E. Phillips Oppenheim
Nicholas Goade, der Detektiv
E. Phillips Oppenheim

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10

Ein unerklärliches Gefühl führte Goade im letzten Monat seiner Ferienfahrt auf die einsamsten Wege. Mehr als einmal verirrte er sich auf dem Tafelland von Dartmoor und mußte die Nacht, zu Flips Entsetzen, in irgendeinem Schuppen, der sich ihm bot, zubringen oder sonst ein notdürftiges Obdach suchen. Im Nordwesten der Grafschaft kam er über weite Strecken unbebauten Landes, wo die Wege ganz verfallen waren, wo hier und da ein Birkhahn mit schwirrendem Geräusch vor seinen Füßen aufflog, wo ein einsamer Brachvogel oder ein Falk, der dahinschoß, die einzigen lebenden Wesen waren.

Eines Abends spät, im September, keuchte sein Wagen, mit kochendem Kühler und heftig stoßendem Motor, zur Höhe der »Fünf Türme« hinauf und Goade, dem der Atem beinahe ebenso auszugehen schien wie seinem Auto, erblickte fünf flechtenbewachsene, vom Alter verwitterte Obelisken, die um eine finstere Schlucht herumstanden. Im Dämmerlicht hatten sie etwas Geisterhaftes, Drohendes, und Goade gab es auf, über die zerklüfteten Felsrücken und nackten Torfstreifen zu klettern, um sie in der Nähe zu betrachten, was er zuerst beabsichtigt hatte. Auf der Karte war ein Dorf oder vielmehr ein Weiler vermerkt, und er beschloß, auf dem Wege weiter vorzudringen. Er sehnte sich an diesem Abend nach einem Obdach, nach fröhlicher Gesellschaft, wenn sie zu finden war, nach Schutz vor dem drohenden Gewitter, das sich am finstern Horizont zu sammeln begann. Der Weg war wenig besser als ein Karrenpfad, aber plötzlich streckte er sich gerade vor ihm hin und, eh' er sich dessen versah, befand er sich schon mitten im Weiler selbst. Er ließ den Wagen ganz langsam fahren und blickte von einer Seite zur anderen, mit dem unbehaglichen Gefühl des Ungewohnten. Der Weiler bestand nur aus wenigen ärmlichen Steinhäusern zu beiden Seiten der Straße. Einige mochten kleine Kaufläden sein. Es mochte auch ein Gasthaus geben. Sogar ein Briefkasten hätte da sein können. Aber von alledem war nichts zu sehen. Es war erst halb neun Uhr Abends, aber alle Vorhänge und Rolläden waren zugezogen. Kein Lichtschimmer zeigte sich dahinter – keine Stimme war zu hören, kein Zeichen eines menschlichen Wesens zu sehen. Das Auto fuhr, ächzend und stöhnend, von einem Ende des Weilers zum andern: aber alles war wie ausgestorben, so still wie ein Begräbnisplatz. Sogar Flip blickte mit ängstlichem Unbehagen zu ihrem Herrn auf. Sie fühlte die Nähe von etwas Ungewohntem, beinahe Übernatürlichem. Der Ort konnte nicht verlassen sein: Fenster und Läden waren vorhanden, aber alles war verschlossen und über dem ganzen Dorf lag eine tiefe, gespenstische Stille.

Als er an das letzte Haus gekommen war, hielt Goade das Auto an, ließ es an der Seite der Straße stehen und ging mit lauten Schritten über den Bürgersteig hin. Nirgends sah er einen Lichtschein; kein neugieriger Finger lüftete die Vorhänge an den Fenstern. Er hatte das letzte Haus zu seiner Linken erreicht und war, ganz verzweifelt, stehengeblieben, als aus dem Innern der leise Schrei eines Babys hörbar wurde. Ohne einen Augenblick zu zögern, klopfte er an die Tür. Im Hause schien sich nichts zu rühren, aber Goade fühlte, während er draußen in der zunehmenden Dunkelheit wartete, die Nähe menschlicher Wesen. Ohne ihre Stimmen zu hören, wußte er, daß in dem kleinen Raum Menschen beisammen waren, die im Flüsterton über den Eindringling sprachen. Im Takt einer fröhlichen Melodie klopfte er an die Fensterscheibe. Die Tür öffnete sich plötzlich ein wenig – dann etwas weiter. Ein Blick ins Innere zeigte ihm ein Bild, das in seiner Lebendigkeit an einen Hogarth-Stich erinnerte. Auf dem offenen Herde brannte ein Holzfeuer. Davor saß ein alter Mann, der leise vor sich hinmurmelnd ins Feuer sah. Im Zimmer befanden sich noch zwei Frauen, ein Mädchen und ein Baby, ein Jüngling und ein Mann in mittleren Jahren und grober Bauernkleidung, der ihn halb drohend, halb ängstlich ansah.

