E. Phillips Oppenheim
Nicholas Goade, der Detektiv
E. Phillips Oppenheim

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7

Goade hatte sein Gepäck hinten auf den kleinen Fordwagen geschnallt, Flip neben sich gesetzt und fuhr aus der nächsten Umgebung der Stadt Exeter hinaus nach Süden zu. Flip tauschte mit einem Hunde der gleichen Rasse, der den Karren eines Fischhändlers zog, einige kräftige Komplimente aus und widmete sich dann der verständnisvollen Betrachtung der Landschaft, die sich langsam vor ihr entfaltete und Heuschober, Kaninchenlöcher sowie andere erfreuliche Dinge in Aussicht stellte. Plötzlich schoß, über sein Motorrad gebeugt, ein junger Mann aus der Menge der Fuhrwerke, die sich allmählich lichtete, hervor, fuhr mit Vollgas vorbei und hielt etwa fünfzig Schritt vor ihnen an. Er stieg ab, lehnte das Rad an einen Baum, trat mitten auf die Straße und streckte die Hand aus. Goade brachte seinen Wagen zum Stehen, und der junge Mann, der verlegen an seine Mütze griff, trat näher.

»Darf ich ein Wort mit Ihnen sprechen, Sir?« bat er.

Goade betrachtete ihn mit Interesse. Er war sehr blaß, sehr mager und unauffällig, beinahe schäbig gekleidet. An seinem Gesicht wie an seiner ganzen Erscheinung war nichts Besonderes zu bemerken.

»Hab' ich Sie nicht schon irgendwo gesehen?« fragte Goade.

»Vielleicht im Hof oder sonst irgendwo im Gasthaus zum Domwappen«, erwiderte der junge Mann. »Ich bin dort Küchenchef.«

»So, was wünschen Sie denn von mir?«

»Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, nur ein Wort. Könnten Sie Ihren Wagen an die Seite der Straße fahren? Was ich Ihnen sagen will, wird Sie eine oder zwei Minuten in Anspruch nehmen.«

Sie befanden sich gerade an der Endstation der Straßenbahn, am Fuß einer sanften Steigung der glatten Straße, die zwischen den Gärten reicher Villen hinführte. Goade folgte der Bitte des jungen Mannes und stellte den Motor ab.

»Nun, was gibt es?« fragte er.

»Es handelt sich um Ed Thorne, Sir«, sagte der junge Mann. »Sie erinnern sich seiner?«

»Ich kann mich im Augenblick nicht besinnen«, gestand Goade.

»Das ist der junge Mann, der in der nächsten Woche am Donnerstag gehenkt werden soll, wenn der Minister ihn nicht begnadigt. Er hat eines Abends einen Mann im Hof des Gasthauses umgebracht – er schlug ihm mit einem Hammer den Schädel ein.«

»Ich erinnere mich«, sagte Goade. »Was ist mit ihm?«

»Der Mann, Sir, dürfte nicht gehenkt werden«, sagte der junge Bursche in ernstem Ton. »In der Sache ist manches dunkel geblieben. Man stellt es so hin, als wäre Ed ein roher Trunkenbold, der den Hawkins um seine Stelle beneidete. Es steckt mehr dahinter, Sir – mehr, als jemals ans Tageslicht gekommen ist.«

»Ich kann mich auf den Fall nicht genau besinnen«, gestand Goade. »Das kommt bei mir im allgemeinen nur dann vor, wenn es sich um eine klare Sache handelt. Der Thorne hat doch wohl einen Anwalt gehabt?«

»Das schon, Sir – aber er konnte Ed nichts nützen; denn er war nicht dazu zu bringen, seinen Mund aufzutun.«

»Wie heißen Sie?«

»Alfred Mace, Sir.«

»Warum wenden Sie sich denn an mich, Mace?« fragte Goade. »Sein Anwalt ist der einzige Mann, der etwas tun kann. Für ein Eingreifen von anderer Seite ist es zu spät.«

»Die Sache steht so, Sir«, erklärte Mace eifrig. »Gegen den Anwalt läßt sich nichts einwenden, aber Mr. Ernest Bulliver, der die Sache übernommen hat, ist weit mehr Pfarrer als Verteidiger, verstehen Sie? Er ist unbeugsam und steif, als hätte er Pergament verschluckt. Das war nicht der Mann, um Eds Vertrauen zu gewinnen. Er fragte Ed bloß, ob er irgend etwas zu sagen hätte, und Ed sagte ›nein‹. Er machte von sich aus keinen Versuch, herauszufinden, ob sich nicht noch etwas anderes vorbringen ließe. Er nahm Eds Äußerung einfach so hin, und das war so viel, wie überhaupt auf jede Verteidigung zu verzichten. Es wurde eine lange Rede gehalten und allerhand Rechtsfälle wurden angeführt, um die Geschworenen davon zu überzeugen, daß es sich um einen ›Totschlag‹ handelte, und damit war alles geschehen.«

»Ist Ihnen irgend etwas darüber bekannt, was kein anderer weiß?« fragte Goade.

