E. Phillips Oppenheim
Nicholas Goade, der Detektiv
E. Phillips Oppenheim

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3

Endlich befand sich Nicholas Goade in einer glücklichen Lage. Der Atmosphäre finsterer Tragik war er entronnen; er saß auf seinem Feldstuhl und malte eifrig auf einer Wiese in der Nähe eines hübsch gelegenen Dorfes in Devonshire, dessen weiße Häuser mit ihren farbenprächtigen, duftenden Gärten und ihrer freundlichen Einwohnerschaft von würdigen alten Männern und Frauen und rotbäckigen, sanftstimmigen Mädchen auf ein behagliches, sorgloses Leben deuteten, das über Nerven und Sinne eine wohltuende Ruhe breitete. In diesem friedlichen Lande mit seinen grünen Wiesen und Forellenbächen schien jeder viel Zeit und wenig zu tun zu haben. Flip saß an der Seite ihres Herrn und schnappte nach Fliegen, während ein älterer Herr, auf seinen Stock gestützt, mit ärgerlich zusammengezogenen Lippen und gerunzelter Stirn der Arbeit zusah.

»Sind Sie auch ein Freund der Kunst, Sir?« fragte Goade den ungebetenen Zuschauer.

»Nicht ›der Kunst‹, die Sie treiben«, lautete die freimütige Antwort.

Goade fuhr bei dieser unerwarteten Kritik auf seinem Feldstuhl herum. Er sah einen kaum mittelgroßen, ländlich, aber gut gekleideten Herrn mit ausdrucksvollem, nicht unfreundlichen Gesicht vor sich, der etwa sechzig Jahre zählen mochte. Goade, der gewohnt war, die Menschen auf den ersten Blick in eine Klasse einzuordnen, war geneigt, ihn für einen Mann zu halten, der sich von seinem Beruf zurückgezogen hatte.

»Meine schwachen Versuche gefallen Ihnen nicht?« fragte er.

»Ich finde sie furchtbar«, lautete die prompte Antwort. »Ich stehe hier und wundere mich, wie ein erwachsener Mann wie Sie – ein Mann mit nicht unintelligentem Gesicht – seine Zeit auf solche Weise totschlagen kann.«

Goade warf einen zweifelnden Blick auf die furchtbare Sudelei, die er zustande gebracht hatte und dann einen zweiten auf seinen Kritiker.

»Aber ich liebe diese Beschäftigung«, sagte er. »Sie macht mir Spaß.«

»Wenn sie Ihnen Spaß macht, dann ist es etwas anderes«, gab der ältliche Mann zu und stützte sich noch etwas fester auf seinen Stock. »Sie können dem Himmel danken, daß Sie nicht Ihr Brot damit verdienen müssen. Ich möchte wetten, daß Sie noch nie in Ihrem Leben eines Ihrer Erzeugnisse verkauft haben.«

»Sie haben ganz recht«, stimmte Goade zu. »Ich schmücke mein Arbeitszimmer damit.«

Der kleine Herr schüttelte sich.

»Es muß eine wahre Schreckenskammer sein«, meinte er.

Die Kirchenuhr auf der anderen Seite der Wiese schlug halb zwölf. Goade deckte das Bild zu und machte sich bereit, aufzubrechen.

»Ich bin mit der Zeit gegen die Kritik abgestumpft«, gestand er. »Meine Arbeiten finden vor den Augen keines Menschen Gnade. Aber – wenn ich es sagen darf – ich bin noch niemandem begegnet, der sich so deutlich ausgedrückt hat.«

»Dann haben Sie Glück gehabt«, erwiderte der andere trocken. »Ich bin selbst ein wenig Künstler, und ich kann Ihnen versichern, daß es für mich eine direkte Qual ist, so mörderische Versuche wie die Ihren zu betrachten. Alles Häßliche ist mir unerträglich. Ich sehe in dem Menschen, der eine Sudelei, wie die, deren Sie sich eben schuldig gemacht haben, zustande bringt, einen Verbrecher – nichts anderes.«

»Sie nehmen mir den letzten Mut«, seufzte Goade. »Aber« – er warf einen prüfenden Blick auf seinen neuen Freund – »ich habe das sichere Gefühl, daß in Ihrer Offenheit keine kränkende Absicht liegt. Ich will in mein Gasthaus zurückkehren. Machen Sie mir das Vergnügen, ein Glas Sherry mit mir zu trinken.«

Der alte Herr packte seinen Stock fester und war bereit, ihn zu begleiten.

»Unter der Bedingung,« sagte er, »daß Sie mir Ihr Ehrenwort darauf geben, daß nicht ein Penny Ihres Einkommens irgend etwas mit Ihrer abscheulichen Arbeit zu tun hat, nehme ich Ihre Einladung gerne an.«

»Diese Versicherung kann ich Ihnen mit gutem Gewissen geben«, beruhigte ihn Goade.

Sie wanderten nebeneinander her über die Wiese und sprachen von allgemeinen Dingen. Der alte Herr interessierte sich für seinen Begleiter, und Goade erwiderte dieses Interesse, wenn auch in geringerem Maße.

»Wenn man in einem kleinen Nest lebt,« sagte der erstere, »so entwickelt sich eine gewisse Neugier für die Fremden, mit denen man in Berührung kommt. Ich lebe hier seit fünfundzwanzig Jahren und bin so einheimisch geworden wie die Gänse, die Postmeisterin und der Pfarrer. Sie interessieren mich, Sir. Was mag Ihr Beruf sein?«

»Im Augenblick«, erwiderte Goade, »ruhe ich mich aus. Ein gewisses Unternehmen, an dem ich beteiligt war, hat mir eine ganz hübsche Summe Geldes eingebracht, und ich versuche, Ferien zu machen.«

»Ich verstehe«, brummte der alte Herr. »Und Ihr Name?«

»Nicholas Goade.«

»Ich heiße Stanley Witt – Mr. Stanley Witt. Ich habe ein Geschäft von Antiquitäten, alten Büchern, Elfenbein-, Bronze- und Schmucksachen gehabt und mich dann zurückgezogen. War das ein kommerzielles Unternehmen, von dem Sie sprachen?«

Goade überlegte einen Augenblick. Die schwierige Verfolgung des gefährlichsten Verbrechers, den New York auf die Welt losgelassen hatte, konnte schwerlich so bezeichnet werden.