»Es tut mir leid, wenn ich störe,« entschuldigte sich Goade, »aber was ist mit diesem Ort los? Ich bin von einem Ende zum andern gegangen und habe kein Licht sehen können. Gibt es hier ein Gasthaus?«

»Ein Gasthaus?« wiederholte der Mann in mittleren Jahren, mit leise bebender Stimme. »Hier oben, an den ›Fünf Türmen‹? Nee, da gibt's kein Gasthaus. Wer sind Sie?«

»Ein Reisender,« erwiderte Goade, »– ein Tourist, wenn Sie wollen. Ich habe den Weg verloren. Darf ich einen Augenblick hereinkommen?«

Flip schlüpfte hinter ihm hinein und kauerte sich vor dem Feuer zusammen. Der alte Mann beugte sich vor; seine Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen.

»Ein kleiner weißer Hund«, sagte er. »Nein, ist der fett!«

Flip öffnete ein Auge, warf dem Alten einen Blick zu und rollte sich auf den Rücken, um die köstliche Wärme noch besser genießen zu können. Die eine Frau drehte sich um.

»Schließ die Tür, Tom«, befahl sie. »Siehst du nicht, daß der Mond schon fast überm ›Kleinen Turm‹ steht?«

Ohne auf eine Einladung zu warten, trat Goade näher. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen; er stand im Zimmer. Der junge Bursch schob ihm einen wackeligen Eichenstuhl zu.

»Setzen Sie sich«, sagte er. »Sie werden jetzt warten müssen.«

Goade warf einen Blick umher, um das intelligenteste Gesicht herauszufinden. Das Mädchen war etwa sechzehn Jahre alt; es hatte ein sonnverbranntes Gesicht und dunklere Augen und Haare als die anderen. Die Hände, das Gesicht und die trotz ihrer Jugend leicht gebückte Haltung zeugten von täglicher Feldarbeit.

»Warum haben sich alle eingeschlossen?« fragte Goade. »Und kann ich etwas zu essen kaufen?« fügte er hinzu und wies auf einen Korb, der halb mit einem groben Tuch bedeckt war; ein Brot, Früchte, zwei abgezogene Kaninchen waren darin zu sehen, und ein Paket, das Tee enthalten mochte.

Dem Mädchen schien die Frage aus irgendeinem Grunde unangenehm zu sein.

»Das ist nicht zu verkaufen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob sich etwas für Sie findet. Wir essen abends nicht viel. Ein wenig kalter Speck ist da.«

»Gib ihm ein dickes Stück«, brummte die Alte, ohne vom Fenster wegzusehen.

»Wenn Sie etwas Wasser haben«, fuhr Goade fort, »in meiner Tasche ist Whisky.«

Der Alte am Feuer blickte auf.

»Whisky!« rief er in erregtem Ton. »Letzte Weihnachten, vor bald zwölf Monaten, hatt' ich den letzten Schluck Whisky. Gib ihm was zu essen, Rachel. Gut, daß er im Hause ist.«

»Warum ist es gut, daß ich im Hause bin?« fragte Goade. »Und warum horchte die Großmutter am Fenster? Warum sind Sie alle erschreckt, als wäre die Pest im Dorf?«

»Sie sind offenbar in dieser Gegend fremd«, sagte der Mann, der ihn hereingelassen hatte. »In dieser Nacht steigt der Septembermond über den ›Kleinen Turm‹ – dann kommt der Schwarze John herab.«

»Und wer, zum Teufel, ist der Schwarze John?«

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille.

»Er ist hier fremd«, wiederholte die Frau mit kaum hörbarer Stimme.

Das Mädchen hatte ein grobes Tuch auf den Tisch gebreitet. Sie brachte einen Krug Wasser und Goade zog seine Feldflasche hervor. Es gab eine Scheibe Käse, einen Rest Speck, etwas altes Brot und eine Schüssel mit Äpfeln.

»Geben Sie mir ein Glas für den Großvater. Er soll etwas Whisky haben,« sagte Goade.

Der Alte stieß ungeduldig mit dem Stock auf den Boden.

»Schnell, Rachel – schnell, bevor die Trompete ertönt.«

Goade schenkte ihm Whisky ein. Das Mädchen goß Wasser nach und reichte das Glas dem alten Mann. Dieser packte es mit beiden Händen und führte es gierig an seine Lippen.

»Darf ich wissen,« bat Goade das Mädchen, »wer der Schwarze John ist, und warum wir hier alle ohne Lampe sitzen müssen, warum der Schwarze John herabkommt und was er tut, wenn er kommt?«

Die ausdruckslosen Züge des Mädchens belebten sich; etwas wie Entsetzen malte sich darin.

»Der Schwarze John ist der, den man auch John, den Einsiedler nennt«, erklärte sie. »Er lebt in einer Erdhöhle oben bei den Fünf Türmen. Einmal im Jahr kommt er herunter, wandert durch das Dorf und nimmt sich, was er will.«

Der alte Mann hatte mit lautem Schlürfen von dem Whisky getrunken. Er hielt immer noch das Glas mit beiden Händen fest.