»Eigentlich nicht, Sir,« gab der junge Mann sofort zu, »aber eins steht fest: es gibt etwas, was außer Ed niemand weiß, und das würde der Sache ein ganz anderes Aussehen geben.«

Goade hatte beabsichtigt, in Totnes seinen Lunch einzunehmen. Aber der Ernst des jungen Mannes hatte etwas Zwingendes. Mit einem resignierten Seufzer lehnte er sich in seinem Sitz zurück, zog seine Pfeife hervor und machte sich daran, sie zu stopfen.

»Erzählen Sie mir die Sache«, sagte er.

»Es ist nicht viel, Sir,« meinte Mace, »aber es wird Ihnen wenig Zeit kosten, zu hören, was die Untersuchung ergeben hat. Ed Thorne war Hoteldiener im ›Domwappen‹ gewesen und hatte so etwas wie ein Verhältnis mit Kitty Fields, die dort Zimmermädchen war. Ed war ein lustiger Bursche, liebte Gesellschaft und Unterhaltung. Zuweilen nahm er gerne einen Schluck, aber es war nicht schlimm damit. Dann war dort auch dieser andere Kerl, der Hawkins. Der fuhr den Hotelomnibus. Alles ging ganz gut, bis der anfing, der Kitty Fields den Hof zu machen. Ed begann plötzlich zu trinken, wurde leichtsinnig, und Hawkins bekam seine Stelle. Er ging regelmäßig mit Kitty Fields aus, aber plötzlich änderte sie ihren Sinn – sie wollte von keinem von beiden mehr etwas wissen und sagte, sie würde zu einer Tante nach Kanada gehen. Sie verließ plötzlich das Haus, und vier Tage darauf kam Ed – der eine andere Stelle gefunden hatte, aber nicht gerade ein sehr solides Dasein führte – in den Hof im ›Domwappen‹, mit dem Unglückshammer in der Hand. Er ging direkt auf Hawkins los, sagte ihm ein paar Worte, die kein Mensch gehört hat, und versetzte ihm einen Schlag, der einen Ochsen zu Boden geschmettert hätte. Das war alles.«

»Nun, das klingt recht einfach«, bemerkte Goade. »Es tut mir leid um Ihren Freund, Mace, aber, Sie verstehen, wenn er den Hammer mitbrachte, auf den Mann losging, der ihm seine Stelle weggenommen hatte, und ihn erschlug – nun, das ist doch wohl ein Mord, nicht?«

»Ein Mord, allerdings, Sir«, gab Mace zu. »Das kann ich so wenig in Abrede stellen wie Eds übrige Freunde. Aber es gibt doch – was Sie ›mildernde Umstände‹ nennen? Und dann wird man doch begnadigt, nicht wahr?«

»Allerdings«, stimmte Goade bei, »aber wo sind sie in diesem Fall zu finden?«

Der Küchenchef beugte sich vor, seine schmutzigweißen Hände packten den Rand des Wagenschlags.

»Mr. Goade«, sagte er, »ich habe die feste Überzeugung, daß mehr dahinter steckt. Ed war ganz ruhig, als er die Stelle verloren hatte. Er hat dem Hawkins kein Wort gesagt, und Kitty Fields war fortgegangen. Aber ich kann einen Eid darauf leisten, daß Ed irgendeinen anderen Grund hatte, um Hawkins umzubringen, und dieser andere Grund, der könnte vielleicht die mildernden Umstände ergeben.«

»Warum glauben Sie das?«

»Erstens,« fuhr Mace eifrig fort, »ich stand am Waschküchenfenster, um etwas frische Luft zu schöpfen, und habe Ed kommen sehen. Hawkins schien ihn kaum zu beachten. Er und Ed standen sich auch gar nicht mehr schlecht. Sie hatten am Abend vorher noch zusammen ein Glas getrunken. Also als Ed näher kam und etwas sagte – ich konnte die Worte nicht hören – da sah ich, wie Hawkins zusammenfuhr. Ich sah, wie er blaß wurde vor Schreck, und dann schlug ihn Ed nieder. Gott, das war ein Schlag!« schloß der junge Mann mit leisem Schaudern.

