E. Phillips Oppenheim
Nicholas Goade, der Detektiv
E. Phillips Oppenheim

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2

Nicholas Goade war ohne Zweifel ein Detektiv ersten Ranges, aber als Reisender auf Seitenwegen in Devonshire, mit einer Karte und einem Kompaß als einzigen Hilfsmitteln, taugte er nicht viel. Nachdem er zwei Stunden lang zwecklos in Regen und Kälte herumgefahren war, sah ihn sogar Flip, die kleine, fette, weiße Hündin, die sich in die Reisedecke verkrochen hatte, mit einem vorwurfsvollen Blick an. Mit einem leisen Ruf der Verzweiflung brachte Goade sein Auto auf der Höhe eines der steilsten Hügel, der je einem Fordwagen, zugemutet worden war, zum Stehen und blickte sich um. Nach allen Seiten bot sich ihm die gleiche Aussicht: unabsehbare Strecken von Weideland, die nur von unglaublich tiefen, bewaldeten Schluchten unterbrochen wurden. Nirgends eine Spur menschlicher Arbeit, und kein einziges Fuhrwerk war ihm begegnet. Kein Dorf, kein Wegweiser, kein Obdach irgendwelcher Art. Nur Regen war im Überfluß vorhanden – Regen und Nebel. Graue Streifen hingen über den Weiden, verdeckten jeden hoffnungsvollen Lichtblick in die Ferne und hüllten den ganzen Horizont in dichte Finsternis. Und gleichzeitig mit dem Nebel rieselte ein gleichmäßiger Regen vom Himmel herab. Am frühen Nachmittag, als er schräg auf die Berglehne fiel, konnte man ihn erfrischend schön finden, aber jetzt hatte er schon lange jeden Reiz verloren und war nur durchdringend kalt und feucht zu nennen. Flip, deren Nase allein sichtbar war, schnüffelte mit unverkennbarem Widerwillen umher und Goade, der seine Pfeife anzündete, fluchte leise, aber unaufhörlich vor sich hin. Das war eine Gegend! Meilenlange Nebenwege ohne einen einzigen Wegweiser und endlose Landstrecken ohne ein einziges Dorf oder Haus! Und die Karte! Goade verfluchte feierlich den Zeichner, den Drucker und den Buchhändler, der sie ihm verkauft hatte. Als er damit zu Ende war, ließ Flip ein leises Bellen der Zustimmung hören.

»Irgendwo hier in der Nähe«, brummte Goade vor sich hin, »sollte das Dorf Nidd liegen. Der letzte Wegweiser in dieser verdammten Gegend gab sechs Meilen bis Nidd an. Wir haben seitdem mindestens zwölf zurückgelegt, ohne einen Abweg nach rechts oder links, und von dem Dorf ist nichts zu sehen.«

Seine Augen suchten die zunehmende Dunkelheit zu durchdringen. Die Wolken schienen sich hier und da ein wenig zu heben und einen Durchblick zu gestatten; aber meilenweit konnte er keine menschliche Behausung entdecken. Er dachte an die lange Strecke, die sie hinter sich hatten, und bei dem Gedanken wieder zurückzufahren schauderte er. Als er sich über den Kühler beugte, in dem das Wasser kochte, traf ein schwacher Lichtschimmer aus weiter Ferne sein Auge. Im Nu sprang er aus dem Wagen, kletterte auf den Steinwall an der Straße und spähte eifrig in der Richtung, aus der der Strahl zu kommen schien. Kein Zweifel: das war ein Lichtschein, dort mußte ein Haus liegen. Seine Augen vermochten sogar einen Weg zu unterscheiden, der dahin führte. Er kletterte auf seinen Sitz zurück, stellte den Motor an, fuhr einige fünfzig Schritt und hielt vor einem Tor. Der Weg dahinter war furchtbar, aber die Fahrstraße auch nicht viel besser. Er öffnete das Tor und fuhr hindurch, nur von dem Wunsche erfüllt, ein Obdach zu finden. Wenn hier überhaupt Wagen fuhren, so konnten es nur die groben, federlosen Bauernwagen mit großen Rädern sein, wie er sie in der ganzen Gegend vielfach bemerkt hatte. Langsam fuhr er vorwärts, an einem tiefen Berghang hin, dann zu seiner Freude an einem halbbebauten Feld vorbei, durch ein zweites Tor hindurch, das direkt in die Wolken zu führen schien, und einen phantastischen Serpentinenweg hinab, bis er plötzlich das Licht gerade vor sich sah. Nachdem er einen verwahrlosten Garten durchfahren hatte, mußte er vor einem Eisentor halten, das er öffnete und sorgfältig wieder hinter sich schloß. Dann ging es einige Schritte auf einer durchweichten, grasbewachsenen Allee dahin, und endlich befand er sich vor dem Eingang eines Gebäudes, das einmal ein ganz ordentliches Landhaus gewesen sein mochte, jetzt aber einen verwahrlosten Eindruck machte, trotz des flackernden Lichtes, das den oberen Stock erleuchtete.