»Er ist ein Mann Gottes«, äußerte er.

»Und ist dieser Korb für ihn bestimmt?«

»Gewiß«, erwiderte die jüngere Frau. »Wenn die Trompete ertönt, stellen wir ihn vor die Tür.«

»Und alle Dorfbewohner machen es ebenso?«

»Freilich«, stimmte die Frau bei. »Jeder gibt etwas her. Wir besprechen uns vorher, damit Verschiedenes zusammenkommt. Wenn er durchs Dorf geht, ruft er das Wort Gottes aus, daß wir es hören, nimmt, was man ihm gegeben hat und wenn er etwas Besonderes sagen oder ein bestimmtes Haus besuchen will, dann sehen wir ihn einen Augenblick. Wenn er alles eingesammelt hat, steigt er wieder hinauf, und ein Jahr lang kann man Höhen und Täler durchstreifen und wandern, wohin man will, aber man wird keine Spur vom Schwarzen John finden. Man sagt, daß er all' die Monate mit den Wesen zubringt, die keine Menschen sind.«

»Nun ich habe in dieser Gegend schon manche sonderbare Geschichte gehört,« brummte Goade vor sich hin, »aber das übertrifft sie alle.«

Der Alte schlürfte immer noch laut an seinem Whiskyglase. Er neigte sich Goade zu.

»Vor zwei Jahren«, erzählte er, »gab es für ihn, als er kam, eine Prachtbescherung. Die Ernte war gut gewesen; es war ein großes Kartoffeljahr. Und als er sich alles genommen hatte, was er wollte, trat er mitten auf die Straße und rief in seiner Bibelsprache, die Gabe der Entsagung wäre von ihm gewichen, und er müßte ein Weib nehmen. Die Mädchen hatten sich alle vor Angst versteckt und lagen still wie die Hasen im Farn vor dem Gewitter, aber er nahm sich George Dunbridges Tochter – führte sie mit sich fort zu den Fünf Türmen hinauf, und sie wimmerte nur so vor Schreck.«

»Was ist mit ihr geschehen?« fragte Goade.

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen. Der Alte tat einen langen, geräuschvollen Zug aus seinem Glase.

»Sie kam zurück, ihre schwere Stunde zu erwarten«, erwiderte er, »aber sie hat kein Wort mehr gesprochen. Sie war ganz still, wie wild geworden und starb.«

Ein stummes Entsetzen lag über allen. Goade bemerkte, daß das Mädchen am ganzen Körper zitterte. Sie hatte sich schon während der Unterhaltung in einen dunklen Winkel zurückgezogen. Plötzlich schien die Spannung zu vergehen. Alle atmeten erleichtert auf. Goade, den alles das aufs höchste interessierte, erhob sich von seinem Stuhl und näherte sich dem Fenster. Ein einziger, langgezogener Ton unterbrach in seltsam schauerlicher Weise die Stille draußen. Es klang wie von einer Rohrpfeife oder Trompete und ging in eine melancholische Mollweise über, die etwas Süßes und doch Zwingendes hatte. Als sie verklungen war, ertönte die Stimme eines Mannes – eine Stimme von ungeheurer Stärke, doch nicht ohne Wohlklang.

»Höret alle, die ihr wartet; denn ihr wisset nicht, zu welcher Stunde der Erlöser nahet.«

Ein seltsames Geräusch, wie Flügelschwingen, wurde hörbar. Die Läden aller Dorfhäuser schienen sich auf einen Augenblick zu öffnen. Draußen wurden die Opfergaben hingelegt. Dann wurde es wieder still und die Stimme ertönte – diesmal in größerer Nähe – von neuem.

»Der Engel des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Höret alle den sanften Schritt, der von den Bergen schallt. Näher, immer näher kommen die Schritte. Neiget euer Ohr, ihr Sünder und ihr Wächter der Nacht. Die Himmel tun sich auf und die Wahrheit wird offenbar. Der Tag des Gerichts ist nahe.«

Die jüngere Frau begann zu schluchzen. Das Mädchen in der Ecke bebte vor Angst. Der alte Mann senkte den Kopf.

»Das ist er«, murmelte er. »Er ist eins mit dem Herrn. Treten Sie vom Fenster zurück, Fremdling. Er darf keinen Schatten am Vorhang sehen, wenn er vorübergeht.«

Die Schritte draußen kamen näher. Goade, der von Natur wenig zum Aberglauben neigte, fühlte sich trotzdem bis zu einem gewissen Grade in den Strudel sinnloser Erregung hineingezogen, der alle diese Menschen fortzureißen schien. Jetzt hörte man deutlich die Schritte des Mannes und die klappernden Hufe des Lastesels, den er mit sich führte. Als sie beinahe unmittelbar vor der Tür stehenblieben, überlief die Frauen ein Schauer. Die alte Großmutter zitterte wie Espenlaub. Von dem Mädchen, das sich in den Winkel verkrochen hatte, war kaum etwas zu bemerken; nur die schwarzen Augen und das heftige, schnelle Atmen verrieten ihre Anwesenheit. Da erklang die Stimme des Mannes von neuen – und diesmal erdröhnte sie wie triumphierend, ganz nah am Fenster.