»Und das ist alles?«

»Das ist alles. Aber ich sage Ihnen, Herr, Ed dürfte nicht gehenkt werden. Irgend jemand müßte ihn dazu bringen, zu sagen, was er sonst gegen Hawkins hatte.«

»Ich fürchte, es ist ein recht hoffnungsloser Fall«, entschied Goade langsam.

»Sagen Sie das nicht, Sir«, bat der Küchenchef. »Sie brauchen nur hinzugehen und ein Wort mit Mr. Bulliver zu sprechen. Wenn es nur Gefängnis wäre, würde ich nichts sagen, aber ich habe einen Zuchthauswärter gekannt. Ich hab' es gesehen. Scheußlich!«

Der junge Mann wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war ganz außer sich und zitterte leise, trotz der Hitze. Goade blickte die lange, sonnige Chaussee hinab und seufzte.

»Gut, ich will Ihnen sagen, was ich tun werde«, erklärte er. »Ich kenne Major Manton, den Gefängnisdirektor. Ich will zurückfahren und ein Wort mit ihm sprechen. Aber ich muß Ihnen offen sagen, nach dem, was Sie mir von der Sache erzählt haben, ist, glaube ich, keine Hoffnung vorhanden.«

»Mister,« sagte der andere ernst, »vielleicht ist es so. Ich weiß nur, daß ich ruhiger sein werde, wenn ich den Versuch gemacht habe, die Sache richtigzustellen. Wenn Sie noch irgend etwas von mir wissen wollen, so finden Sie mich im ›Domwappen‹, Sir. Ich habe eigentlich heute keine freie Zeit, aber als ich hörte, daß Sie abreisten, mußte ich Ihnen nachfahren.«

Goade nickte, wandte den Wagen um und fuhr nach Exeter zurück, direkt zum Gefängnis. Dort klingelte er und wurde sofort in Major Mantons Wohnung geführt. Dieser begrüßte ihn mit einiger Überraschung.

»Hallo, Goade!« sagte er. »Ich dachte, Sie wären seit heute früh fort.«

»Ich bin auch ausgefahren,« erwiderte Goade, »wurde aber unterwegs angehalten. Sagen Sie – Sie haben doch einen Mann hier, mit Namen Thorne, der zum Tode verurteilt ist?«

Manton nickte.

»Ja, der arme Kerl wird, fürcht' ich, hängen müssen.«

Goade erzählte von seiner Begegnung. Manton hörte aufmerksam zu, aber seine Miene drückte einen gewissen Zweifel aus.

»Natürlich, wenn noch etwas anderes zwischen den beiden vorgefallen ist,« bemerkte er, als Goade geendet hatte, »ein Umstand, der irgendwie Hawkins belasten könnte, so hätte Thorne einige Aussicht, begnadigt zu werden, schon um des Zeugnisses willen, das ihm im Kriege ausgestellt worden ist. Es war verdammt gut. Aber das war auch das Einzige, was man zu seinen Gunsten geltend machen konnte, und das Gnadengesuch fiel ein wenig mager aus.«

»Wann erwarten Sie die Antwort des Ministeriums?«

»Nun, es bleibt einen oder zwei Tage dort. Warten Sie, heute ist Dienstag. Ich denke, sie werden es wohl bis Sonnabend dabehalten. Wir werden es am Montag wieder hier haben, und, wenn nichts Neues dazwischen kommt, so wird es so gut wie sicher abschlägig beschieden, fürcht' ich.«

»Könnte ich den Thorne vielleicht auf ein paar Minuten sehen?«

»Natürlich, wenn Sie wollen.«

»Ich will lieber alles in guter Ordnung tun«, besann sich Goade, »und zuerst seinen Anwalt sprechen.«

»Bulliver; Sie finden sein Bureau ganz in der Nähe des Hotels; der zweite Eingang. Ein etwas steifer Kerl, der Ernest Bulliver. Wenn Sie sich dazu entschließen, herüberzukommen, um mit Thorne zu sprechen, so seien Sie um drei hier. Ich werde die nötigen Verfügungen treffen.«

Goade ging in das Bureau des Anwalts. Eine Viertelstunde mußte er in dem schmutzigen Wartezimmer bleiben, dessen Wände mit Verkaufsanzeigen und Grundstücksplänen tapeziert waren. Endlich führte ihn ein schmächtiger Jüngling in einen Gang hinaus, öffnete eine Tür und ließ ihn in ein Zimmer treten, das einen feierlich-kahlen Eindruck machte. Ein großer, dünner Mann erhob sich hinter seinem Schreibtisch, um ihn zu begrüßen; er hatte ein blasses Gesicht und schwarzes Haar, das recht lang, aber hinten und an den Seiten geölt und glattgestrichen war. Er sah in seinem dunklen Anzug wie ein Kirchendiener aus.

