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Ein tödliches Schweigen trat auf diese Worte hin ein, eine Stille, die wenig Gutes weissagte. Im Augenblick, als Estelle ihre Bemerkung gemacht hatte, bereute sie ihre Worte. Mit einer Sicherheit, die sie nicht im geringsten fühlte, stand sie, noch immer die Papierrolle in der Hand, auf und trat vor den Spiegel, um sich ihren Hut aufzusetzen. De Fontenay hatte sich, als er der Papiere ansichtig geworden war, erhoben und war an die Tür getreten, als wolle er verhindern, daß Estelle den Raum verließ. Im selben Augenblick trat Gaston mit den befohlenen Erfrischungen ein. Das Mädchen nahm das dargereichte Glas und blinzelte dem Oberst lustig zu:
»Zum Wohl, mein lieber Herr de Fontenay, Sie Schutzherr meiner verfolgten Unschuld! Auch auf das Ihre, Sie finsterer Mr. van Stratton. Sie dürfen mich nach Hause begleiten, damit mir keine zweifelhaften Abenteuer mehr zustoßen.«
Die Herren antworteten nicht auf den Toast, sondern leerten schweigend ihre Gläser. Estelle knöpfte sich ihren Mantel zu:
»Kommen Sie, Mr. van Stratton«, wandte sie sich an Mark. »Wir wollen gehen.«
Bedauernd schüttelte der Hausherr den Kopf. Er stand immer noch an der Tür.
»Es tut mir außerordentlich leid, Miß Dukane, daß Sie zwei Männer zu Ihren Vertrauten machten, deren Ehre es verbietet, dieses Geheimnis zu bewahren. Ich gehöre dem französischen Geheimdienst an. Zu meinem Pflichtenkreis in diesem Land gehört es, Leute, die sich gegen Frankreich verschwören, unschädlich zu machen, auch wenn es sich um vermögende Verschwörer handeln sollte. Mein Freund van Stratton hat zwar mit dieser Mission nichts zu tun, wird aber, das weiß ich, seine Hand nicht dazu bieten, gestohlene Berichte dem – Hehler zu belassen. Weder er noch ich können Ihnen gestatten, mit diesen Papieren, die Sie so scharfsinnig den Zugriffen der Polizei zu entziehen vermochten, dieses Haus zu verlassen!«
Sie starrte ihn an:
»Wie wollen Sie mich daran hindern?« fragte sie ironisch.
»Ich glaube, es genügt, wenn ich Ihnen das Ersuchen stelle, die Papiere auszuliefern. Ihr Vater wird den Verlust verschmerzen können. Der Mann aber, der Ihnen diese Papiere zugängig machte, wird seine Ehre wiedergewinnen.«
Ärgerlich blitzte Estelle den Sprecher aus ihren schönen Augen an. Aller Liebreiz ihres Antlitzes war verflogen; sie sah wie eine Furie aus, die sich vorbereitet, dem Gegner die ganze Munition ihres Schimpftalentes ins Gesicht zu schleudern.
Mit ihrer ganzen Energie unterdrückte sie ihren Zorn und wandte sich mit erkünstelter Ruhe an Mark:
»Nun, Sie großer Schweiger!« sagte Sie höhnisch. »Was sagen Sie zu der Zumutung Ihres Freundes? Stecken Sie mit ihm unter einer Decke? Fürwahr, ein feines Pärchen! Und an Ihre Ritterlichkeit mußte ich mich wenden! Ehre! Unsinn! Mein Vater hat nur Gutes im Sinn, wenn er sich diese Papiere zu verschaffen sucht. Er will Europa endlich den wirklichen Frieden wiedergeben, nicht das Mißgebilde, das man heute, nach Versailles, als Frieden bezeichnet! Sie lächeln? Natürlich werden Sie so etwas mit Ihrem beschränkten Durchschnittsverstand niemals begreifen lernen. Muß er nicht immer über alles unterrichtet sein, um sein Ziel zu erreichen? Warum mißtraut ihm die englische Regierung, warum teilt sie ihm, was er wissen will, nicht freiwillig mit? Nun, wir haben trotzdem erreicht, was wir wollten; hier diese Papiere beweisen es!«
De Fontenay, der seinen Platz an der Tür nicht aufgab, beobachtete gespannt den Freund. Mark wandte sich an ihn:
»Wir wissen ja gar nicht, Raoul, was in diesen Papieren enthalten ist. Wir können uns doch nicht so ohne weiteres den Wünschen Miß Dukanes widersetzen.«
»Dann soll Mademoiselle uns die Papiere zu lesen geben«, entschied der Franzose. »Wenn Sie nichts meinem Lande Schädliches enthalten, dann mag Miß Dukane sie aus diesem Zimmer fortnehmen.«
»Nein, auch das dürfen wir nicht verlangen, Raoul«, meinte Mark. »Sie können ja ebensogut eine Privatsache Mr. Dukanes behandeln, nicht wahr?«
Estelle lächelte triumphierend. Sie hatte den Kampf gewonnen. Mark fuhr fort:
»Miß Dukane hätte uns ja gar nicht mitzuteilen brauchen, daß sie die Papiere noch hatte. Wir dürfen ihr Vertrauen nicht mißbrauchen, Raoul!«
»Selbstverständlich«, warf Estelle ein. »Ich dachte doch, ich befände mich hier bei Freunden. Wir wußten, noch ehe ich sie in Händen hatte, was in diesen Papieren enthalten ist. Vater hatte mir vor seiner Abreise ein Duplikat hier gelassen, welches ich hier in Händen halte. Ich hatte es heute abend mitgebracht und Sie sahen ja, wie gut das war. Vielleicht habe ich unklug gehandelt«, setzte sie hinzu, »daß ich mich mit meiner Schlauheit vor Ihnen beiden brüstete, aber konnte ich vermuten, daß Sie mein Vertrauen so mißbrauchen würden?«
»Wir werden es auch nicht tun«, versicherte ihr Mark mit fester Stimme.