»So begegnet ihr dem Diener des Herrn, ihr Kleingläubigen? Ich bat um Brot, und ihr habt mir Steine gegeben.«

Eine angstvolle Stille trat ein. Dann sagte die alte Frau mit zitternder Stimme: »Ich wußte, daß die Kaninchen ihm nicht gefallen würden.«

Keiner sonst wagte einen Laut von sich zu geben. Die Schritte wurden wieder hörbar. Die Tür ging auf, und ein Mann von ungeheurer Gestalt, der sich tief bückte, trat herein. Er schloß die Tür hinter sich und richtete sich auf –: es war ein Riese von sechseinhalb Fuß Länge, hager und knochig, mit dünnem Gesicht, schwarzem Bart und schwarzem Haar. Sein Scheitel berührte beinahe die Decke.

»Machet Licht«, befahl er.

Der Familienvater zündete eine Kerze an. Seine großen, schwieligen Finger zitterten, als er das Streichholz anstrich. Der Schwarze hob die Kerze hoch und blickte durchs Zimmer in den Winkel, wo das zitternde Mädchen kauerte.

»Komm herbei,« rief er, »du bist vor allen anderen erwählt, die Magd des Herrn zu sein.«

Das Mädchen stieß ein leises Gewimmer aus; es klang wie ein Schrei, mit dem sie vom Leben Abschied nahm. Trotzdem kam sie näher geschlichen. Goade sah ihr angsterstarrtes Gesicht, das sich gegen die dunkle Wand abhob. Er trat einen Schritt vor.

»Hören Sie,« sagte er – und seine Worte hatten einen sinnlos prosaischen Klang –, »Sie können das Mädchen nicht gegen ihren Willen fortführen.«

Der Mann wandte sich um und sah ihn an. Seine Augen blitzten zornig auf. Auch etwas wie Schreck und Überraschung lag in diesem Blick. Er streckte gebieterisch die Hand aus.

»Es steht dem Fremden nicht zu, seine Stimme im Hause des Frommen zu erheben. Was auch mein Wunsch vollbringe, wohin auch meine Schritte gehen mögen, der Wille Gottes führt sie. Kniet nieder und betet, daß euch eure Sünde vergeben werde.«

Alle fielen auf die Knie. Sogar der alte Mann glitt von seinem Stuhl herab. Goade, der sich von ihnen umringt sah, wollte auf die Tür zueilen, durch die der Mann und das Mädchen eben verschwunden waren. Aber in einem Nu hatten sie ihn überwältigt: die Frauen hielten ihn fest; der Mann vertrat ihm den Weg.

»Ihr seid verrückt!« rief er zornig. »Wollt ihr zulassen, daß dieser wahnsinnige Schwärmer das Mädchen fortführt und zugrunde richtet, bloß weil er mit seinem frommen Geplapper und den Bibelsprüchen euch den Kopf verdreht? Laßt mich hindurch!«

Er riß sich los, aber an der Tür standen der Mann und der junge Bursch, finster und entschlossen, von ihren starken Muskeln Gebrauch zu machen.

»Sie sind ein Fremder«, sagte der Bauer, »und verstehen das alles nicht. Das Mädchen ist meine Tochter, sie gehört mir, und wenn sie auserwählt ist, so sage ich: lassen Sie sie gehen.«

»Das Mädchen gehört Ihnen nicht«, rief Goade wütend. »Sie gehört sich selbst. Sahen Sie nicht, daß sie zu Tode erschreckt war? Mann, wenn Sie ihr Vater sind, so kommen Sie mit mir und wir bringen sie zurück.«

»Sie ist dem Herrn geweiht«, erklärte der Mann in ergebungsvollem Ton.

Goade sah, daß hier mit Worten nichts auszurichten war. Einen Moment stand er still. Hinter ihm schluchzte die alte Frau, während der Großvater schnaufend seinen Whisky schlürfte. Goade nahm seine ganze Kraft zusammen. Mit einer unerwarteten Bewegung schleuderte er den Burschen beiseite, packte den Mann, stellte ihm ein Bein, warf ihn mit unwiderstehlicher Gewalt zu Boden und sprang durch die Tür in die Nacht hinaus. Die Straße war noch menschenleer, aber hier und da flackerte in einem Fenster ein Lichtschein auf. Nach Süden zu sah er im blassen Mondlicht, wie der Mann mit dem Esel und dem Mädchen vom Fahrweg abbog und den Felspfad zu den Fünf Türmen hinaufzusteigen begann. Er lief zum Auto zurück, holte etwas aus dem Werkzeugkasten hervor und eilte dem Torfmoor zu. Keine Tür öffnete sich, auch die, durch welche er entkommen war, hatte sich geschlossen. Als er daran vorbeikam, hörte er leises Flüstern, das Schluchzen der Frauen, das ärgerliche Brummen des Mannes, aber niemand folgte ihm . . .