»Nicht so ganz«, meinte er. »Ich weiß nicht, wie Sie es nennen würden. So etwas passiert einem nur einmal im Leben.«

Sie traten durch den niedrigen Eingang ins Gasthaus, stiegen eine Stufe hinab und kamen in das behagliche Gastzimmer. Mr. Witt legte die Hand auf den Arm seines Begleiters.

»Um Gottes willen, lassen Sie das Zeug draußen«, bat er. »Irgend jemand könnte Ihre Arbeit sehen wollen, und noch ein Blick darauf vor meinem Lunch würde mir den ganzen Appetit verderben.«

Goade entledigte sich seiner Bürde und lehnte Bild und Staffelei an die Wand.

»Wenn Sie so fortfahren,« brummte er gutmütig, »so werde ich mein Selbstvertrauen verlieren.«

»Je früher, desto besser«, lautete die bittere Antwort. »Sie sagten doch, Sie wären auf einer Autotour? Versuchen Sie es mit dem Angeln. Bäche gibt es hier überall. Angeln ist eine vernünftige Beschäftigung. Besser sogar einen Sack mit Golfschlägern auf dem Rücken als Ihre furchtbaren Utensilien.«

Sie traten in die Gaststube, die um diese Vormittagsstunde recht voll war. Goade wurde mit der freundlichen Zurückhaltung begrüßt, die Fremden zuteil wird, während Mr. Witt mit Begeisterung empfangen wurde. Der erstere stand ein wenig beiseite und konnte die soziale Stellung seines Begleiters zur Genüge aus der Art erkennen, mit der man ihm entgegenkam. Der Fleischer, der Krämer und der Sattler zeigten eine respektvolle Herzlichkeit. Der Arzt, der Bankleiter und ein wohlhabend aussehender Landwirt begrüßten ihn als gleichgestellten Freund. Offenbar stand er in dem Ruf eines Humoristen und Originals. Wiederholt riefen seine Äußerungen kleine Lachsalven hervor. Als er Goades Einladung zu einem Glase Sherry erwidert hatte, empfahl er sich, und die meisten folgten ihm.

»Wenn Sie sich auf zehn Minuten frei machen können, bevor Sie unsere Gegend verlassen,« sagte er zu Nicholas Goade beim Abschied, »und wenn Sie wirklich etwas von der großen Kunst des Malens erfahren wollen, so besuchen Sie mich in meinem Häuschen, und ich will Ihnen eine Landschaft zeigen, die Sie veranlassen sollte, alle Scheußlichkeiten zu vernichten, die Sie jemals zustandegebracht haben. Einen beliebigen Abend – nach sieben Uhr.«

»Ich werde mit Vergnügen kommen«, versprach Goade. –

Kaum war Mr. Witt auf der Straße, als die Unterhaltung des kleinen Kreises, der in der Gaststube zurückgeblieben war, sich auf ihn lenkte.

»Es ist wirklich eine Freude,« erklärte die Wirtin, »zu sehen, daß er beinahe wieder der Alte ist. Seit einer Woche kam er eben das erstemal wieder über unsere Schwelle, er, der sonst mein regelmäßigster Gast war.«

»Sonst trank er immer Punkt ein Viertel nach Zwölf sein Glas Sherry«, bemerkte der Landwirt.

»Ist Mr. Witt krank gewesen?« fragte Goade.

Der Landwirt schüttelte den Kopf; die Wirtin stieß einen Seufzer aus; der Sattlermeister sah teilnehmend-verlegen zu Boden. Alle zögerten mit der Antwort.

»Mr. Witt scheint Unannehmlichkeiten zu haben«, erwiderte die Wirtin und wandte sich ab, als wollte sie nichts mehr darüber sagen.

Irgend etwas Geheimnisvolles umgab diesen Mr. Witt – das bemerkte Goade sehr bald in den nächsten Tagen: die Wirtin und die kleine Schar von Wirtshausgästen sprachen gerne über ihn –, aber was das für ein Geheimnis war, schien niemand zu wissen. Vor etwa vierzehn Tagen war ihm irgend etwas Unangenehmes begegnet, und jetzt zog er sich, ohne irgendeinen Grund anzugeben, in die Einsamkeit zurück und kein Mensch sah oder hörte etwas von ihm. Es ging das Gerücht, daß Kisten, in denen seine wertvollsten Sachen verpackt waren, mit der Bahn nach Exeter und auch nach London geschickt wurden. Und sobald die Unterhaltung finanzielle Fragen streifte, hüllte sich der Bankleiter in undurchdringliches Schweigen. Schließlich wurde Goade neugierig. Beim Nachdenken darüber, was wohl der Grund von Mr. Witts Sorgen sein könnte, tauchte vor seinen Augen der finstere Schatten des Verbrechens auf, bei dessen Aufdeckung er sich als Detektiv seine Sporen verdient hatte – das Verbrechen der Erpressung. Er hätte gerne den Versuch gemacht, das Vertrauen des kleinen Mannes zu gewinnen, aber ein Tag nach dem andern verging, ohne daß Mr. Witt sich sehen ließ. Eines Abends jedoch, nach einer guten Mahlzeit im Gasthaus – es gab Kalbsbraten mit Speck, Himbeertorte und Stiltonkäse –, wanderten Flip und ihr Herr, gleich befriedigt von ihrer Kost, die Dorfstraße hinauf und gelangten oben auf dem Hügel zu einem der Privathäuser, das ihm als Mr. Witts Villa bezeichnet worden war. Fünf Tage lang war er unsichtbar geblieben, und Goade hatte merkwürdigerweise den kleinen, fröhlichen Mann mit den ironischen Bemerkungen und humoristischen Äußerungen nicht weniger vermißt als die anderen Besucher des Gasthauses. Jede Nachfrage nach ihm war mit tiefem Stillschweigen erwidert worden. Goade, der in solchen Dingen ziemlich abgestumpft war, fühlte sich beinahe als Störenfried, als er nun an der Tür schellte. Einige Sekunden blieb es still. Dann öffnete ein sauberes junges Dienstmädchen.