»Mr. Goade«, sagte er mit einem finsteren Blick auf die Visitenkarte. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Goade setzte sich auf den Stuhl, der ihm angeboten wurde, und legte seinen Hut auf den Tisch.

»Ich habe amtlich nichts mit der Sache zu tun, Mr. Bulliver,« begann er, »obwohl ich, wie Sie aus meiner Karte ersehen, mit Scotland Yard in Verbindung stehe. Aber ich wollte Sie bitten, mir etwas über diesen Thorne zu sagen.«

»Ein ganz hoffnungsloser Fall«, erklärte Mr. Bulliver und lehnte sich ein wenig in seinen Stuhl zurück. »Ich konnte nicht das Geringste zu seiner Verteidigung aus ihm herausbringen. Alles, was er mir vom ersten bis zum letzten Augenblick immer wiederholte, war: Ich wollte den Mann töten und bin froh, es getan zu haben.«

»Er hat wohl den eigentlichen Grund niemals angegeben?«

»Niemals«, erwiderte der Anwalt. »Man muß annehmen, daß es geschah, weil Hawkins seinen Posten weggeschnappt hatte. Menschen dieser Klasse nehmen so etwas meist sehr ernst, und wenn er auch nicht genügend betrunken war, um den Spruch des Gerichts zu beeinflussen, so hat er sich doch zweifellos mit einem Glase Wein zu der Mordtat Mut gemacht.«

»Es war ein Mädchen da,« bemerkte Goade, »an dem beide Männer hingen.«

»Ganz richtig. Ich habe Nachforschungen anstellen lassen. Aber sie war leider vor diesem bedauerlichen Vorfall nach Kanada abgereist, und aus meinen Ermittelungen ergab sich, daß die beiden Männer, nachdem sie das Hotel verlassen hatte, wiederholt zusammen gewesen sind und sich scheinbar recht gut verstanden.«

»Das gibt der Sache ein ganz hoffnungsloses Aussehen«, meinte Goade. »Bei wem lebte das Mädchen hier in England?«

»Bei einem Onkel und einer Tante – Morton mit Namen. Ich kann Ihnen ihre Adresse geben, wenn Sie wünschen. Ich habe sie sogar zufällig im Kopf: One Ash Farm, Trawlee. Trawlee ist ein recht abgelegener Ort, etwa sechzehn Meilen von hier.«

»Ich danke Ihnen sehr«, sagte Goade und erhob sich. »Sie haben doch nichts dagegen, daß ich mit dem Angeklagten spreche, wenn ich es für nötig halten sollte?«

»Nicht das Geringste«, versicherte Mr. Bulliver. »Ein Gnadengesuch ist natürlich schon eingereicht. Ich fürchte aber, das Ergebnis ist hoffnungslos. Guten Tag, Mr. Goade . . .«

Einige Minuten nach drei wurde Goade von dem Direktor in die Verurteiltenzelle geführt, die abseits von den anderen Räumen des Gefängnisses lag und auch etwas größer als die übrigen Zellen war. Thorne, ein hochgewachsener junger Mann mit guten Zügen, aber tiefen Furchen im Gesicht, saß vor einem Tisch an der Seite eines Wärters. Eine Dominoschachtel stand vor ihm, aber sie war nicht geöffnet.

»Thorne,« erklärte Major Manton, »hier ist Mr. Goade von Scotland Yard. Ein Freund von Ihnen hat ihn für Ihren Fall interessiert, und er möchte Ihnen die eine oder andere Frage vorlegen.«

Thornes Mund zog sich zusammen.

»Das ist sehr freundlich von dem Herrn,« sagte er höflich, »aber es hat keinen Zweck, mir Fragen zu stellen. Ich habe nichts weiter zu sagen.«

Goade setzte sich auf eine Bank gegenüber. Einen Augenblick betrachtete er schweigend den Verurteilten.

»Haben Sie Verwandte, Thorne?« fragte er.

»Keine sehr nahen, Sir.«

»Nah oder entfernt, in so einem Fall sollten Sie an sie denken«, bemerkte Goade. »Sie wissen wohl, daß ein Gnadengesuch eingereicht ist. So wie die Dinge im Augenblick liegen, muß ich Ihnen aufrichtig sagen, wird es kaum bewilligt werden.«

»Ich habe nie damit gerechnet, Sir.«

»Um denen, die für Ihr Leben zittern, eine Hoffnung zu geben, müßten mildernde Umstände aufgedeckt werden, die bei Ihrer Tat vorlagen. Gibt es solche?«

»Ich könnte keinen anführen, Sir«, lautete die feste Antwort. »Der Hund verdiente zu sterben und ist tot.«

»Warum verdiente er zu sterben?« fragte Goade.

