E. Phillips Oppenheim
Nicholas Goade, der Detektiv
E. Phillips Oppenheim

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5

»Flip, altes Fräulein, du wirst mir zu fett«, brummte Goade nachdenklich dem kleinen weißen Dickwanst zu, der neben ihm saß.

Flip liebte persönliche Anzüglichkeiten nicht. Sie schnappte vergeblich nach einer Fliege und gähnte. Goade stand auf und klopfte die Asche aus seiner Pfeife.

»Nehme selbst zu viel zu«, fuhr er fort. »Wir wollen heute den Wagen dort lassen, wo er steht, und eine Wanderung machen.«

Beide verließen das Dorf, in dem sie übernachtet hatten, und stiegen zur hochgelegenen Heide hinauf. Sie bogen von der Straße ab und wanderten über sonnenbeschienenes, fettes Wiesenland, dann am Rande eines Kornfeldes entlang und folgten weiter den Windungen eines silberhellen, spiegelklaren Forellenbaches. Dort, wo sein Lauf in einen Privatbesitz hineinführte, wandten sie sich dem Hochland zu und stiegen über eine Stunde bis zu einem wilden, zerklüfteten Hochplateau hinauf, das sich am Fuß einer fernen Hügelkette hinzog. Goade wischte sich den Schweiß von der Stirn, warf sich auf den Rasen, streckte die Arme aus und kehrte sein Gesicht der Sonne zu.

»Das tut uns beiden gut«, brummte er in einem wohligen Gefühl behaglicher Faulheit.

Flip, die heftig atmend auf ihren Hinterbeinen saß, zog die von Heideduft erfüllte Luft ein, drehte den Kopf herum und ließ ein kurzes Bellen hören. Goade kehrte sich träge auf die Seite, um den Grund der Störung festzustellen. Seine Haltung spannte sich ein wenig, als er in diese Richtung sah. Er runzelte die Stirn und richtete sich langsam auf.

»Das sieht sonderbar aus, Flippy,« murmelte er, »sehr sonderbar.«

Ein Mensch, der in der Nähe einer Eisenbahnstation, hinter einem Autobus her oder mit der eisernen Energie eines Sportsmannes beim Training dahinläuft, ist ein recht gewöhnlicher Anblick, aber ein Mann, der auf weiter, einsamer Flur ohne ein bestimmtes Ziel oder einen bestimmten Weg zu verfolgen, daherrennt, ist etwas ganz beachtenswertes. Im Schatten eines Felsblocks halbverborgen, beobachtete Goade neugierig die Gestalt, die sich näherte. Der Flüchtling – wenn es ein Flüchtling war – schien ein kleiner, schwarzhaariger Mann von schmächtiger Gestalt zu sein, der in einem dunklen Anzug steckte. Er lief mit großer Anstrengung und wenig Geschick, hatte den Kopf gesenkt und atmete heftig, während er mit ungleichmäßigen Schritten vorwärtsstolperte und zuweilen ganz hinter einem Heidebusch verschwand. Wenn er seine Richtung beibehalten hätte, so wäre er in einer Entfernung von etwa vierzig Schritt an Goade vorbeigelaufen. Aber als er den Mann und den Hund sah, stieß er einen leisen Schrei aus und lief gerade auf sie zu. Beinahe in demselben Augenblick ertönte, man wußte nicht von wo, ein Flintenschuß und ein Schauer von feinen Schrotkörnern prasselte auf die Büsche ringsum nieder. Goade stieg auf einen kleinen Hügel und blickte ärgerlich in der Richtung, aus der der Schuß gefallen war; aber von einem menschlichen Wesen war keine Spur zu entdecken. Er wandte seine Aufmerksamkeit nun dem jungen Manne zu, der eben mit verzweifelter Anstrengung die letzten Schritte zurückgelegt und sich in der Nähe auf den Boden geworfen hatte.

»O Gott!« rief er aus. »O Gott!«

Flip rückte ein wenig weiter ab. Sie schien von dem Ankömmling keine allzu hohe Meinung zu haben; Goade stimmte hierin mit ihr überein. Man hätte sich kaum jemand vorstellen können, der weniger in diese Umgebung paßte. Es war offenbar ein Städter, wahrscheinlich ein Londoner semitischen Ursprungs. Der schmutzige Kragen, die Krawattennadel aus funkelndem Glas, die dünnen, spitzen Schuhe, das schwarze, stark geölte Haar, das jetzt in langen, wirren Strähnen in das Gesicht fiel, schienen in die volksbelebten Londoner Geschäftsviertel zu gehören. Jedenfalls unterschied sich alles das von dieser Gegend mit ihrem Sonnenschein, ihren weiten, duftenden Gefilden, den muskelstarken, rotbackigen Menschen wesentlich.

»Gott!« wiederholte der junge Mann, der immer noch heftig nach Atem rang.

»Was ist mit Ihnen?« fragte Goade. »Und wer hat da geschossen?«

»Der da, denk' ich – der Verdammte!«

Goade füllte mit Bedacht seine Pfeife.

»Ich bin vielleicht schwer von Verständnis,« gestand er, »aber das scheint mir etwas unbestimmt. Ich wüßte gerne, wer uns da mitten auf dem Heidemoor mit Schrotkörnern bombardiert hat.«

Der junge Mann stützte sich auf seinen Ellenbogen. Sein Gesicht war käsegelb; er hatte offenbar einen furchtbaren Schreck gehabt.