»Ich möchte Mr. Witt sprechen«, sagte Goade.

Das Mädchen sah ihn zweifelnd an.

»Ich glaube nicht, daß er zu sprechen ist, Sir«, erwiderte sie. »Es geht ihm nicht sehr gut, und er ist beschäftigt.«

»Sie können ihn ja fragen,« bemerkte Goade, der sich nicht abweisen ließ, »er hat mich aufgefordert herzukommen. Ich werde ihn nicht lange aufhalten.«

Das Mädchen ging widerstrebend fort und ließ Goade in einer kleinen, aber behaglich eingerichteten Hall stehen, der eine wundervolle alte Standuhr und ein Chippendaletisch mit einer chinesischen Porzellanvase ein besonderes Gepräge gaben.

Zwei oder drei Minuten mochten vergangen sein, als sich plötzlich eine Tür im Erdgeschoß öffnete und Mr. Witt hinaussah. Er trug keinen Kragen und sein Anzug war verstaubt. In der Hand hielt er einen Hammer.

»Was wünschen Sie?« fragte er in scharfem Ton.

»Ich bin gekommen, um einen Blick auf Ihr Gemälde zu werfen«, begann Goade. »Sie erinnern sich vielleicht, daß Sie es mir zeigen wollten. Meine eigene Arbeit entmutigt mich in den letzten Tagen ein wenig.«

»Das glaub' ich!« lautete die bittere Antwort.

»Heute abend kann ich Ihnen mein Bild nicht zeigen. Ich bin zu sehr beschäftigt. Kommen Sie so etwa nach einer Woche.«

»Aber, mein lieber Herr,« widersprach Goade, »in einer Woche bin ich nicht mehr hier. Ich bin ja nur auf der Durchreise. Vielleicht fahre ich morgen oder übermorgen fort.«

»Um noch mehr Bilder zu malen?« fragte Mr. Witt mit einem leichten Schauder.

»Um noch mehr Bilder zu malen«, bestätigte Goade. »Ich habe ein ganz schönes beendet, mit einem Kirchturm in der Ferne und Gänsen auf der Wiese. Die Gänse bilden einen wundervollen Vordergrund! Jetzt dachte ich daran, nach dem Süden von Devonshire zu gehen um den Farbton der Moorlandschaft zu studieren.«

Mr. Witt schüttelte sich.

»Kommen Sie herein!« sagte er kurz und gab den Weg frei.

Goade nahm die Einladung an und gelangte in einen unerwartet großen und freundlichen Raum, der sich in einem Zustande großer Unordnung befand. Auf dem Fußboden standen zwei Kisten; die eine war zur Hälfte mit Büchern und einigen sorgfältig in Papier gewickelten Statuetten gefüllt. Von den Wänden, aus den Bücherregalen und von den Konsolen waren diese Gegenstände entfernt worden, wie man sah. Mr. Witt nahm den Besucher beim Arm und führte ihn zu einer Nische, in der ein kleines Bild hing – eine Landschaft von wunderbar tiefer, kräftiger Farbe.

»Das ist echte Malerei«, bemerkte er. »Ich glaube, es hat nicht viel Zweck, mit Ihnen davon zu sprechen. Mir scheint, daß Sie von Kunst etwa so viel verstehen, wie mein Mädchen für alles. Betrachten Sie einen Augenblick die Gruppierung, die Perspektive. Wenn Sie versuchen wollten, Kühe von dieser Größe zu malen, sie würden alle aus dem Bilde herausfallen. Sehen Sie die Schönheit des Farbentons, den Regen, der schräg am Horizont herabfällt, so zart, daß er wie eine Ahnung wirkt, und doch, wenn Sie es näher ansehen, ist alles da. Ich glaube kaum, daß Sie es würdigen können, aber wenn Sie es lange und oft genug betrachteten, so würden sie zuletzt wahrscheinlich bestimmt werden, Ihre Palette fortzuwerfen.«

»Ich verstehe genug, um zu sehen, daß es ein herrliches Bild ist«, stimmte Goade bei. »Sie haben noch andere interessante Sachen. Das, zum Beispiel, ist eine schöne Bronze.«

»Das glaub' ich«, gab Mr. Witt zu. »Ich habe bei einer Auktion in Exeter als Fachmann neunzig Pfund dafür gezahlt.«

»Und jetzt wollen Sie sich davon trennen«, bemerkte Goade mit einem Blick auf die halbleere Kiste. Dann fragte er unvermittelt: »Warum?«

»Das ist meine Sache«, war die kurze Antwort. Ohne auf eine Einladung zu warten, ließ sich Goade in einen Lehnstuhl sinken,

»Darf ich eine Viertelstunde hier bleiben?« fragte er. »Ich würde gern eine Zigarette mit Ihnen rauchen, wenn Sie erlauben.«

»Ich erwarte Besuch«, sagte Mr. Witt unsicher.

