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Am Himmelfahrtstage wurde in Toulouse Joseph Caillaux von einigen aufgeregten Mitbürgern tätlich angegriffen und schwer mißhandelt. Das war am gleichen Tage, da in Lausanne der russische Delegierte einem terroristischen Attentat zum Opfer fiel.
Caillaux' Angreifer zählen zu den »Camelots du roi«, dieser oft widerwärtig zur Erscheinung gekommenen Kampftruppe der französischen Reaktion. Der Mörder Worowskys ist ein russifizierter Schweizer oder ein helvetisierter Russe, ganz klar ist das im Augenblick noch nicht festgestellt und auch für die politische Bewertung der Tat ziemlich belanglos. Worauf es ankommt, ist, daß die Kugeln dem Vertreter eines sozialistischen Staates galten.
Es preßt sich ein breiter schwarzer Gürtel enger und enger um die alten und neuen Demokratien Europas. Es liegt allerorten ein dumpfes Missbehagen in der Luft, unsichtbar, ungreifbar und dennoch da. Die Formeln des historisch gewordenen demokratischen Parlamentarismus attrahieren nicht mehr recht; die Parlamente weisen mehr oder minder Zeichen von Altersschwäche auf, die nicht an bestimmte Personen gebunden, sondern irgendwie dem System als solchem immanent sind. Und die Hoffnung von 1919, die Idee der Sowjets? Noch wehen zwar auf dem Kreml Rotrußlands Fahnen, noch muß der Bolschewik in der ganzen Welt als Kinderschreck herhalten. Aber der Leninismus liegt auf dem Krankenbett, siech und der Sprache beraubt wie sein Meister. Durch Hintertüren und verbotene Eingänge kehren die Sendboten des mit vieler Mühe ausgerotteten kapitalistischen Industrialismus wieder zurück.
Die alten Quellen sind versiegt, die neuen hat ein gewaltiger Steinschlag verschüttet. Wohin soll die Menschheit hoffend und glaubend ihre Blicke richten?
Kein Land gibt es, das nicht unter den wirtschaftlichen Erscheinungen der Nachkriegszeit litte. Durch den Friedensvertrag sind alte Reiche ökonomisch und territorial depossediert worden. Sie bilden in ihrem kläglichen Zerfall eine immer tätige Keimzelle von Fäulnis und Unruhen. Dagegen sind junge Staaten entstanden, die in territorialer Überfütterung sich kindlich-kraftmeierisch gebärden; ihre Machtansprüche sind groß, ihr Fundus an Gut und Arbeitskraft ist gering. Ihr jugendfrisches Freiheitsgefühl lebt sich im wesentlichen in Versuchen aus, andere zu unterdrücken. Sie sind stärker im Erobern, denn im Produzieren, jedenfalls kein stabiles Element im Gefüge Europas.
Die Völker fühlen sich als Spielbälle von Kräften, die sie nicht verstehen. Sie fürchten die kommunistische Drohung, sie erschauern unter dem gigantischen Anschwellen des Großkapitalismus. Der Standard der allgemeinen Lebenshaltung sinkt immer tiefer unter das von altersher gewohnte Niveau. Die Heilkundigen der Politik, welcher Schule sie auch angehören mögen, genießen kein Vertrauen mehr. Es ist eine stehende Erfahrung: wo der Arzt in Mißkredit gekommen ist, schleicht der Scharlatan ins Haus. Und die moderne politische Scharlatanerie kristallisiert sich in dem vielfarbigen, vieldeutigen Begriff: Fascismus.
Was ist Fascismus? Zunächst ein Ausverkauf kleinbürgerlicher Ideologien und Illusionen von vorgestern. Gedankenspäne, die längst vom Wirbel der Zeit in alle vier Winde zerstreut schienen und die sich heute von neuem zu einer gefährlichen Masse zusammengefunden haben. Der Fascismus ist die machtgewordene Furcht des von kapitalistischen und sozialistischen Extremen in seiner Existenz bedrohten und durch die Schieberepochen seit 1914 materiell und moralisch geschwächten Bürgertums.
Diese Stimmung ist eine internationale. In Italien, wo die Gefahr am geringsten war, die Kommunisten sich aber am großmäuligsten gebärdeten, hat sie zuerst zum Siege geführt. Sie hat ihren Niederschlag gefunden im ungarischen Horthy-Regime, sie durchdringt mählich das verelendete Österreich, nationalistisch, antisemitisch und monarchistisch aufgemacht, wiegelt sie in Deutschland die Opfer der sozialen Umschichtung gegen die Republik als Statthalterin der »goldenen Internationale« zu einem grobdrähtigen Aktivismus der geballten Faust auf. Sie hat als militaristisch-imperialistische Wahnvorstellung Frankreich okkupiert und hat selbst die kleine friedliche Schweiz in eine krankhafte Sozialistenangst hineingehetzt, die bereits seit längerem die Grundlage dieser ehrwürdigsten und urtümlichsten aller Demokratien unterhöhlt.
Wo die Männer versagen, da ruft man nach dem Mann. Der Fascismus, der überall anders, überall in neuer nationaler Vermummung auftritt, weist in allen Ländern diesen einen gemeinsamen Wesenszug auf: die Sehnsucht nach dem Diktator. Die erschlafften Völker suchen nach einem Hirn, das für sie denkt, nach einem Rücken, der für sie trägt.
Soweit die Bestandsaufnahme. Etwas anders aber sieht es aus, wenn man fragt: Cui bono? Denn soziale Revolutionen und Evolutionen lassen sich nicht einfach ungeschehen machen. Die Zeit läßt sich nicht wie in der genialen Phantasie des Henry George Wells beliebig vor- und zurückstellen. Man kann Probleme nicht dadurch lösen, daß man sie ignoriert. Daran scheitert auch die fascistische Weltreaktion. Sie trägt ihren Richter in sich in ihrer Kritiklosigkeit, in ihrer ungebundenen Hoffnung auf »den« Mann.
Herr Mussolini, der neue Rienzi, hat bisher zwar mit pompösen Schaugeprängen die Augen seines Volkes zufriedengestellt, aber nicht den Magen. Er hat die schüchternen Sozialisten geduckt, aber nichts gegen den Kapitalismus unternommen. An dem Tage, wo er es versuchen wollte, würde er wie seine antiken Vorbilder vom tarpejischen Felsen gestürzt werden. Das ist die ironische Folie des Fascismus, daß er bei aller Deklamation gegen den Großkapitalismus gegen diesen nicht nur völlig ohnmächtig ist, sondern sogar als dessen Kreatur wirkt. Er macht ihm erst recht die Bahn frei. Das fascistische Wirtschaftsprogramm erweist sich vor den rauhen Tatsachen als Seifenblase. Das Schwarzhemd, das Hakenkreuz und alle die anderen Insignien der alt-neuen Ideologie, wem nützen sie? Niemandem als dem werdenden Industriefeudalismus, der an die Stelle der zermürbten Staatsautorität tritt, die »Diktatoren« gelassen beiseite schiebt und die enttäuschten, führerlos gewordenen Massen endgültig unter sein Joch bringt. Der Fascismus kämpft für das, was er Ordnung nennt, mit den Waffen der Anarchie. An diesem Widerspruch in sich muß er zugrunde gehen.
Sein Sinn wird offenbar in den kolossalen sozialen Umformungen unserer Tage. Sein Unsinn in der Wahl seiner Mittel und seinem Mangel an realen Zielen.
Berliner Volks-Zeitung, 13. Mai 1923