»Das ist meine Sache, Sir.«

»Ihre Weigerung, auf diese Frage zu antworten,« sagte Goade, »wird Ihnen die letzte Möglichkeit nehmen, Ihr Leben zu retten. Begreifen Sie das?«

»Vollkommen.«

»Es hat keinen Zweck, Ihren Sinn im letzten Augenblick zu ändern,« sagte Goade mit ernster, warnender Stimme, »zum Beispiel, in der Nacht, bevor Sie sterben müssen. Es wäre zu spät. Verstehen Sie, was dieses ›zu spät‹ heißt?«

»Ja«, sagte Thorne, beinahe in drohendem Ton. »Ich habe dem Tode im Felde fast jeden Tag ins Auge gesehen, wenn es galt, einen oder zwei Feinde, die ich nicht einmal persönlich haßte, zu töten. Ich werde es viel fröhlicher tun, in dem Bewußtsein, einen Menschen aus der Welt geschafft zu haben, der kein Recht hatte zu leben.«

Goade erhob sich mit Widerstreben.

»Sie wollen mir nicht sagen, was Ihre letzten Worte waren, die Sie zu Hawkins sprachen, bevor Sie ihn töteten?«

Zum erstenmal verriet Thorne ein Zeichen von Erregung.

»Es war doch keiner da, der sie gehört hat?« fragte er schnell.

»Keiner hat sie gehört,« gab Goade zu, »aber der kleine Küchenchef im ›Domwappen‹ – Alfred Mace – stand am Waschküchenfenster und hörte Sie etwas sagen.«

Thorne war sichtlich erleichtert. Er lächelte sogar.

»Der gute, kleine Alf!« murmelte er. »Ein braver Kerl! Ich will wetten, er hat Sie hergeschickt.«

»Jawohl«, gab Goade zu. »Was sagten Sie zu Hawkins? Heraus damit, Thorne. Seien Sie nicht verstockt. Machen Sie den Versuch! Das Leben hat für einen jungen Mann wie Sie seinen Wert.«

Thorne schüttelte den Kopf.

»Sie meinen es gut, Sir«, sagte er, »aber Sie verlieren Zeit und Worte.«

Der Direktor steckte seine Uhr ein. Er legte die Hand auf Goades Schulter.

»Ich fürchte, unsere Zeit ist um«, erklärte er.

»Und die Sache verloren«, bemerkte Thorne. »Nichts für ungut, Sir,« fügte er zu Goade gewandt hinzu, »aber ich habe mit allem abgeschlossen, und es ist nicht gut für mich, wenn ich gezwungen werde, nachzudenken. Meinetwegen könnte der nächste Donnerstag schon morgen sein.«

Sie verließen ihn; besonders Goade tat es mit Bedauern. Aber es blieb nichts anderes übrig.

»Ein hoffnungsloser Kerl«, bemerkte der Direktor. »Ich wünschte bei Gott, wir könnten etwas tun, um ihm zu helfen. Mir graut vor meiner Amtspflicht am Donnerstag.«

»Ich wollte, ich könnte Sie davon befreien«, sagte Goade nachdenklich. »Der Bursche gefällt mir . . .«

Um fünf Uhr desselben Nachmittags hielt Goade mit seinem Auto vor der Eingangstür eines Pächterhauses, das so armselig und finster aussah, wie er es in der ganzen Grafschaft nicht dürftiger bemerkt hatte. Vor der einfachen, weißgetünchten Vorderseite war kein Garten, überhaupt keine Anpflanzung zu sehen. Nur Unkraut wucherte überall, sogar auf den Mauern, und alles hatte ein ärmliches Aussehen. Auf Goades Rufen erschien nach einer Weile ein großer, breitschulteriger Mann mit weißem Voll- und Schnurrbart, finsterer Stirn und abstoßendem Gesichtsausdruck.

»Mr. Morton?« fragte Goade.