»Ich werde ihn nicht stören. Sobald er kommt, gehe ich.«

»Aber ich möchte nicht, daß er Sie hier trifft.«

Goade rührte sich nicht.

»Mr. Witt,« sagte er langsam, »bei unserer ersten Begegnung haben Sie sich erlaubt, sehr offen zu mir zu sprechen. Es hat mich nicht geärgert, aber ich möchte mir die Freiheit nehmen, Ihnen gegenüber die gleiche Taktik anzuwenden. Warum verkaufen Sie Ihr Eigentum auf diese Weise? Warum ziehen Sie sich von Zeit zu Zeit wie ein verfolgter Verbrecher zurück? Warum haben Sie da einen Haufen Zeitungen aufgestapelt, die über die Mordsache von Frangford berichten? Und wer ist der junge Mann, den Sie in Ihrem Hause aufgenommen haben?«

»So eine Unverschämtheit ist –« begann Mr. Witt.

»Durchaus nicht,« unterbrach ihn Goade, »– freundschaftliches Interesse – nichts anderes. Wenn ich nicht glaubte, Ihnen helfen zu können, hätte ich nicht ein Wort gesagt.«

»Wie, zum Teufel, können Sie oder irgend jemand anderes mir helfen?« stöhnte Mr. Witt.

»Das werde ich sehen, wenn Sie mir die ganze Geschichte erzählt haben«, erwiderte Goade und setzte sich etwas bequemer in seinem Lehnstuhl zurecht.

Mr. Witt warf einen hilflosen Blick nach allen Seiten. Sein Besucher saß – ein Bild der Kraft und Sicherheit – behaglich hingestreckt da, und zum erstenmal empfand der kleine Mann die schmerzliche Sehnsucht nach einem Vertrauten. Er wies auf den Stoß Zeitungen.

»Haben Sie die Frangforder Mordsache gelesen?« fragte er.

»Jede Zeile«, bestätigte Goade. »Ich interessiere mich für – solche Fälle.«

»Sie wissen, daß der Kassierer der Frangford Bank ermordet wurde, und daß zwei Angestellte der Zentrale, die am folgenden Tag ihren Urlaub antreten sollten, vermißt werden?«

»Jawohl«, stimmte Goade bei. »Die Namen der jungen Leute sind Stephen Hannaford und – Donnerwetter! Ich verstehe.«

Mr. Witt nickte kurz.

»John Eardley-Witt war der Name des anderen«, sagte er. »Der Zusatz ›Eardley‹ verhüllt die Sache ein wenig – ein Onkel mütterlicherseits hat ihm eine kleine Summe und den Namen hinterlassen –, aber John Eardley-Witt ist mein Sohn.«

»Sind Sie sicher, daß man sie ernstlich im Verdacht hat?« fragte Goade. »Die Zeitungen drücken sich sehr unbestimmt über die Sache aus.«

»Sie sind doch ein Mann, der den Mund halten kann?« fragte Mr. Witt.

»Ich stehe in dem Ruf, ein Geheimnis bewahren zu können«, erklärte Goade.

»Gut«, fuhr der andere fort. »Mein Sohn hält sich in Plymouth versteckt und wartet auf eine Gelegenheit, nach Südamerika zu entkommen. Hannaford ist in diesem Augenblick oben in meinem Hause. So viel haben sie bisher von ihrem Urlaub gehabt.«

»Der junge Mann mit dem blassen Gesicht, der hinter den Vorhängen sichtbar war?« fragte Goade sachlich.

Mr. Witt starrte ihn an.

»Entweder Sie haben verdammt gute Augen oder der junge Bursche ist ein größerer Narr, als ich dachte«, bemerkte er scharf.

»Ich besitze eine gewisse Beobachtungsgabe«, stimmte Goade zu. »Ich habe sie früh erworben. Sie paßt zu meinem Beruf.«

»Was ist Ihr Beruf?« fragte Mr. Witt. »Nicht als ob es darauf ankäme, wie Sie sich nennen, wenn Sie sich nur nicht für einen Künstler ausgeben.«

»Dann lassen wir meinen Beruf noch einen Augenblick beiseite«, entschied Goade. »Erzählen Sie weiter. Was macht der junge Hannaford hier?«

»Er braucht Geld. Er ist schon zweimal hier gewesen.«

»Wozu brauchen sie Geld? Wenn sie den Mord begangen haben, sind ihnen fünfzehnhundert Pfund in die Hände gefallen.«

»Sie wagen es nicht, davon Gebrauch zu machen«, erklärte Mr. Witt. »Es waren lauter Noten der Bank von England.«

»Wieviel haben Sie im ganzen weggegeben?« fragte Goade.

»Ich habe Sachen im Wert von nahezu tausend Pfund verkauft«, gestand Mr. Witt mit einem leisen Seufzer. »Jetzt kommt mein Bild an die Reihe.«

»Sie sollten es hier behalten,« riet Goade. »Was haben Sie gemacht – die Sachen richtig verkauft?«

»Ich habe sie versetzt«, lautete die bittere Antwort.

»Heben Sie die Pfandscheine sorgfältig auf. Sie können nie wissen, was geschieht. Ich möchte mit dem jungen Mann da oben sprechen.«

»Was soll denn das nützen? Sie würden ihm nur einen Todesschreck einjagen.«

»Ich möchte seine Geschichte hören.«

»Ich habe sie einmal gehört,« ächzte Mr. Witt, »ich möchte sie nicht wieder hören. Außerdem, wozu?«

»Hören Sie mich an,« bat Goade, »bringen Sie ihn herunter. Sagen Sie ihm, ich sei ein alter Freund des Hauses. Schlimmer als es jetzt aussieht, kann es doch nicht werden, nicht wahr? Well, lassen Sie mich den Versuch machen!«

»Er wird schwerlich kommen wollen«, sagte Mr. Witt in zweifelndem Ton. »Er erschrickt, wenn es an der Tür schellt.«

»Dann gehen wir hinauf«, entschied Goade und erhob sich.