Seine Hoffnung auf einen freundlichen Empfang war gering, aber der bloße Gedanke unter ein schützendes Dach zu kommen, schien Goade eine Erlösung. Er stieg aus und klopfte an die verfallene Eichentür. Sofort glaubte er drinnen das Anbrennen eines Streichholzes zu hören; der Schein einer Kerze fiel durch die vorhanglosen Fenster eines Zimmers zu seiner Linken. In der Vorhalle wurden Schritte hörbar und die Tür öffnete sich. Goade sah eine Frau vor sich, die die Kerze so hoch über ihren Kopf hielt, daß er nur wenig von ihrem Gesicht sehen konnte. Aber auf den ersten Blick bemerkte er in ihrer Erscheinung eine gewisse Würde.

»Was wünschen Sie?« fragte die Frau.

Goade, der den Hut abnahm, dachte, daß die Antwort recht nahe läge. Der Regen floß in Strömen von seinem langen Regenmantel. Sein Gesicht war ganz durchfroren.

»Ich bin ein Reisender, der den Weg verloren hat,« erklärte er. »Seit vier Stunden bin ich auf der Suche nach einem Dorf und einem Gasthaus. Ihr Haus ist die erste menschliche Wohnung, die ich sehe. Kann ich hier eine Unterkunft für die Nacht finden?«

»Sind Sie allein?« fragte die Frau.

»Ich habe nur meinen kleinen Hund bei mir«, erwiderte er. Flip ließ ein hoffnungsvolles Bellen hören.

Die Frau überlegte.

»Fahren Sie lieber Ihren Wagen in den Schuppen auf der linken Seite des Hauses«, sagte sie. »Dann können Sie hereinkommen. Wir wollen für Sie tun, was wir können. Es ist nicht viel.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame«, beteuerte Goade in aufrichtigem Ton.

Er fand den Schuppen, in dem nur zwei ganz verfallene Bauernkarren zu sehen waren.

Dann ließ er Flip frei und kehrte zur Eingangstür zurück, die offen stand. Das Knistern eines Holzfeuers wies ihm den Weg in eine gewaltige Küche mit Steinfußboden. Vor dem Feuer saß in einem Stuhl mit hoher Lehne eine andere Frau. Ihre Hände ruhten auf den Knien, aber sie blickte erwartungsvoll auf ihn. Sie war schon über die mittleren Jahre hinaus, aber sie hatte doch noch etwas Auffallendes in ihrer Erscheinung und feine Gesichtszüge. Die Frau, die Goade eingelassen hatte, stand über das Feuer gebeugt. Er blickte überrascht von der einen zur anderen. Sie sahen einander unglaublich ähnlich.

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, meine Damen, mir ein Obdach zu gewähren«, begann er. »Flip! Benimm dich, wie es sich gehört!«

Ein großer Schäferhund hatte vor dem Feuer gelegen. Flip war, ohne zu zögern, mit heftigem Gebell auf ihn zugelaufen. Der Hund erhob sich mit dem Ausdruck milder Überraschung und blickte fragend auf den kleinen Eindringling. Flip legte sich auf die freigewordene Stelle an das Feuer, streckte sich tief befriedigt aus und schloß die Augen.