Goade mäßigte seinen Schritt: er wußte, daß der Aufstieg steil war. Im spärlichen Mondlicht sah er die undeutlichen Umrisse des Mannes, des Mädchens und des Esels, die langsam aufwärts stiegen.

Der Mann, eine finstere, unheimliche Gestalt, blieb ein, zwei Schritte zurück und summte die ganze Zeit vor sich hin. Das Mädchen hielt sich mit einer Hand an den Esel. Sie starrte zu Boden und wanderte mit müdem Schritt hinauf. Von Zeit zu Zeit schluchzte sie so heftig, daß ihr ganzer Körper bebte. Goade wartete, bis sie ein kleines Hochplateau unterhalb der fünf Steindenkmäler erreicht hatten. Dann beschleunigte er seinen Schritt und stieß einen lauten Ruf aus. Der Mann drehte sich blitzschnell um; der Esel blieb stehen; das Mädchen blickte ängstlich über ihre Schulter zurück. So standen sie da, bis Goade, der einen kurzen Stock in der Hand hielt, auf gleicher Höhe war. Der Mond schien durch einen leichten Nebelstreif und warf auf die kleine Gruppe ein gespenstisches Licht. Finster und regungslos wartete der Mann. Er stand immer noch etwas abseits von dem Lasttier und dem Mädchen – gleichsam losgelöst von ihnen, aber mit einer unheimlichen Gewalt über beide. Er sprach das erste Wort, und seine Stimme klang unerwartet ruhig. Sie hatte nicht mehr den singenden Ton, wie unten auf der Dorfstraße. Sie war tief, voll und ohne jede Erregung.

»Warum folgen Sie mir?« fragte er. »Was führt Sie – einen Eindringling – auf meine Höhen?«

»Die Höhen sind Gemeindeland,« erwiderte Goade, »und ich bin gekommen, das Mädchen zu ihren Angehörigen zurückzubringen.«

»Das Mädchen kommt freiwillig mit mir«, lautete die ruhige Antwort. »Ihre Eltern haben sie freiwillig hergegeben. Wer sind Sie, daß Sie es wagen, sich hier einzumischen?«

»Sie brauchen in mir nichts anderes als einen Mann der zivilisierten Welt zu sehen. In einem Kulturlande wird kein Mann dulden, daß ein Mädchen zu dem Dasein, das Sie für sie im Auge haben, fortgeschleppt wird, auch wenn ihre Eltern so unwissend und abergläubisch sind, es zuzulassen. Kommen Sie,« wandte er sich an das Mädchen, »ich führe Sie zurück.«

Wie im Traum, aber mit leuchtenden Augen trat sie auf Goade zu. Der Schwarze John warf sich dazwischen.

»Ich bin ein Mann des Friedens,« verkündete er, »in meinem Herzen wohnt Liebe und Eintracht, aber ich sage Ihnen, daß das Mädchen bei mir bleibt. Kommen Sie noch ein kleines Stück mit uns hinauf, und ich werde Ihnen ihr Heim zeigen. Sie sollen den Ort sehen, zu dem kein Ziegen- oder Schafhirt aus dieser Gegend weder bei Tag noch bei Nacht hinaufzusteigen wagt, den Ort, den kein geschwätziger Tourist kennt, weil kein Führer es wagt, ihn hinzugeleiten. Sie sollen den Bergsee der Fünf Türme sehen.«

Goade gab – wie er später gestand – einer sinnlosen Neugier nach. Er wanderte an der Seite des Mädchens; der Schwarze John ging ein Stück hinter ihnen, um sie nötigenfalls am Entkommen zu hindern. Aber bald darauf übernahm er die Führung. Sie gingen um gewaltige Felsblöcke herum, überschritten einen schmalen, jäh abfallenden Grat und gelangten plötzlich unter überhängenden Felsen hindurch zu einer überraschenden Aussicht. Die Fünf Türme, jeder etwa hundert Schritt von dem andern entfernt, umgaben im Kreis einen gewaltigen Abgrund, in dessen Tiefe ein dunkles Gewässer unbeweglich still zu ruhen schien. An den steilen, zerklüfteten Felswänden des Abgrundes war kaum ein Strauch zu sehen, der die Härte des Gesteins gemildert hätte. Der Mann hob einen Kieselstein auf und warf ihn hinab. Mit leise widerhallendem Geräusch fiel er ins Wasser; dann herrschte wieder Totenstille. Auf der ölig-glatten Oberfläche war bald das letzte Wellengekräusel verschwunden.