Schließlich, nach einigen weiteren Worten der Überredung, willigte Mr. Witt ein. Er ging voran, die Treppe hinauf, und öffnete die Tür eines freundlich möblierten Schlafzimmers, dessen Bewohner in einem Liegestuhl ausgestreckt lag. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen und rauchte eine Zigarette. Ein halb leerer Becher stand neben ihm und auf dem Toilettentisch eine Flasche Whisky sowie Selterwasser. Die Fenster waren geschlossen, und die Luft im Zimmer war von Tabakqualm erfüllt. Der junge Mann – ein schmächtiger, blasser Jüngling von ungesunder Gesichtsfarbe und schwächlicher Gestalt – sprang auf und kauerte sich in einen Winkel, als er die Anwesenheit eines Fremden bemerkte. Er trug einen schäbigen blauen Wollanzug, der lange nicht gebürstet worden war. Seine Schuhe hätte er abgeworfen und nur Socken an den Füßen. Sein Hemd war nicht tadellos sauber.

»Wer ist das, Mr. Witt?« fragte er. »Wen bringen Sie hierher?«

»Einen alten Freund, Stephen«, erwiderte Mr. Witt. »Ein sicherer Mann, der nichts verraten wird.«

»Was will er?« fragte der Jüngling ärgerlich.

Goade setzte sich auf den Rand des Bettes.

»Ich wollte Ihnen ein paar Fragen vorlegen, wenn es Ihnen recht ist«, bemerkte er. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

»Was für Fragen?«

»Über die Tat«, erwiderte Goade ohne Umschweife.

»Was hat Sie dazu veranlaßt?«

Der junge Mann zog heftig an seiner Zigarette.

»John und ich hatten es immer nicht leicht«, erklärte er. »Diese Banken zahlen einen Hungerlohn und wollen, daß wir uns anziehen und leben wie die Herren. Ich hatte Schulden; John ebenso. Sie mußten es früher oder später erfahren, und dann wären wir entlassen worden. Im vergangenen Winter waren wir beide auf zwei Monate nach der Frangforder Zweigstelle geschickt worden. Es konnte uns nicht entgehen, wie leicht die Sache zu machen war. Wir sprachen darüber, und der Gedanke ließ uns nicht mehr los. Harrigan – der Mann – war immer allein. An dem Tage, als wir uns zu der Tat entschlossen, mußte er mindestens fünfzehnhundert Pfund haben. In der Nähe sind einige Fabriken, die am Freitag nachmittag die Löhne auszahlen. Da haben wir es eben gemacht.«

»Raub und Mord sind zweierlei«, bemerkte Goade.

»Wir hatten niemals die Absicht, ihn zu erschießen«, erklärte der junge Mann und packte seine Stuhllehne. »Wir hatten beide noch nie einen Revolver in der Hand gehabt. Wir wollten ihn nur einschüchtern, das kann ich beschwören, und John auch. Das verdammte Ding ging los.«

»Wer hielt ihn in der Hand?« fragte Goade.

Der junge Mann schwieg plötzlich still.

»Wir haben beide geschworen,« sagte er dann, »das niemals zu verraten.«

»Wozu brauchen Sie das viele Geld von Mr. Witt?« fuhr Goade fort. »Die Überfahrt wird nicht viel kosten.«

»Wir mußten mehrere hundert Pfund an einen Mann zahlen, der uns in der Nähe von Frangford gesehen hat«, sagte Hannaford mit einem Seufzer. »Er hat Johns Aufenthaltsort erfahren und zapft uns ab, was er kann. Es kostet John auch verdammt viel, sich versteckt zu halten. Er ist in Sicherheit, aber sie haben gemerkt, daß wir in Verlegenheit sind und verlangen das Blaue vom Himmel. Aber wenn alles gut geht, sind wir nächste Woche auf dem Wege nach Südamerika.«

»Sind Sie schon früher einmal in – einer ähnlichen Lage gewesen?«

»Nein«, rief der junge Mann heftig. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich mag Ihre Fragen nicht. Bitte, bringen Sie ihn weg, Mr. Witt. Es ist schon schlimm genug, hier untätig dazusitzen, bis Sie das Geld aufgetrieben haben – und da kommt noch so ein Fremder und ängstigt einen mit seinen Fragen.«

Goade erhob sich.

»Well, das ist eine schlimme Sache«, sagte er. »Ich fürchte, niemand kann Ihnen beiden helfen.«

»Natürlich nicht«, rief der Jüngling in gereiztem Ton. »Geld brauchen wir, und zwar so schnell wie möglich. Und lassen Sie den Whisky nicht ausgehen, Mr. Witt. Meine Nerven sind in furchtbarem Zustande, besonders nachts. Der Rest in dieser Flasche wird nicht lange reichen.«

Schweigend stiegen die beiden Männer die Treppe hinab. Mr. Witts ironische Laune war verschwunden. Seine Augen waren wie erloschen, um die schlaffen Mundwinkel zuckte es. Goade legte wie schützend seine Hand auf die Schulter des armen Mannes.

»Nun, mein lieber Freund,« sagte er, »es sieht so aus, als ob hier nicht viel zu machen wäre, aber Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Morgen werde ich den ganzen Tag fort sein – ich muß nach Barnstable hinüberfahren. Wann erwarten Sie das Geld für die Sachen, die Sie jetzt wegschicken?«

»Nicht vor Donnerstag, frühestens am Vormittag«, erwiderte Mr. Witt.