»Das ist mein Name«, erwiderte der Mann. »Ich kenne Sie nicht.«

»Mein Name ist Goade. Kann ich einen Augenblick hereinkommen? Ich möchte ein Wort mit Ihnen sprechen.«

»Worüber?« fragte der Pächter. »Wenn Sie wegen der Maschinen kommen –«

»Nein«, unterbrach ihn Goade. »Ich möchte Sie wegen Ihrer Nichte, Kitty Fields, sprechen.«

Der Mann trat von der Tür zurück und ging in die Küche voran. Dort saß eine Frau auf einem Stuhl mit hoher Lehne und strickte. Auf dem nackten Steinfußboden stand ein Tisch und ein Küchenschrank aus gewöhnlichem Kiefernholz. Nicht einmal vor dem Feuer war ein Teppich zu sehen. Der ganze Raum entsprach dem Äußeren des Hauses – er war kalt und ärmlich. Der Pächter wies mit dem Daumen auf Goade.

»Er kommt wegen Kitty.«

»Was ist mit ihr?« fragte die Frau. »Sie ist in Kanada.«

»Wollen Sie mir, bitte, ihre Adresse geben«, bat Goade.

»Warum?« fragte der Pächter.

»Ich darf es im Augenblick nicht sagen«, erwiderte Goade mit Vorsicht. »Es soll jedenfalls nicht ihr Schade sein.«

Das klang fast so wie eine amtliche Mitteilung. Die Augen des alten Mannes blitzten auf. Die Frau legte ihr Strickzeug hin.

»Sollte es eine Erbschaft sein?« fragte er.

»Sicher die alte Margaret von drüben in Parracombe«, fuhr die Frau fort. »Sie hatte einen tüchtigen Batzen.«

Goade schwieg. Die Frau erhob sich und zog von dem Kaminsims unter einer Teekanne einen Briefumschlag hervor.

»Hier ist die Adresse«, sagte sie.

»Es ist gewaltig weit von hier«, bemerkte der Pächter. »Ein Brief geht zehn Tage hin und die Antwort zehn Tage zurück. Können wir nichts in der Sache tun?«

Goade steckte den Brief sorgsam in seine Tasche und vermied eine direkte Antwort.

»Haben Sie von Ihrer Nichte seit ihrer Ankunft in Kanada irgend etwas gehört?« fragte er.

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Kitty hatte nicht viel Schulbildung«, sagte sie, »aber sie wird schon einmal schreiben.«

»Mit welchem Schiff ist sie gefahren?« fuhr Goade fort.

»Es war das Schiff, das am ersten Juli von Southampton abfuhr«, erklärte der Alte. »Arrytoba oder so was ähnliches.«

»Und wann ist Ihre Nichte von hier weggefahren?«

»Zwei Tage vorher. Sie wollte aus irgendeinem Grunde nicht nach Exeter und mußte daher den Zug von Foulsham nehmen. Sie hat am Donnerstag ein Fuhrwerk nach Foulsham genommen, da das Schiff am Sonnabend abging.«

»War Ihre Nichte verlobt?« fragte Goade.

»Soviel ich weiß, nicht«, antwortete die Frau in etwas störrischem Ton. »Sie sprach niemals viel über ihre Angelegenheiten.«

»Hat sie nicht, zum Beispiel, einen jungen Mann, namens Hawkins und einen anderen, Ed Thorne, mit Namen, erwähnt?«

»Sie hat überhaupt nie von einem jungen Mann gesprochen«, erklärte der Pächter. »Könnte es vielleicht eine Erbschaft sein?« fragte er noch einmal, mit einem schlauen Blitz in den Augen.

»Vielleicht komme ich noch einmal her«, erwiderte Goade. »Dann will ich Ihnen mehr darüber sagen.«

Er nahm Abschied und freute sich, als er wieder in der frischen Luft war. Flip kehrte gerade von einer Entdeckungsreise zurück: sie flüchtete vor einigen Gänsen, die sie verfolgten, um die Ecke des Hauses. Der Pächter und seine Frau blieben in der Küche sitzen und sahen einander mit eisigem Schweigen in die Augen . . .

Vier herrliche Sommertage vergingen, an denen Flip unter Heuschobern nach Ratten schnüffeln durfte oder ihren kleinen runden Körper in die allzu engen Zufluchtslöcher schlauer Kaninchen hatte zwängen können. Goade selbst hätte gerne den Versuch gemacht, die Schatten der Dartmoorheide, die stillere Schönheit geschützter Landhäuser oder die Purpurpracht der umgebenden Höhen malerisch wiederzugeben. Das Schicksal hatte es jedoch anders gefügt. Flip und ihr Herr blieben in Exeter: erstere gab offen und ehrlich zu erkennen, daß sie sich langweilte; letzterer fühlte sich, als er die Bruchteile einer recht alltäglichen Begebenheit Stück für Stück zusammenfügte, oft ein wenig ermattet, aber dennoch immer von der Hoffnung erfüllt, ein Menschenleben retten zu können. Am Abend des vierten Tages glaubte er sich berechtigt, eine Spezialdepesche an seinen Chef in Scotland Yard abzusenden:

»Bitte Minister in Sachen Gnadengesuch Edward Thorne aufsuchen, der im Exeterzuchthaus Todesstrafe erwartet. Alles soll in statu quo bleiben, bis Sie morgen oder übermorgen Näheres von mir hören. Neue Umstände können vielleicht Entscheidung beeinflussen.«

Am fünften Tage klopfte Goade an die ungastliche Tür der One Ash Farm. Der Pächter, der vom Heuboden kam, sah in seiner fadenscheinigen Samthose noch verwahrloster aus.

»Sind Sie wieder da?« fragte er in feindseligem Ton. »Haben Sie eine Nachricht über die Erbschaft?«

Goade warf ihm einen kalten Blick zu: der Mann mit den gierig funkelnden Augen, den harten, dünnen Lippen, sah seltsam gedrückt aus. Die Vordertür öffnete sich, und die Frau des Pächters zeigte sich ebenfalls. Sie hielt eine Kartoffel in der einen und ein Schälmesser in der anderen Hand.

»Handelt es sich um die Erbschaft?« fragte sie und blickte ihn durch die Gläser ihrer Stahlbrille an.

»Ich bringe Ihnen Nachrichten von Ihrer Nichte«, erwiderte Goade.

»Aus Kanada?« fragte der Alte.

Goade schüttelte den Kopf.

»Ihre Nichte«, sagte er, »ist niemals nach Kanada gefahren.«

»Wie?«

»Sie ging von hier fort, wie Sie mir erzählten, um ein Fuhrwerk nach Foulsham zu nehmen. Dem Fuhrmann sagte sie, daß sie auf den Autobus warten wollte. Sie hat den Dampfer Arizona nicht bestiegen und ist nie nach Kanada gekommen. Sie hat sich nicht weiter als eine Viertelstunde von hier entfernt.«

Der Pächter und seine Frau rückten einander näher.

»Woher wissen Sie das alles? Wer sind Sie?« fragte der Alte.

»Ich bin ein Detektivbeamter von Scotland Yard«, sagte Goade, »und habe im Interesse des armen Mannes, der zum Tode verurteilt im Zuchthaus von Exeter sitzt, Nachforschungen über Ihre Nichte angestellt. An dem Abend, als sie Ihr Haus verließ, ging sie nicht weiter als bis zu dem Sumpfloch, das Sie den ›bodenlosen Teich‹ nennen, jenseit des Weges. Dort hat sie sich ertränkt. Die Leiche wird jetzt hergebracht.«

Er wies auf eine kleine Schar Männer, die den baumlosen, steinigen Fahrweg heraufkam. Die Knöpfe der Uniformen blitzten in der Sonne. Sie trugen ein Holzbahre, auf dem eine mit einem groben Tuch bedeckte Gestalt lag. Der Pächter schauderte.

»Was sich an dem Abend, bevor sie fortging, zwischen Ihnen beiden und ihr abgespielt hat,« fuhr Goade fort, »wird wohl kein Mensch jemals erfahren. Vielleicht haben Sie alles verstanden, vielleicht auch nicht. Aber die Aufnahme, die Sie der Lebenden verweigert haben, werden Sie der Toten wohl kaum versagen können.«

Der Pächter tastete sich nach der Tür und hielt sie weit offen. Der Trauerzug überschritt die Schwelle. Goade warf seinen Motor an und Faulkener, der mit ihm in den Wagen stieg, nahm Flip auf seinen Schoß.

»Ich habe den diensttuenden Kriminalinspektor dagelassen«, sagte er. »Es gibt hier nichts mehr zu tun. Sie haben den Brief?«

»Ich hab' ihn in meiner Blechbüchse für Angelfliegen«, erwiderte Goade. »Die Tinte ist natürlich auseinandergeflossen und alles ist schmutzig und durchweicht. Aber ich hoffe, wir werden trotzdem etwas damit anfangen können. Die Adresse ist jedenfalls ganz deutlich.«

»An Hawkins?« fragte Faulkener.

»An Hawkins«, bestätigte Goade.

Faulkener, der selbst eine Limousine besaß, auf die er recht stolz war, hielt sich am Wagenrand fest. Er rutschte auf dem glatten Polster und wurde arg gerüttelt.

»Sagen Sie, Goade,« jammerte er, »warum schaffen Sie sich nicht einen anständigen kleinen Wagen an?«

Goade lachte leise. Flip, die sich äußerst unbehaglich fühlte, streckte den Kopf vor, um seine Hand, die das Steuer hielt, zu lecken.