»Hier in der Nähe wohne ich«, sagte John der Einsiedler. »Hier in der Nähe wird dein Grab sein.«

Mit verblüffender Schnelligkeit, ohne einen Moment zu zögern warf er sich auf Goade. Dieser fühlte, wie die langen, geschmeidigen Arme ihn umspannten und seinen Körper wie in einem Schraubstock umklammerten. Er erkannte sofort, daß er sich in äußerster Lebensgefahr befand. Der Mann war wie aus Stahl und Eisen gebaut. Er hielt ihn beim Ringen so eng umschlungen, daß alle Geschicklichkeit, die Goade besaß, nichts helfen konnte. Auf der schmalen Felsplatte, die über den Bergsee hinaushing, rutschten sie hin und her. Aber sogar in diesem Kampf auf Leben und Tod, während der Angstschweiß auf seine Stirne trat, und jede Fiber seines Körpers sich spannte, um dem furchtbaren Druck der mächtigen Glieder zu widerstehen, die ihn umschlangen, konnte Goade nicht umhin, die seltsame, heitere Ruhe zu bemerken, die auf dem Gesicht seines Angreifers lag. Weder Wut noch Leidenschaft war darin zu sehen, nur ein fester, unbeugsamer Entschluß.

Goade war ein starker Mann, aber er befand sich im Nachteil. Er kämpfte tapfer und suchte in jeder Weise sein Körpergewicht auszunutzen, aber er fühlte, wie er allmählich den Boden unter sich verlor. Alle seine Sinne schienen in diesen schrecklichen Sekunden aufs äußerste gespannt und lebendig. Er sah Flip wie toll umherschießen und nach den Beinen seines Gegners schnappen. Und er sah das Mädchen; er sah, wie ein Gedanke in ihr wach wurde und wie der trübe, hoffnungslose Blick plötzlich aufleuchtete. Sie hob einen mächtigen Stein auf und schlich sich heran. Goade fühlte, wie sein Mut, seine Kraft zu widerstehen sich verdoppelten. Sie waren jetzt einen halben Schritt vom Rande des Abgrunds entfernt, und zum erstenmal kam in die Züge seines Gegners Leben und Ausdruck. Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. Er schien zur letzten Anstrengung auszuholen. Da nahm das Mädchen ihre ganze Kraft zusammen. Sie hatte sich ein wenig vorgebeugt, und plötzlich schoß ihr Arm hervor. Mit dumpfem Krachen traf der Stein in voller Wucht den Kopf des Mannes. Seine Arme erlahmten, seine Augen schlossen sich, dann fuhr er herum. Aber gleich darauf nahm er seine letzte Kraft zusammen und warf sich auf seinen Gegner. Diesmal jedoch war Goade bereit und empfing ihn mit aufgerichtetem Knie; dann bekam er seinen Arm zu fassen und schleuderte ihn herum, über den Felsrand. Sie sahen – ein grausiger Anblick –, wie der Körper ins Rollen kam, wie die Hände krampfhaft nach Felsspitzen und abgestorbenem Buschwerk griffen, wie er schneller und schneller dahinrollte, dann durch die Luft von Fels zu Fels stürzte, endlich die glatte Wand hinabschoß und mit lautem Platschen in den See fiel, dessen Wasser hoch aufspritzte. Atemlos blickten sie hinunter. Ein, zwei Minuten sahen sie tief unten das weiße Gesicht schimmern. Dann versank es . . .

Das Mädchen lachte leise auf.

»Ich hab' ihn immer gehaßt«, erzählte sie. »Ich sah, daß er mich beobachtete, als ich noch ein kleines Mädchen war, und ich wußte alles. Gott sei Dank! Jetzt ist er tot.«

Goade ergriff ihre Hand, die sie ihm freudig gab. Ganz erschöpft, saß er eine Weile an ihrer Seite.

»Sie haben mir das Leben gerettet«, brachte er endlich, noch mühsam nach Atem ringend, hervor.

»Ich bin so froh darüber,« erwiderte sie und drückte heftig seine Finger, »und so froh, daß ich ihn selbst getötet habe.« . . .

Bald darauf kletterten sie den zerklüfteten Pfad zum Weiler hinab. Der Esel folgte ihnen, ohne daß sie ihn gerufen hätten. Flip hatte alle Angst und Gefahr schon vergessen, lief fröhlich voran und hielt schon nach Kaninchenlöchern Ausschau. Das Mädchen schien ihre gebückte Haltung verloren zu haben und ging mit erhobenem Kopf und leichtem, fröhlichem Schritt. Zuweilen summte sie ein Liedchen vor sich hin, von dem Goade kein Wort verstehen konnte. Von Zeit zu Zeit hing sie sich stumm und vertrauensvoll wie ein vernunftloses Wesen an seinen Arm. Dann sprach sie wieder.

»Seit Jahren drückte es mir schon das Herz«, sagte sie, als sie an die letzte Windung des Weges kamen und das stille Dorf zu ihren Füßen im Mondschein liegen sahen. »Ich wußte immer, daß er mich holen würde. Jetzt bin ich vor ihm sicher. Aus dem See, in dem er liegt, taucht er nicht wieder auf. Wir werden nie mehr vor ihm zittern, wenn der Septembermond über die Türme steigt.«

Sie waren an den Eingang des Weilers gekommen. Warnend hob sie den Finger. Als Goade sie im Mondlicht vor sich stehen sah, mußte er sich über den klugen Ausdruck wundern, der ihrem Gesicht ein neues Leben gab. Es war, als ob ihre Gestalt anmutiger, ihre Sprache verständlicher geworden wäre.