»Ich muß für meine kleine Hündin um Entschuldigung bitten«, sagte Goade. »Sie ist fast erfroren.«

Der Schäferhund zog sich einige Schritte zurück und setzte sich auf die Hinterbeine, um die Sache zu überlegen. Inzwischen holte die Frau, die Goade geöffnet hatte, aus einem Büfett eine Tasse mit einer Unterschale, ein Brot und ein Stück Speck hervor, von dem sie einige Scheiben abschnitt.

»Ziehen Sie Ihren Stuhl ans Feuer«, sagte sie. »Wir haben Ihnen nur sehr wenig vorzusetzen, aber ich will etwas Essen zurechtmachen.«

»Sie sind wirklich barmherzige Samariterinnen«, erklärte Goade dankbar.

Er setzte sich der Frau gegenüber, die noch kaum ein Wort gesprochen hatte und ihn unverwandt ansah. Dieses Schweigen war ebenso erstaunlich wie die Ähnlichkeit der beiden Frauen. Sie trugen beide gleiche schwere, weite Gewänder, die vorn mit einer Brosche geschlossen waren. Ihr leicht ergrautes, schwarzes Haar zeigte die gleiche Frisur. Ihre Tracht, ihr Benehmen, ihre Sprache schienen einer anderen Welt anzugehören, aber beide hatten etwas seltsam Vornehmes an sich.

»Darf ich fragen,« bemerkte Goade, »wie weit es bis zum Dorfe Nidd ist?«

»Nicht weit«, antwortete die Frau, die ihm regungslos gegenüber saß. »Für jeden, der den Weg kennt, recht nah. Fremde sollten nicht so töricht sein, sich auf solche Wege zu begeben. Viele finden sich nicht mehr zurecht.«

»Sie wohnen recht einsam«, bemerkte er.

»Wir sind hier geboren«, erwiderte die Frau. »Weder meine Schwester noch ich haben jemals Lust verspürt zu reisen.«

Der Speck brodelte auf der Pfanne. Flip öffnete ein Auge, leckte sich die Schnauze und setzte sich auf. In wenigen Minuten war das Mahl fertig. Ein Eichenstuhl mit hoher Lehne wurde ans Ende des Tisches gestellt. Es gab Tee, eine Schüssel Speck mit Spiegeleiern, ein großes Brot und einen kleinen Topf mit Butter. Goade nahm Platz.

»Sie haben schon zu Abend gegessen?« fragte er.

»Schon lange«, erwiderte die Frau, die das Essen bereitet hatte. »Bitte greifen Sie zu.«

Sie setzte sich auf den anderen Eichenstuhl, ihrer Schwester gerade gegenüber. Goade, mit Flip an seiner Seite, begann seine Mahlzeit: seit vielen Stunden hatten beide nichts gegessen und eine Zeitlang waren sie ganz in ihre angenehme Tätigkeit vertieft. Erst als sich Goade die zweite Tasse Tee einschenkte, warf er wieder einen Blick auf die beiden Frauen. Sie hatten ihre Stühle ein wenig vom Feuer abgerückt und betrachteten ihn beide, – ohne Neugier, aber mit seltsam gespannter Aufmerksamkeit. Zum erstenmal fiel ihm auf, daß sie noch kein Wort miteinander gewechselt hatten.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut das schmeckt«, begann Goade wieder. »Ich fürchte, Sie müssen mich für furchtbar gefräßig halten.«

»Sie haben vielleicht seit längerer Zeit nichts zu sich genommen«, sagte die eine.

»Seit zwölf Uhr.«

»Reisen Sie zum Vergnügen?«

»Vor dem heutigen Tag war ich dieser Meinung«, antwortete er mit einem Lächeln, das keine von beiden erwiderte.

Die Frau, die ihn empfangen hatte, rückte ihren Stuhl etwas näher. Er bemerkte, daß die Schwester sofort dasselbe tat.

»Wie heißen Sie?«

»Nicholas Goade«, erwiderte er. »Darf ich fragen, wem ich für diesen freundlichen Empfang zu danken habe?«

»Ich heiße Mathilda Craske,« erklärte die erste.

»Und ich Annabelle Craske,« erklang es wie ein Echo.

»Sie leben hier allein?« fragte er.

