Ämter. Doch die machten mit der Kirche halbpart, was sie zwar nicht vergeistlichte, die Kirche aber in Weltlichkeit verkommen ließ. Heute kann die Kirche nicht mehr über den Staat herrschen, ihre Superiorität bleibt ein papierner Anspruch, deshalb will sie durch ihn herrschen. Und deshalb muß sie als Gegenleistung seine Interessen und die seiner herrschenden Klassen wahrnehmen. Und die Herrin der Gewissenskräfte steht kläglich Schildwache vor Fabriken, Kasernen und Kerkern.
Noch hält das Band des Glaubens. Noch stehen Massen von Arbeitern, Landleuten und Kleinbürgern zu ihr. Wenn der Evangelische Bund seine Getreuen zusammenkratzt, braucht man nicht hinzusehen, um zu wissen, daß nicht viel los ist. Aber wenn die Kirche ruft: Euer Glaube ist in Gefahr, man will eure Kinder zu Heiden machen! dann erheben sich Millionen. War nicht eben noch die Zentrumspartei eine etwas dissolut werdende Masse mit mehreren verzankten Flügelgruppen? Jetzt steht sie wieder wie aus einem Guß. Jetzt sprechen nicht mehr die Parteikanzleien, nicht mehr die Führer und Funktionäre, weltliche Stimmen einer geistlichen Gewalt. Jetzt redet diese selbst: die Bischöfe geben die Parole aus, der Schatten erhobener Krummstäbe fällt über die andächtig hingeknieten Parteiregimenter, und Herrn Josef Wirth, der eben noch hingerissen Opposition deklamierte, versiegt die Rede. Ein kleines verdutztes Sträuben noch, und er kniet mit.
Aber tut die Kirche recht daran, das offen zu fordern, was sie auch ohne geschriebenen Titel haben konnte? Die Revolution hat die Katholiken-Emanzipation gebracht. Die muffige Pietisterei des verkrachten Bismarckstaates wollte die »papistische Götzendienerei« nicht als gleichberechtigt anerkennen. Das ist zu Ende. Das Zentrum ist die wichtigste Partei geworden. Ihre Stabilität ist geschätzt, niemand hätte sie angetastet. Die Bürgerlichen und Sozialisten schon gar nicht, während die Kommunisten nicht verstehen, im katholischen Volk Wurzel zu fassen. Ein unkritisches, mystiksuchendes Geschlecht ging aus dem Kriege hervor. Heute, wo auch der okkultistische Nepp der Inflationsjahre mit einem großen Kater geendet hat, blieb noch eine Luft von Toleranz und Indifferenz, die der Kirche äußerst nützlich ist. Man schlug sich um Staatsform, um Wirtschaft, um Dawes und Locarno, aber nicht um religiöse Meinungen. Das hat sich mit einem Schlag geändert. Man blickt auf und erkennt mit Staunen die Wundmale des Klerikalismus an den Händen der weltlichen Republik. Das Schulgesetz des gutevangelischen Märkers v. Keudell hat alarmiert. Denn so lässig man in Deutschland in geistigen Dingen auch geworden sein mag: der weltliche Staat als Hüter religiösen Selbstbestimmungsrechtes ist das Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklungen, die man nicht einfach fortradieren kann. Kulturkampfstimmung ist wieder da, und was die frommen Zentrumsväter hübsch im Halbdunkel durchschmuggeln wollten, liegt jetzt als Kampfobjekt mitten auf dem Markt. Das war nicht gewollt. Zu allen andern Zankäpfeln ist jetzt noch einer von unbestrittener Deutschheit gekommen: der theologische. Die verfilztesten liberalen Vollbärte rauschen protestantisch protestierend, und in Versammlungen werden wieder Resolutionen für oder gegen den lieben Gott angenommen. Derweilen wird in den Parteiquartieren gefeilscht und nach Kompensationen gesucht. Munter klappert Münze und Rede. Bruder Tetzel, Politiker geworden, zieht wieder mit seinem Ablaßkasten durchs Land. Aber alle parlamentarischen Kunststücke, die Priesterkontrolle über die Schule zu einem ertragreichen Tauschhandel zu machen, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Volk mißtrauisch und erbittert ist. Wenn zu allen andern Reaktionen auch noch die religiöse, die kulturpolitische tritt, wenn sich zu Geldsack, Paragraphenbuch und Säbel auch noch der Krummstab gesellt, dann darf man sich nicht wundern, wenn der lange schlummernde Volksinstinkt gegen alles Pfaffentum wieder wach wird und alle republikanischen Leistungen der katholischen Partei die keimende Erkenntnis nicht ersticken, daß Kreuz und Krone von je zusammengehörten und deshalb zusammen fallen müssen.
Die Weltbühne, 20. September 1927