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Deutsche Linke

Das moderne Frankreich bleibt das gute Exempel aller um ihr Selbst ringenden Demokratien. Auch die dritte Republik hat politische und moralische Niederungen erlebt. Was sie so prägnant beispielhaft macht, das ist ihr vitaler Wille zur Regeneration, der auch in den Jahren der Korruption und reaktionären Übermacht nicht totzukriegen war. Lucien Bergeret, unter der alten Ulme am Wall meditierend, versponnen in Träumereien über sein geliebtes klassisches Bildungsideal, das ihm ein Freiheitsideal bedeutet und nicht dürres Philologentum, – Lucien Bergeret, eingekapselt in der muffigen Enge des Provinzkaffs, in tausend persönlichen Widerwärtigkeiten sich herumquälend und dennoch tapfer bereit, einen sehr unpopulären Aufruf zur »Affäre« zu unterzeichnen, das ist die liebenswürdige, rührend schnurrige Symbolfigur der französischen Linken, das ist die bescheidene Fleischwerdung der Ursache, warum das alte Frankreich immer jung geblieben.

Verteidigung der republikanischen Institutionen, Erweiterung der bürgerlichen Freiheiten, unbedingtes Bekenntnis zum sozialen Fortschritt. Aus diesen drei Elementen ward immer ein cartel de gauche, Bürgerliche und Sozialisten einend.

Bei uns gibt es Parteien, die im Parlament links sitzen, aber es gibt keine Linke. Es gibt keine republikanische Solidarität. Wohl weiß man um ein paar Persönlichkeiten, die als Träger einer solchen zu betrachten wären: Wirth, Schücking, Schoenaich, Loebe. Aber um sie herum stößt man überall auf die bewährten Fraktionszelebritäten mit der Zinkeinlage im Hosenboden. Die verabscheuen die Linke und kultivieren den verschwommenen, maskierenden Begriff der »Politik der Mitte«, einen Begriff, den noch niemand ganz klar präzisiert hat, bei dem sich aber jeder etwas Verwaschenes, etwas Molluskenhaftes, mit einem Wort: etwas Nationalliberales denken kann.

Die Rechte und ihre Hilfsvölker in den angrenzenden Flügeln der »Mitte« arbeiten für den Bürgerblock. Setzen die sogenannten Verfassungsparteien dieser Konzentration aller reaktionären Kräfte wenigstens den Gedanken einer republikanischen Sammlung entgegen? O, nein. So jakobinisch hat man sich nicht. Herr Hilferding z. B. macht wieder Laune für die Große Koalition, also für die Allianz mit den Feueranbetern des »Volkskaisertums«. Denkt dieser leidgewohnte Politiker nicht mehr an seinen herrlichen Gleitflug vor gerade einem Jahre, aus den Wolkenhöhen des Reichsfinanzministeriums auf unsere liebe, aber harte Erde? Nicht zu bezweifeln, daß Herrn Hilferdings gediegene Konstruktion noch mehr Schicksalsschläge dieser Art überdauert. Aber was geht uns schließlich Herr Hilferding an.

Es ist keine billige pessimistische Attitüde sondern eine recht zwangsläufige Erkenntnis, wenn man es einmal offen sagt: es gibt keine Republik in Deutschland! Man spricht häufig von der Republik ohne Republikaner. Es liegt leider umgekehrt: die Republikaner sind ohne Republik. Und es gibt keine Republik, weil es keine Linke gibt. Weil das große Moorgelände der »Mitte« alles aufsaugt. Weil man viel lieber »ausbalanciert« als kämpft.

Republikaner sein, das ist also wirklich keine politische Angelegenheit mehr, sondern Privatplaisir. Der Dienst an der Republik führt bei uns alle typischen Merkmale einer unglücklichen Liebe. Ärger noch. Auch die verstiegenste Leidenschaft muß einen Gegenstand haben. Der geduldige Liebhaber, der sich im Laufe von fünf Jahren bis zu den Fingerspitzen vorentwickelt hat, kann sich immer noch an der frohen Hoffnung auf allmähliche Territorialerweiterung berauschen. Aber die Dame muß wenigstens da sein. Wir deutschen Republikaner lieben unglücklicherweise etwas, was gar nicht da ist. Wir betreiben so eine Art politischer Masturbation.

Dem armen Don Quichotte präsentierte man nach seinen Irrfahrten an Stelle seiner heißbegehrten Dulcinea eine mißduftende Kuhmagd. Uns bietet man nicht einmal ein solches Surrogat, sondern nur den Mißduft.

Man kann für eine Idee sehr viel Kummer ertragen. Man kann sich dafür sogar fünf Jahre lang das Gehirn malträtieren lassen. Aber die Nase ...?

Nein.

Das Tage-Buch, 20. September 1924


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