»Ganz allein«, bestätigte Mathilda. »Das ist unsere Freude.«

Goade war überrascht. Ihre Sprache zeigte den Tonfall und die undeutliche Aussprache der Vokale, die für Devonshire charakteristisch sind, war aber sonst beinahe erstaunlich korrekt. Der Gedanke, daß sie allein in einer so verlassenen Gegend lebten, schien ihm unglaublich.

»Sie treiben hier wohl Landwirtschaft?« fragte er weiter. »Sind Bauerngehöfte oder sonst Siedlungen in der Nähe?«

Mathilda schüttelte den Kopf.

»Das nächste Haus«, versetzte sie, »ist drei Meilen entfernt. Wir haben die Landarbeit aufgegeben. Wir besitzen fünf Kühe – die uns keine Mühe machen – und etwas Geflügel.«

»Ein einsames Dasein«, bemerkte er leise.

»Wir finden es nicht einsam«, sagte Annabelle in etwas starrsinnigem Ton.

Er drehte ihnen seinen Stuhl zu. Flip sprang mit einem zufriedenen Knurren auf seinen Schoß.

»Wo machen Sie Ihre Einkäufe?« fragte er.

»Jeden Samstag«, sagte Mathilda, »kommt ein Fuhrmann aus Exford. Wir brauchen nicht viel.«

Der große Raum, in dem, wie er bemerkte, auffallend wenig Möbel standen, wurde von einer einzigen Öllampe nur spärlich erleuchtet. Die beiden Frauen selbst saßen halb im Schatten. Aber beim Flackern des Kaminfeuers konnte er sie von Zeit zu Zeit etwas deutlicher sehen. Sie schienen ihm zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt zu sein und so unheimlich ähnlich, daß sie unbedingt Zwillingsschwestern sein mußten. Er fragte sich nach ihrem Lebensschicksal. Sie schienen einmal sehr schön gewesen zu sein.

»Wird es vielleicht möglich sein,« fragte er nach einer längeren Pause, »Ihre Gastfreundschaft noch weiter in Anspruch zu nehmen und um ein Sofa oder Bett für diese Nacht zu bitten? Jeder Platz ist mir recht«, fügte er schnell hinzu.

Mathilda erhob sich, nahm eine Kerze vom Ofensims und zündete sie an.

»Ich will Ihnen zeigen,« sagte sie, »wo Sie schlafen können.«

Einen Augenblick wurde Goades Aufmerksamkeit rege. Er sah zufällig auf Annabelle und bemerkte plötzlich einen eigentümlichen Ausdruck, beinahe etwas wie Bosheit, auf ihrem Gesicht. Ganz verblüfft suchte er im Halbdunkel ihre Züge deutlicher zu erkennen. Aber der Ausdruck war schon wieder verschwunden, wenn er überhaupt dagewesen war. Sie sah ihn gleichmütig an; in ihrem Blick lag etwas, was er nicht verstand, aber keine Bosheit.

Mathilda lud ihn ein, ihr zu folgen. Goade erhob sich. Flip nahm von dem großen Schäferhund mit einem letzten, herausfordernden Gebell Abschied, das aber gar keinen Eindruck machte, und folgte ihrem Herrn. Sie durchschritten eine geräumige, beinahe leere Halle und stiegen auf einer breiten Eichentreppe in den ersten Stock hinauf. Vor dem Zimmer, aus dem der Lichtschein kam, der Goade zuvor aufgefallen war, stand sie einen Augenblick still und lauschte.

»Sie haben noch einen Gast?« fragte er.

»Annabelle hat einen Gast«, versetzte sie. »Sie sind mein Gast. Bitte, kommen Sie.«

Sie führte ihn in ein Schlafzimmer, in dem sich wenig mehr als ein Riesenbett befand, setzte die Kerze auf den Tisch und nahm einen alten Überzug ab, der das Bettzeug bedeckte. Sie befühlte das Bettuch und nickte beifällig. Goade folgte unwillkürlich ihrem Beispiel. Zu seinem Erstaunen fand er das Bett warm. Sie wies auf einen großen Bettwärmer am Fußende.

»Sie erwarteten jemand heute abend?« fragte er neugierig.