»Wahrscheinlich aus demselben Grunde,« erwiderte er, »aus dem ich auch keinen besonderen Wert auf einen ganz reinrassigen Hund lege . . .«

Am späten Nachmittag des folgenden Tages gab es in der Zelle des Verurteilten, der allmählich in einen mumienhaften Zustand versunken war, eine leichte Erregung. Ein Wärter hatte von draußen irgend etwas gemeldet. Der andere, der beim Verbrecher Wache hielt, stand auf und warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

»Der Direktor«, verkündete er.

Thorne erhob sich langsam. Er hatte schon so oft in seiner Einbildung die schrecklichen Augenblicke durchlebt, die seine Wärter ihm mit der besten Absicht beschrieben hatten! Der Direktor trat ein, aber was er sagte, hatten die Wärter nicht erwartet.

»Thorne,« verkündete er, »ich bin froh, Ihnen sagen zu können, daß der Minister Ihr Gnadengesuch freundlich aufgenommen hat. Ihr Urteil ist in eine Zuchthausstrafe umgewandelt worden.«

Thorne stand da: seine Hände und sein Gesicht zuckten. In seinen Augen zeigte sich ein seltsamer Glanz. Er schien durch die Mauern hindurch Sonnenlicht zu sehen. Direktor Manton sagte, wenn er später auf diesen Augenblick zu sprechen kam, daß er sich nie so klein gefühlt hätte.

»Begnadigt!« wiederholte Thorne. »Warum?«

Der Direktor trat einen Schritt vor. Er beugte sich zu dem verwirrten Mann, und seine Stimme klang sehr freundlich.

»Thorne,« fuhr er fort, »jetzt kommt eine schlimme Nachricht. Die junge Frau, mit der Sie einmal befreundet waren – Kitty Fields – hat sich in der Nähe der Farm ihres Onkels in einem Teich ertränkt. Bei der Leiche fand sich ein Brief, der an Hawkins adressiert war, den Mann, den Sie getötet haben.«

Der Verurteilte schien etwas von seiner ungeheuren Kraft zu verlieren. Ein Zittern überfiel ihn. Der Direktor machte dem Wärter ein Zeichen, und beide halfen ihm auf einen Stuhl.

»Setzen Sie sich, Thorne«, sagte der Direktor. »Der Brief war eine furchtbare Anklage gegen Hawkins. Sie erwähnte, daß sie Ihnen geschrieben und die Wahrheit mitgeteilt hätte, daß sie ein Kind erwartete. Was haben Sie mit diesem Brief getan?«

»Als ich Hawkins getötet hatte, hab' ich den Brief verschluckt«, gestand Thorne nach kurzem Zaudern. »Eine Viertelstunde, nachdem ich den Brief gelesen hatte, hab' ich ihn umgebracht.«

Es trat eine Stille ein. Seit dem Augenblick, als er die Verurteiltenzelle betrat, hatte der Mann nie eine Schwäche gezeigt. Manton sah den Zusammenbruch kommen und wandte sich ab.

»Wir werden Sie nicht so lange hier behalten, wie Sie glauben, Thorne«, sagte er mit leicht erhobener Stimme. »Es stehen Ihnen später noch Jahre der Freiheit bevor. Sie können ihn gleich in eine andere Zelle bringen«, wandte er sich an einen der Wächter. »Sorgen Sie gut für ihn« . . .

Goade lenkte den Wagen an die Seite der Straße und hielt. Sie befanden sich etwa zwanzig Meilen von Exeter in einer herrlichen Gegend. Auf der einen Seite war eine Hecke, an der noch späte Geißblattblüten herabhingen; auf der anderen ein goldenes Kornfeld. Flip schoß auf eine Garbe zu, die vielversprechend aussah, und begrüßte ein aufspringendes Kaninchen mit freudigem Gebell. Goade schlenderte ihr nach, warf sich auf die Stoppeln nieder und holte aus seinem Rucksack ein Feldfläschchen mit Whisky, eine Selterflasche, einen Becher, seine Pfeife und den Tabaksbeutel hervor. Dann mischte er sich seinen Trank mit der Miene eines Mannes zurecht, der ihn wohl verdient hat. Außer Flips entzücktem Kläffen hörte man nur noch das Zwitschern einiger Vögel in der Hecke und in der Ferne das Summen einer Kornschneidemaschine.

»Nun, Gott sei Dank, diesmal sind wir frei und ungestört!« brummte Goade, als er den Becher an die Lippen hob.

 


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