»Wir wollen den Esel hier anbinden«, flüsterte sie, »und kein Geräusch machen. Tun Sie, was ich Ihnen sage. Nehmen Sie Ihre Schuhe ab und folgen Sie mir auf den Zehenspitzen. Bevor sich ein Fenster öffnet, müssen wir fort sein.«

»Ich muß Sie heimbringen«, widersprach Goade in überraschtem Ton. »Ich muß Ihre Angehörigen sehen und ihnen alles auseinandersetzen.«

»Gott bewahre Sie davor, hier nur ein Wort zu sagen«, warnte sie ihn mit dringendem Ernst. »Draußen gibt es Leute, die so denken und alles so ansehen wie Sie, aber hier herrschte John der Einsiedler wie der allmächtige Gott. Wenn die Leute auf den Gedanken kämen, daß Sie mich ihm weggenommen haben, daß John der Einsiedler kalt und starr auf dem Grunde des Sees liegt, sie würden Sie sofort steinigen.«

Das Mädchen sprach so ernst und überzeugend, daß auch ein kluger Mann wie Goade in eine gewisse Verlegenheit geraten konnte.

»Aber was sollen wir dann tun?« fragte er.

Sie wies auf die stille, mondbeschienene Straße.

»Wir dürfen keinen Laut hören lassen«, sagte sie, »und im Wagen dort hinabfahren. Es geht meilenweit abwärts. Gott gebe, daß wir so weit kommen.«

In späteren Jahren schämte sich Goade der selbstsüchtigen Regung, die sich in seiner Antwort äußerte.

»Aber was fange ich mit Ihnen an?« fragte er.

Sie sah ihm offen, aber überrascht und etwas verletzt ins Gesicht.

»Was brauchen Sie mit mir anzufangen?« entgegnete sie. »Ich bin jung und stark, und habe mein ganzes Leben wie ein Pferd auf dem Felde gearbeitet. Jeder Landmann, jede Hausfrau nimmt mich mit Vergnügen in Stellung. Ich bitte Sie nur um eines, mich so weit zu bringen, daß wir beide davor sicher sind, in Stücke zerrissen zu werden. Sie fürchten doch nicht, daß ich Ihnen zur Last fallen könnte?«

»Verzeihen Sie mir,« antwortete er demütig, »an so etwas habe ich nicht gedacht.«

Er folgte ihr, und lautlos schlichen sie durch das schlummernde Dorf bis zum Auto. Die Straße senkte sich so stark, daß sie den Motor nicht anzustellen brauchten. Flip, die anfangs ein wenig verstimmt darüber war, ihren Platz verloren zu haben, kletterte auf den Schoß des Mädchens. Geräuschlos glitten sie abwärts und bald begann der Motor zu arbeiten. Der Weg war holperig, aber gerade und vom Monde taghell beleuchtet. Wie im Traum überquerten sie Moorstreifen und Weiden, dann kamen sie über kahle Höhen, die mit Granitblöcken bedeckt waren, auf eine weite, freie Fläche, die nach Norden zu offen dalag. Das Mädchen stellte keine Fragen; vollkommen zufrieden lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück. Über den Sümpfen hingen leichte Morgennebel. Im Osten färbte sich der Himmel violett und purpurn. Ein frischerer Wind wehte ihnen entgegen. Vor ihnen in der Ferne zeigten sich einige blasse Lichter.

»Was ist das für ein Ort?« fragte Goade.

»Das Städtchen Wryde«, erwiderte sie.

»Dann haben wir gewaltig viel Glück«, erklärte er sehr erfreut . . .

Auch um zwei Uhr morgens wurde Goade im Gasthaus von Wryde mit Freuden empfangen. Ohne ihn mit Fragen zu belästigen, brachte die Wirtin das Mädchen im Hinterhaus unter, während Goade in sein gewohntes Schlafzimmer geführt wurde.

Als er um zehn Uhr morgens Speck und Eier verzehrte und dazu Mrs. Delbridges vortrefflichen Tee trank, vertraute er sich der guten Wirtin an.

»Was macht das Mädchen, das ich mitgebracht habe?« fragte er.

»Sie war schon beim ersten Hahnenschrei auf«, erwiderte Mrs. Delbridge. »Wir brauchen eine Magd. Heute ist Markttag, da hat sie gleich mitgeholfen. Sie wird mir für einige Zeit sehr nützlich sein.«

»Sie sollen sie behalten«, erklärte Goade sofort. »Sie sucht gerade eine Stellung. Wir haben ein sonderbares Erlebnis gehabt. Ich erzähl' Ihnen mal davon. Inzwischen muß ich auf die Polizeiwache gehen. Was Neues vorgefallen?«

»Was Neues?« rief Mrs. Delbridge mit einer Miene aus, als hätte sie sehr viel zu erzählen. »Das glaub' ich. Wollen Sie zuerst das Schlimme hören?«

Er nickte. Einen Augenblick schien sein Appetit zu versagen.