»Wir sind immer darauf vorbereitet«, antwortete sie.

Ohne ihm Gutenacht zu wünschen, verließ sie das Zimmer. Er rief ihr einige freundliche Worte nach, aber sie gab keine Antwort. Er hörte ihre leichten Schritte, als sie die Treppe hinabstieg. Dann herrschte tiefe Stille im ganzen Haus. Flip, die im Zimmer herumschnüffelte, gab einige Zeichen von Erregung und ließ von Zeit zu Zeit ein leises Knurren hören. Goade öffnete das Fenster und zündete eine Zigarette an.

»Ich wüßte nicht, was ich der guten Frau vorzuwerfen hätte«, sagte er vor sich hin. »Ein sonderbarer Ort.«

Draußen war nichts zu sehen und wenig zu hören, außer dem Tosen eines nahen Wasserfalls und dem Prasseln des Regens. Plötzlich fiel ihm sein Reisesack ein: er ließ die Tür seines Zimmers offen und stieg die Treppe hinab. In der großen Küche saßen die beiden Frauen genau in derselben Stellung wie bei seiner Ankunft und während der Mahlzeit. Beide sahen ihn an, aber keine sagte ein Wort.

»Wenn Sie erlauben,« bemerkte er zur Erklärung, »will ich meinen Reisesack aus dem Wagen holen.«

Mathilda, die Frau, die ihn hereingelassen hatte, nickte zustimmend. Er trat in die Finsternis hinaus, fand den Weg bis zum Schuppen und band seinen Koffer los. Im Weggehen fuhr er mit der Hand in den Werkzeugkasten und zog eine elektrische Taschenlampe daraus hervor, die er in seinen Rock gleiten ließ. Als er wieder in das Haus trat, sah er die Frauen noch immer schweigend auf ihren Stühlen sitzen.

»Eine furchtbare Nacht,« sagte er zu ihnen, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich für dieses Obdach bin.«

Beide sahen ihn an, ohne ein Wort zu erwidern. Als er sein Zimmer erreicht hatte, schloß er die Tür und bemerkte zu seiner unangenehmen Überraschung, daß sie nicht verschließbar war. Dann lachte er vor sich hin. Er, der Ned Bullivant gefangen und zwanzig Kämpfe mit desperaten Verbrechern bestanden hatte, sollte sich in diesem einsamen Landhause fürchten, das zwei seltsame Frauen bewohnten!

»Es war Zeit, daß ich einen Urlaub nahm«, brummte er vor sich hin. »Wir beide wissen nicht, was Nerven sind, nicht wahr, Flip?« fügte er hinzu und schlug die Bettdecke auf.

Flip knurrte leise. Goade war erstaunt. »Irgend etwas gefällt ihr nicht«, sagte er nachdenklich. »Wer mag in dem erleuchteten Zimmer sein?«

Noch einmal öffnete er leise seine Tür und horchte. Es herrschte beinahe lautlose Stille. In der großen Küche hörte er eine Uhr ticken und unten an der Tür des erleuchteten Zimmers war ein schmaler Streifen gelblichen Lichtes zu sehen. Er ging an diese Tür und lauschte. Drinnen war es vollkommen still – man hörte nicht einmal das Atmen eines schlafenden Menschen. Er kehrte zurück, schloß seine Tür und begann sich zu entkleiden. Unten in seinem Koffer lag ein kleiner Revolver. Einen Augenblick spielten seine Finger damit. Dann ließ er ihn wieder hineinfallen. Aber die Taschenlampe legte er neben das Bett. Noch einmal ging er ans Fenster und lehnte sich hinaus. Der Regen hatte nachgelassen. Außer dem Tosen des Wasserfalls war nichts zu hören. Der Himmel war schwarz und sternlos. Mit einem leichten Schauer schloß er das Fenster und legte sich ins Bett.

Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber draußen herrschte dieselbe tiefe Dunkelheit, als Flips leises Knurren ihn plötzlich weckte. Sie hatte die Decke am Fußende des Bettes von sich abgeschüttelt, und er konnte ihre bösen kleinen Augen im Dunkeln leuchten sehen. Einen Moment lag er ganz still und lauschte. Er wußte sofort, daß jemand im Zimmer war. Langsam schob sich seine Hand an die Seite des Bettes. Er ergriff die Taschenlampe und drückte auf den Knopf, Mit einem leisen Schrei fuhr er zurück. Einige Schritte von ihm entfernt stand Mathilda, noch in voller Kleidung da, und in ihrer Hand blitzte das greulichste Messer, das er je gesehen hatte, ihm entgegen. Mit einer Angst, die er sich offen und ehrlich eingestand, fuhr er aus dem Bett und hielt den Lichtstrahl auf sie gerichtet.

»Was wollen Sie?« fragte er mit einer Stimme, deren Unsicherheit ihn selbst in Erstaunen setzte. »Was soll dieses Messer in Ihrer Hand?«

»Ich will dich, William«, antwortete sie mit etwas enttäuschter Stimme. »Warum hältst du dich so fern?«

Er zündete die Kerze an. Die Finger, die am Drücker eines Revolvers Bullivant gezwungen hatten, zwei endlose Minuten lang die Hände hoch zu halten, zitterten. Aber als es dann im Zimmer hell wurde, kehrte seine alte Sicherheit schnell zurück.

»Werfen Sie das Messer aufs Bett,« befahl er, »und sagen Sie mir, was Sie damit vorhatten!«

Sie gehorchte sofort und neigte sich ein wenig vor.

»Ich wollte dich töten, William«, gestand sie.

»Und warum?« fragte er.

Sie senkte traurig den Kopf.

»Weil es das einzige Mittel ist«, erwiderte sie

»Erstens heiße ich nicht William,« entgegnete er, »und was meinen Sie damit, wenn Sie sagen: das einzige Mittel?«

Sie lächelte kummervoll und ungläubig.

»Du solltest deinen Namen nicht verleugnen«, sagte sie. »Du bist William Foulsham. Ich erkannte dich gleich, obwohl du so lange fort warst. Als er kam,« fügte sie hinzu und wies nach dem andern Zimmer, »glaubte Annabelle, er wäre William. Ich ließ ihn ihr. Ich wußte Bescheid. Ich wußte: wenn ich wartete, würdest du kommen.«

»Lassen wir die Frage, wer ich bin, beiseite,« bemühte er sich weiter, »warum wollten Sie mich töten? Was soll das heißen: das einzige Mittel?«

»Es ist das einzige Mittel Männer festzuhalten«, antwortete sie. »Annabelle und ich haben das herausgefunden, als William uns verließ. Wir saßen da und warteten auf seine Rückkehr. Wir sagten nichts, aber wir wußten beide Bescheid.«

»Sie meinen, daß Sie mich töten wollten, um mich hier zu behalten?« drang er weiter in sie.

Sie warf einen zärtlichen Blick aufs Messer.

»Das ist kein Töten«, sagte sie. »Der Tod würde erst später kommen, und du könntest niemals fortgehen. Du würdest immer da sein.«

Er begann, zu verstehen, und ein schrecklicher Gedanke tauchte in ihm auf.

»Was macht der Mann, den Annabelle für William hielt?« fragte er.

»Du kannst ihn sehen, wenn du willst«, sagte sie in eifrigem Ton. »Du wirst sehen, wie friedlich und glücklich er ist. Vielleicht wird es dir dann leid tun, aufgewacht zu sein. Komm mit.«

Er nahm das Messer an sich und folgte ihr aus dem Zimmer auf den Flur. Unter der Tür konnte er den schwachen Lichtstreif sehen – das Licht, das ihm auf dem Wege als Leitstern gedient hatte. Sie öffnete leise die Tür und hielt die Kerze über ihren Kopf. Auf einem zweiten Riesenbett lag die Gestalt eines Mannes mit struppigem Bart hingestreckt. Sein Gesicht war weiß, wie das Bettuch, und Goade erkannte auf den ersten Blick, daß er tot war. An seiner Seite saß, hochaufgerichtet in einem Stuhl mit hoher Lehne, Annabelle.

Als sie eintraten, hob sie den Finger und runzelte die Stirn. Sie warf Goade einen unfreundlichen Blick zu.