»Gut. Lassen Sie den jungen Mann nicht eher fort, bis ich wieder da bin.«

Mr. Witt warf ihm einen schnellen Blick zu.

»Was haben Sie vor?«

»Nichts Bestimmtes – nur so ein Gedanke. Vor allem darf der junge Mann nicht fort, bevor ich am Donnerstag zurückgekehrt bin.«

»Seien Sie unbesorgt«, seufzte Mr. Witt. »Der Scheck kann nicht früher da sein, und dann muß ich auf die Bank und ihn einlösen.«

»Hat Ihr Sohn Ihnen selbst irgend etwas geschrieben?« fragte Goade.

Mr. Witt schüttelte den Kopf.

»Das wäre zu gefährlich«, stöhnte er. »Es ist ein kleiner Ort. Auf dem Postamt würden sie seine Handschrift erkennen.«

»Daran hatte ich nicht gedacht«, meinte Goade in Gedanken. »Also auf Donnerstag!« . . .

Donnerstag früh erlebte Mr. Witt eine Enttäuschung. Die Post brachte ihm weder den Scheck aus Exeter, den er erwartete, noch irgendeine Nachricht von seinem neuen Freunde, dessen Rückkehr er mit einer leisen Hoffnung erwartete, einer Hoffnung, die er sich kaum eingestehen wollte. Kaum hatte er sein Morgenfrühstück beendet, als ein Stampfen an der Decke des Zimmers ertönte. Mit einem leichten Schauder stieg er zu seinem unwillkommenen Gast hinauf. Stephen Hannaford sah in seinem Nachtkostüm – er schien gerade aus dem Bett gekrochen zu sein – noch weniger einnehmend aus als sonst. Die Augen waren gerötet, und seine Hände zitterten.

»Haben Sie den Scheck?« fragte er.

»Er ist noch nicht angekommen«, gestand Mr. Witt. Er mußte sich die Ohren zuhalten, um die Flüche, die der junge Mann ausstieß, nicht zu hören.

»Sie wollen Ihren Sohn baumeln lassen, und mich dazu, nicht wahr?« rief der junge Bursche in wilder Wut. »Hören Sie mal zu,« fuhr er fort, »ein Versprechen ist ein Versprechen, aber wenn es um meinen Hals geht, dann will ich Ihnen was sagen. Nicht ich trug den Revolver bei mir. Das kann ich beweisen. Ihr Sohn wird baumeln müssen, nicht ich. Ich kann was Lebenslängliches kriegen, aber Ihr Sohn kommt aufs Schafott.«

Mr. Witt schloß einen Augenblick die Augen. Die Spannung der letzten Tage war zu groß gewesen; ihm wurde schwindelig.

»Ich habe alle Wertsachen, die ich besaß, weggeschickt,« sagte er in mattem Ton, »ich bat, den Scheck gleich gestern abzusenden. Er wird gewiß mit der zweiten Post kommen.«

»Wann wird das sein?«

»Um drei Uhr.«

»Werden Sie noch Zeit haben, das Geld von der Bank zu holen?«

»Reichlich.«

Der junge Mann kroch ins Bett zurück.

»Schicken Sie mir noch etwas Tee herauf,« befahl er, »und ich brauche noch zwei Schachteln Gold Flake Zigaretten. Sagen Sie dem Mädchen, sie solle sich beeilen.«

Mr. Witt ging hinaus und erfüllte die Wünsche seines unfreundlichen Besuchers. Dann schloß er sich in sein Zimmer ein. Er hatte seinen Stolz, und die Grenze dessen, was er ertragen konnte, war erreicht. Kein Mensch erfuhr jemals – er selbst erinnerte sich später kaum –, wie er den Vormittag zubrachte. Dann kam so etwas wie ein Lunch, ein ruheloses Aufundabgehen im Zimmer, die Ankunft des Briefträgers, der erwartete Brief und ein Scheck auf neunhundert Pfund.

»Wieviel?« rief Hannaford vom Treppengeländer herab.

»Neunhundert Pfund.«

»Dann schnell auf die Bank, vorwärts!« rief der Bursche eifrig. »Bestellen Sie auf dem Rückwege in der Garage ein Auto, das mich nach Plymouth bringen soll. Es ist Mondschein heute abend, ich kann gegen vier Uhr dort sein.«

Mr. Witt bürstete mechanisch seinen Anzug, setzte seinen Hut auf, ergriff Stock und Handschuhe und wanderte schweigsam, wie ein Gespenst, durch die Straßen des kleinen Städtchens. Er bemerkte weder, daß man ihn grüßte, noch die freundlichen Blicke, die man ihm zuwarf. Er zeigte den Scheck vor, äußerte seine Wünsche in kurzen Worten und stopfte den Haufen Scheine in seine Brusttasche. Dann machte er sich auf den Heimweg. Es ging eine Anhöhe hinauf. Plötzlich blieb er stehen: hinter ihm ertönte das laute Klappern eines alten Fordwagens, und das Gebell eines kleinen Hundes wurde hörbar. Mr. Goade, der etwas ermüdet aussah, hielt neben ihm mit seinem Auto.

»Ist der junge Mann noch bei Ihnen?« fragte er.

»Er ist noch da«, bestätigte Mr. Witt. »Ich habe eben das Geld für ihn erhalten. Er fährt heute nachmittag.«

»So?« brummte Goade vor sich hin. »Well, steigen Sie ein, Mr. Witt. Ich fahre Sie nach Hause.«

Mr. Witt stieg schweigend in den Wagen. Sein halbneugieriger Blick, der sich fragend auf Goade richtete, blieb ohne Antwort. Aber was konnte schließlich Goade oder irgendein anderer tun?

»Ich muß in die Garage«, bemerkte Mr. Witt.