»Ich muß die Papiere sehen«, widersprach de Fontenay.
Estelle musterte die beiden Männer: der Oberst, schlank, mittelgroß, älter als Mark, aber jeder Zoll ein Fechter. Mark, der junge Riese, mit dem Körperbau eines Ringkämpfers, langen schmalen Oberkörper, breit ausladende Schultern – der geborene Athlet. Mit Augen, die in grausamer Lust funkelten, wandte sie sich sanft an den Hausherrn:
»Sie hörten doch, was Mark eben sagte. Sie dürfen sich meinetwegen nicht verfeinden. Sie haben gegen den Besitz der Papiere Einspruch erhoben. Gut! Mark stimmt mir zu! Er hat mir sein Wort gegeben, mich sicher nach Hause zu bringen; er muß es also tun. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Du weißt, Raoul«, schloß sich Mark ihr an, »wie es um mich steht. Möglich, daß ich nicht unbefangen bin. Wenn du es verlangst, werde ich morgen jedem erzählen, was ich heute getan habe, und wenn es mich zehnmal meinen Posten kostet. Wir dürfen uns nicht streiten, Raoul. Wir haben zu viel zusammen durchgemacht im Leben!«
Der Franzose schwieg; nur seine Augen ruhten wehmütig auf dem jungen Amerikaner. Endlich sagte er:
»Mark, ich wünschte, wir hätten an jenem Tag in einem anderen Lokal gefrühstückt!«
»Was nützt das Wünschen?« entgegnete der Freund bitter. »Vielleicht kommt einmal der Tag, wo ich mich deinem Wunsch anschließe.« Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Das ändert aber nichts an der heutigen Sachlage. Du bist der Meinung, daß du Miß Dukane nicht mit den Papieren entkommen lassen dürftest, ohne dich dabei einer unehrenhaften Handlung schuldig zu machen. Meine Ehre wäre ebenso zerbrochen, wenn ich ihr gegenüber mein Wort bräche. Uns deshalb prügeln? Unmöglich, Raoul! Ich weiß, du hast eine Schußwaffe. Gegen mich wirst du sie aber niemals richten. Darf ich bitten, Miß Dukane?«
Sie folgte seinem Wink und bewegte sich zur Tür. Mark trat zwischen Estelle und de Fontenay, der noch immer den Ausgang besetzt hielt. Zwischen den beiden Männern lag es wie eine elektrische Spannung. Plötzlich las der Franzose etwas in den Augen des Freundes, das ihm die Tragödie, die sich in dessen Innern abspielte, so verständlich machte. Achselzuckend trat er zur Seite und gab die Tür frei.
»Du magst recht haben, Mark«, gab er zu. »Wir dürfen uns nicht prügeln. Guten Abend, Mademoiselle! Ich strecke die Waffen!«
Er verbeugte sich so tief, daß er – vielleicht unabsichtlich – die Hand übersah, die ihm das junge Mädchen hinreichte.
Im Wagen blickte sie Mark mit einem ungewohnt weichen Schimmer in ihren Augen an.
»Sie sind ein Engel«, murmelte sie. »Ich glaube, ich werde Sie noch lieben lernen.«
Mit einer unwillkürlichen Bewegung legte er seinen Arm um das Mädchen, und als sie ihm nun näher rückte, drückte er mit zitternden Lippen einen Kuß auf den Mund, den Estelle ihm willig darbot.