»Gehen Sie leise«, flüsterte sie. »William schläft.«

 

Als der erste Lichtschimmer durch die trüben Wolkenmassen brach, wankte ein Mann von verstörtem und zerzaustem Aussehen, gefolgt von einer kleinen, fetten, weißen Hündin, in das Dorf Nidd, atmete erleichtert auf, als er über einer Tür ein Metallschild erblickte und zog mit voller Kraft an der Klingel. Ein Fenster öffnete sich gleich und der struppige Kopf eines Mannes wurde sichtbar.

»Still da!« rief er unwillig. »Was ist los?«

Goade blickte hinauf.

»Ich habe einen Teil der Nacht in einem Landhaus, wenige Meilen von hier, verbracht«, setzte er auseinander. »Es ist ein toter Mann dort und zwei wahnsinnige Frauen, und an meinem Wagen ist ein Rad gebrochen.«

»Ein toter Mann?« fragte der Arzt.

»Ich hab' ihn gesehen. Mein Wagen ist entzwei, sonst wäre ich früher hier gewesen.«

»In fünf Minuten bin ich bei Ihnen«, versprach der Arzt.

Er hielt Wort: bald saßen sie in seinem Auto und fuhren zu dem einsamen Haus zurück. Interessiert hörte er Goades Erzählung an.

»Wenn meine Vermutung sich als richtig erweist,« bemerkte er, »so sind Sie mit knapper Not davongekommen.«

Es war inzwischen hell geworden; die Wolken hatten sich gelichtet und in kurzer Zeit hielten sie vor dem Landhaus. Auf ihr Klopfen erhielten sie keine Antwort. Der Arzt drückte auf die Türklinke und öffnete. Sie traten in die Küche. Das Feuer war ausgegangen, aber in ihren hochlehnigen Stühlen saßen Mathilda und Annabelle schweigend, mit weitgeöffneten Augen einander gegenüber. Als die Männer eintraten, wandten beide ihnen den Kopf zu. Annabelle nickte befriedigt.

»Das ist der Arzt«, sagte sie. »Ich freue mich, Doktor, daß Sie gekommen sind. Sie wissen ja, daß William zurückgekehrt ist. Er wollte mich holen. Er liegt oben, aber ich kann ihn nicht aufwecken. Ich sitze bei ihm und halte seine Hand und spreche zu ihm, aber er sagt kein Wort. Er schläft so fest. Bitte, wecken Sie ihn auf. Ich will Ihnen zeigen, wo er liegt.«

Sie ging voran und der Arzt folgte ihr. Mathilda lauschte auf ihre Schritte. Dann wandte sie sich an Goade, und wieder spielte das seltsame Lächeln um ihre Lippen.

»Annabelle und ich sprechen nicht miteinander«, erklärte sie. »Es ist schon so viele Jahre her, ich weiß nicht mehr, wie lange. Ich wünschte, jemand sagte ihr, daß der Mann, der oben liegt, nicht William ist, – daß du William bist und mich holen willst. Setz' dich, William. Sobald der Doktor fort ist, mach' ich Feuer und eine Tasse Tee für dich.«

Goade setzte sich. Er fühlte, daß seine Hände von neuem zitterten. Die Frau sah ihn freundlich an.

»Du bist lange fortgewesen«, fuhr sie fort. »Aber wo es auch sei, ich hätte dich wiedererkannt. Merkwürdig, daß Annabelle dich nicht erkennt. Zuweilen denk' ich, wir haben hier so lange zusammen gelebt, daß sie vielleicht ihr Gedächtnis verloren hat. Ich freue mich, William, daß du den Arzt geholt hast. Annabelle wird jetzt ihren Irrtum einsehen.«

Schritte kamen die Treppe herunter. Der Arzt trat in die Küche. Er nahm Goade beim Arm und führte ihn beiseite.

»Sie haben recht gehabt«, sagte er ernst. »Der Mann oben ist ein armer Kesselflicker, der seit einer Woche vermißt wird. Ich nehme an, daß er schon mindestens vier Tage tot ist. Einer von uns muß hier bleiben, während der andere auf die Polizeiwache geht.«

Goade griff mit fieberhafter Eile nach seinem Hut.

»Ich gehe auf die Polizeiwache«, erklärte er.

 


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