»Wozu?«

»Für den jungen Mann einen Wagen nach Plymouth bestellen. Er hofft, daß sie Samstag fahren können. Ihre Schlafkojen haben sie; wenn es ihnen nur gelingt, dem andern Kerl den Mund zu stopfen.«

»Wir werden den Wagen gleich besorgen«, sagte Goade. »Ich möchte nur zuerst ein Wort mit Ihrem jungen Freund sprechen.«

»Er ist abscheulicher Laune«, seufzte Mr. Witt.

»Ich will ihn schon aufheitern«, versprach Goade.

Er hielt vor dem Tor und folgte seinem Gefährten ins Haus. Der junge Mann wartete oben auf der Treppe.

»Haben Sie das Geld?« fragte er. »Wo ist der Wagen?«

»Ich habe das Geld«, versicherte Mr. Witt. »Der Wagen wird gleich hier sein. Mr. Goade möchte Sie einen Augenblick sprechen.«

»Zum Teufel mit Mr. Goade!« rief der junge Mann ärgerlich. »Ich habe keine Zeit, hier Possen zu treiben, mit wem es auch sei. Das sollten Sie doch wissen.«

»Ich werde Sie keinen Augenblick aufhalten«, versprach Goade, der den Gutmütigen spielte. »Kommen Sie ins Wohnzimmer herunter.«

Mürrisch und widerstrebend stieg Hannaford die Treppe hinab. Goade wartete, bis er sich im Salon in einen Lehnstuhl geworfen hatte. Dann trat er, den Rücken zur Tür gewandt, auf ihn zu.

»Strecken Sie die Hände aus!« befahl er.

»Was? Wozu?«

»Dazu«, erwiderte Goade und zog ein Paar Handschellen aus der Tasche.

Hannaford wollte auf die Tür zuspringen, aber Goade packte ihn mit eisernem Griff. Im Nu saßen die Handschellen an seinen Gelenken; dann flog er auf den Lehnstuhl zurück.

»Bleiben Sie sitzen!« donnerte Goade.

»Wer sind Sie?« stieß der junge Mann hervor.

»Ein Detektivbeamter, der in Scotland Yard wohlbekannt ist«, erklärte Goade. »Ich soll zwar hier auf Urlaub sein, aber ich greife immer ein, wenn es nötig ist.«

»Sie haben mein Vertrauen getäuscht«, rief Mr. Witt in bitterem Ton. »Sie gaben mir Ihr Wort!«

Goade führte ihn zu einem Stuhl.

»Setzen Sie sich, mein lieber Freund,« sagte er, »und seien Sie unbesorgt. Ich habe ihm die Handschellen angelegt, damit er ruhig bleibt, aber die einzige Anschuldigung, die ich gegen ihn erhebe, ist, sich unter falschen Angaben Geld verschafft zu haben. Sobald wir dieses Geld wiederhaben, werden wir das Weitere beschließen.«

»Aber der Bankraub?« rief Mr. Witt aus.

Goade lachte spöttisch.

»Über Ihren Sohn, Mr. Witt, hoffe ich bald Näheres zu hören,« sagte er, »aber dieser junge Mann hat nicht Mut genug, einer alten Dame ihr Handtäschchen zu stehlen. Der Mann, der die Bank beraubt und den Kassierer erschossen hat, wird heute nachmittag verhaftet werden, und ich kann Ihnen versichern, daß das ein ganz anderer Bursche ist als dieser hier.«

Mr. Witt zitterte am ganzen Körper, und seine Augen hatten einen feuchten Glanz. Goade klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter.

»Die Sache ist wirklich ganz einfach, Mr. Witt«, erklärte er. »Der Urlaub Ihres Sohnes und dieses jungen Mannes begann an dem Tage, nachdem der Raubmord geschehen war. Das war ein reiner Zufall. Vielleicht wollten sie einen Teil ihrer Ferien zusammen verbringen – das weiß ich nicht. Eine einzige Zeitung sprach von zwei Angestellten, die man vermißte – eine Behauptung, die später dementiert wurde. Dieser junge Hannaford dachte sich nun einen sehr schlauen Plan aus. Er brachte Ihnen die Zeitung, für den Fall, daß Sie sie noch nicht gesehen hätten, und gestand Ihnen vermutlich, daß er und Ihr Sohn den Raubmord begangen hätten. Keiner von beiden hat irgend etwas der Art getan. Nach allem, was ich gehört habe, ist Ihr Sohn ein junger Mann von ausgezeichnetem Ruf. Unser Freund hier, der die Handschellen mit so viel Grazie trägt, hatte mit dem Urlaub zugleich seine Entlassung erhalten. Verstehen Sie jetzt, Mr. Witt? Sehr einfach, nicht wahr?«

»Furchtbar einfach«, brummte Hannaford. »Aber wenn Sie nicht dazwischengekommen wären, so hätte alles sehr gut geklappt.«

»Vielleicht«, pflichtete Goade bei. »Ihr Plan war nicht schlecht,« fuhr er fort, »aber was hätten Sie getan, wenn Mr. Witts Sohn seinem Vater geschrieben hätte oder hergekommen wäre?«

»Ich hatte ihm aus einem Dorf in der Nähe ein Telegramm im Namen seines Vaters geschickt«, gestand der Bursche mit finsterer Miene. »Ich teilte ihm mit, daß sein Vater mit einem Freunde eine vierzehntägige Autotour mache und sich im Grand Hotel in Llandudno mit ihm treffen wolle.«

»Großartig!« rief Goade. »Wirklich sehr gut ausgedacht! Und wie steht es mit dem Rest des Geldes?«

»Ich hab' es verbraucht.«

»Das glaub' ich nicht. Vielleicht ist es Ihnen nicht ganz bequem, aber Sie müssen mir gestatten, Sie zu durchsuchen.«

An Widerstand war nicht zu denken. Goade fuhr in die Taschen des jungen Mannes und holte ein Paket Banknoten hervor, die er auf den Tisch legte.