»Es handelt sich um Miß Adelaide«, fuhr sie fort. »Als die jungen Damen zurückgekehrt waren und Sir Martin gekommen und die Verlobung bekanntgemacht war, schien sie die glücklichste Frau auf Gottes Erde. Tag für Tag traten sie um halb zwölf durch die Gartentür auf die Straße und machten ihren Gang durchs Dorf, und wir freuten uns alle sie zu sehen, das kann ich Ihnen sagen. Und dann ist sie ganz plötzlich, ohne krank zu werden, ohne ein Wort der Klage oder des Kummers, ohne Schmerz verschieden.«

»Ein herrlicher Tod!« sagte er leise.

Die Wirtin stieß einen Seufzer aus.

»Sie war ein sonderbares Wesen«, bemerkte sie traurig. »Nun, bald darauf hat Miß Henrietta Sir Martin geheiratet – es ging so schnell, daß wir kaum wußten, wie uns geschah – und beide sind nach Italien gereist, und drüben im Roten Haus ist Miß Rosalind jetzt ganz allein.«

»Ach!« brummte Goade, schob seinen Teller beiseite und nahm sich etwas Marmelade. »Ganz allein, wie?«

»Und schöner denn je. Wenn noch ein Funken Verstand in den Männern steckt, wird sie nicht lange allein bleiben.«

Goade hatte sein Frühstück beendet und zündete sich eine Pfeife an.

»Kann ich mit meiner Schutzbefohlenen sprechen, Mrs. Delbridge?«

»Sie meinen das junge Mädchen, die Sie mitgebracht haben?« fragte die Wirtin. »Sie ist draußen im Hof und wartet auf ein Wort von Ihnen.«

Goade trat in den gepflasterten Hof hinaus. Das Mädchen kam schnell auf ihn zu. Ihre Wangen waren leicht gerötet und Lebensfreude leuchtete aus ihren Augen.

»Sir,« sagte sie, »die Frau hier will mich behalten, und ich bleibe gerne. Die Arbeit kann ich leicht schaffen, und es wird ein schönes Leben sein. Wir sind hier auch weit genug weg von den Fünf Türmen.«

Goade lächelte.

»Glückauf, liebes Kind«, sagte er, »greifen Sie zu! Ich werde dafür sorgen, daß Sie von den Fünf Türmen nichts zu fürchten haben, und Sie könnten keine bessere Hausfrau finden.«

Sie faßte plötzlich seine Hände.

»Ich bin nie sehr fromm gewesen,« rief sie, »und die rechten Worte fehlen mir, aber jeden Abend will ich Gott dafür danken, was Sie getan haben.«

Sie lief fort, und Goade blieb in einem verborgenen Winkel des Torwegs stehen, um seine Pfeife wieder anzuzünden. Dann brachte er eine Stunde beim Ortssergeanten auf dem Polizeirevier zu. Von dort machte er sich nach dem Roten Haus auf. Aber mitten auf der Allee kam ihm Rosalind entgegen.

»Sie!« rief das junge Mädchen aus und streckte ihm beide Hände entgegen.

Einen Augenblick standen sie sprachlos voreinander. Alles was zwischen ihnen lag drückte sich in diesem beredten Schweigen aus. Dann nahm er ihren Arm und führte sie sanft ins Haus zurück.

»Ich möchte noch einen Blick in Ihr Wohnzimmer werfen,« bat er, »in dem ich mit Ihrer lieben Schwester Adelaide gesessen habe. Und, Rosalind, es bleibt mir nur noch ein Monat von einem herrlichen Urlaub übrig.«

»Ein Monat«, wiederholte sie ein wenig atemlos.

»Ich habe meine Zeit vergeudet,« fuhr er leise fort, »doch nicht mein Geld. Ich denke, ich könnte eine besondere Heiratserlaubnis ohne Aufgebot erwirken. Und dann, verstehen Sie, wäre noch Zeit –«

Sie standen vor der Haustür. Sie öffnete und führte ihn in den Salon. In den süßen Blumenduft, der aus dem Garten kam, mischte sich der Geruch von alten Kalbslederbänden und anderen kostbaren Dingen, die sorgsam aufgehoben werden. Über allem aber lag jetzt ein frischer Hauch von Sauberkeit und Pflege. Sie schloß die Tür.

»Zeit wozu?« flüsterte sie.

Er schloß sie in seine Arme. Flip warf ihnen einen Blick zu, machte kehrt und ließ sich zu einem behaglichen Schläfchen auf dem Kaminteppich nieder. Sie kannte keine Eifersucht.

 

Ende

 


 << zurück