»Alles da?« fragte er.

»Ja, es fehlen nur zehn Pfund.«

Mr. Witt stützte seine Ellbogen auf den Tisch und hielt das Gesicht in den Händen verborgen. Goade streichelte ihn sanft.

»Was machen wir nun mit diesem jungen Mann?« fragte er. »Er verdient – weiß der Himmel, was! Meiner Meinung nach wäre das Kittchen das Richtige, aber ich will es Ihnen überlassen. Ich bin zwar das Gesetz – aber das Gesetz ist in die Ferien gegangen. Sie haben fast Ihr ganzes Geld zurückerhalten. Sie besitzen die Pfandscheine, um Ihre Schätze wieder einzulösen. Für die Leidenstage, die Sie überstanden haben, kann nichts Sie jemals entschädigen. Sie können ihn auf zwölf Monate ins Gefängnis schicken, wenn Ihnen das eine Genugtuung ist, oder ihn einfach hinauswerfen.«

Mr. Witt hatte sich erhoben. Er sah schon etwas besser aus. Einige Furchen waren von seinem Gesicht verschwunden, aber der feuchte Glanz in den Augen veränderte den ganzen Ausdruck.

»Ich will keine gerichtliche Klage,« sagte er. »Schicken Sie ihn fort. Ich kann ihn nicht mehr sehen.«

Der junge Mann stand auf, und Goade befreite ihn mit einem erfahrenen Griff von den Handschellen. Dann packte er ihn am Kragen, beförderte ihn zum Zimmer hinaus zur Vordertür des Hauses und ließ ihn Hals über Kopf in die Rosenbüsche fliegen.

»Das wäre erledigt!« bemerkte er und blickte durch das offene Fenster auf den Antiquar. »Ich denke, Sie werden jetzt ein Stündchen allein sein wollen, Mr. Witt?«

»Ist es wahr? Ist alles das wahr?« hörte der kleine Mann nicht auf zu fragen.

»Natürlich ist es wahr«, versicherte Goade. »Sie können sich denken, daß ich manche Geständnisse und Erzählungen angehört habe. An dem Bericht des jungen Mannes war mir einiges aufgefallen. Ich bin nach Bristol gefahren und habe mich eine Stunde lang mit Scotland Yard telephonisch unterhalten. In der Bank sind über Ihren Sohn alle des Lobes voll. Übrigens wird er etwa in einer Stunde hier sein. Ich erwarte Sie beide im Gasthaus zum Dinner, um halb sieben. Bitte bleiben Sie, wie Sie sind. Ich habe selbst das Zeug nicht mit . . . Auf Wiedersehen!«

Er ging schnell fort, bestieg den Fordwagen und fuhr zum Gasthaus hinunter.

»Das ist alles sehr schön, Miß Flip,« bemerkte er, »aber ob das für mich ein richtiger Urlaub ist? . . .«

Um halb sieben betrat Mr. Witt, der wieder ganz der Alte schien – die kleinen Augen funkelten vor Freude – das Gastzimmer. Ein großer, sonnverbrannter junger Mann begleitete ihn; er stellte ihn Goade sofort als seinen Sohn vor. Unter dem Arm trug er einen Gegenstand, der in braunes Papier gewickelt war, den er jedoch im Augenblick nicht zu beachten schien. Die Gaststube war voll, und alle begrüßten freudig den kleinen Mann, auf dessen Gesicht die Veränderung zu lesen war, die sich in ihm vollzogen hatte. Jeder beeilte sich, auch dem Sohn des allgemein beliebten Nachbars die Hand zu schütteln.

»Meine Herren,« rief Mr. Witt, »was darf ich für Sie bestellen? Ich möchte Sie alle bitten, auf das Wohl meines Freundes hier – Mr. Nicholas Goade – ein Glas Wein mit mir zu trinken. Er ist der schlechteste Maler, aber der beste Mensch auf Erden und hat mir eben einen sehr großen Dienst erwiesen.«

Lauter Beifall folgte diesen Worten, und eine Viertelstunde saß man fröhlich beisammen. Dann führte Goade seine Gäste in das nebenan gelegene Café wo ein Tisch für sie gedeckt war. Eine Flasche mit vergoldetem Hals stand in einem Eiskübel bereit und eine zweite zur Reserve daneben. Behutsam löste Mr. Witt die Schnur des Pakets, das er unter dem Arm trug.

»Mr. Goade,« sagte er, »ich erlaube mir, Ihnen ein Andenken zu überreichen. Wenn es die Wirkung auf Ihren Geschmack ausübt, die es, meiner Meinung nach, ausüben sollte, werden Sie vielleicht Ihre Lieblingsbeschäftigung ändern.«

Nicht ohne Widerspruch nahm Mr. Goade das Bild in Empfang. Es war ein ausgezeichnetes Bild, und je mehr er es betrachtete, desto mehr glaubte er alles zu begreifen, was der freundliche Geber darin zum Ausdruck bringen wollte.

»Und dafür,« schloß Mr. Witt, als sie sich zu Tisch setzten, »möchte ich Sie um das kleine Gemälde bitten, an dem Sie arbeiteten, als wir uns zum erstenmal trafen – das mit der Kirche in der Ferne und den Gänsen im Vordergrund.«

»Es ist ein verdammt schlechtes Bild,« gestand Mr. Goade etwas reumütig, »aber Sie sollen es haben.«

»Es ist ein verdammt schlechtes Bild,« bestätigte Mr. Witt aus tiefem Herzen, »aber ich möchte es haben.«

 


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