»Herr Nachbar,« bat er, »hätten Sie nicht vielleicht eine Feldflasche zur Hand?«

»Ich trage nie so etwas bei mir,« erwiderte Goade. »Hierzulande gibt es in jedem kleinen Gasthaus gutes Ale oder Most in Menge.«

»Ein Gasthaus!« ächzte der Ankömmling. »Hier ist weit und breit keine menschliche Wohnung zu sehen. Gott! Ein Tröpfchen Schnaps würde mir gut tun.«

Goade zog seine Karte hervor und warf einen Blick darauf.

»Einige Kilometer von hier muß ein Weiler liegen«, bemerkte er. »Können Sie mir inzwischen sagen, was Sie erschreckt hat?«

Der junge Mann schauderte.

»Genosse,« sagte er, »haben Sie von Wildkatzen, Wildschweinen und ähnlichem Getier gehört?«

»Meine naturgeschichtlichen Kenntnisse reichen allerdings so weit«, bejahte Goade.

Der andere blickte ihn starr an.

»Sie würden nicht spaßen,« erklärte er, »wenn Sie gesehen hätten, was ich sah. Ich habe einen wilden Mann gesehen. Was sagen Sie dazu?«

»Da haben Sie Glück gehabt«, entgegnete Goade in kühlem Ton. »Er scheint Sie gehörig erschreckt zu haben. Erzählen Sie mir die Geschichte.«

Der junge Mann wies über das Moor nach der Hügelkette. »Ich wohne dort auf einem Pachtgut«, erklärte er. »Der Doktor meinte, ich hätte Anlage zur Schwindsucht. Ich wohne in London in der Bethnal Green Road – mein Name ist Bill Aarons. Eine gute Gegend fürs Geschäft, aber nicht gerade für eine Luftkur. Ich bin die Ferien über hergekommen.«

»Ein vortrefflicher Gedanke«, brummte Goade. »Weiter.«

»Ich habe ein Motorrad mit einem Beiwagen. Den Beiwagen wollte ich eigentlich nicht mitnehmen, aber ich dachte mir, vielleicht gibt es einen Weiberrock in der Nähe, und da hab' ich ihn im letzten Augenblick angehängt. Da ist ein Mädchen auf der Farm – etwas zurückhaltend, aber sonst all right – ich sage Ihnen, Herr Nachbar, eine Perle!«

»Ein Mädchen auf der Farm«, wiederholte Goade. »Sehr gut! Wir kommen vorwärts.«

»Ich kann nicht sagen, daß sie für mich eine besondere Vorliebe zeigt, aber heute, als ich eine Fahrt machen wollte, da sagte sie, daß sie mitkommen möchte. Ich habe sie oft genug aufgefordert, aber sie schien sich nicht recht anschließen zu wollen. Well, sie wollte durchaus in diese Gegend – ich mußte einen Weg fahren, der für einen Bauernwagen zu schlecht ist, von meinem Motorrad nicht zu reden. Ich wollte immer haltmachen und ein wenig plaudern, aber sie zwang mich bis ans Ende des Weges zu fahren. Dann stieg sie aus und sah in diese Richtung. ›Ich will einen kleinen Gang machen‹, sagte sie. ›Sie können hier bleiben und Zigaretten rauchen. Ich bleibe ein bis zwei Stunden fort.‹«

»Nicht besonders kameradschaftlich«, bemerkte Goade.

»Ich glaubte, daß sie Spaß machte«, fuhr der junge Mann fort. »Das ist die einsamste Gegend im Moor, die ich gesehen habe – mächtige Felsblöcke, kaum ein Grashalm zu sehen –, aber sie machte sich auf. Ich weiß nicht, ob sie erwartete, daß ich ihr folgen würde. Jedenfalls hatte ich sie zum Nachmittag hinausgefahren und wollte mich nicht in dieser Weise abschütteln lassen – ich sprang ihr also nach und versuchte ihren Arm zu nehmen. Ich dachte, es wäre ganz nett, wenn wir uns im Schatten eines Felsblocks ein wenig ausruhten, aber sie wollte nicht auf mich hören. Mabel Crocombe heißt sie, und ich kann Ihnen sagen, sie hat ein Paar Augen! Na, kurz und gut, wir gehen so einige hundert Schritt – ich suche sie etwas freundlicher zu stimmen, und sie tut scheinbar alles, um mich loszuwerden. ›Sie können hier nicht so allein umherwandern‹, sagte ich zu ihr. ›Es könnte Ihnen was zustoßen.‹ – ›Lassen Sie mich in Ruh',‹ fährt sie mich an, ›ich weiß, was ich zu tun habe.‹ . . . Gott!«

Er konnte jetzt wieder atmen und zitterte nicht mehr am ganzen Leibe. Mit einem Taschentuch aus blauer Seide, das bessere Tage gesehen hatte, wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

»Bill Aarons läßt sich so etwas von keinem Weiberrock gefallen, den er zum Ausgehen mitgenommen hat – das gab ich ihr zu verstehen. Ich hatte sie um die Taille gefaßt und zeigte ihr gerade einen schönen Platz, wo wir uns hinsetzen und darüber reden konnten, da – ich geb' Ihnen mein Wort darauf, Herr Nachbar –, da kam etwas aus dem Erdboden hervorgeschossen, was wohl ein Mensch gewesen sein muß, aber, wahrhaftigen Gott, nicht so aussah!«

»Aus dem Erdboden?« brummte Goade nachdenklich.

»So sah es aus«, bestätigte der junge Mann hartnäckig. »Er tauchte plötzlich mitten aus dem großen, schrägen Felsblock auf, den Sie dort in der Ferne sehen können; es muß wohl eine Höhle sein. Well, er stieß ein sonderbares Geheul aus und packte mich – wahrhaftig! – am Kragen und schüttelte mich wie ein junges Hündchen. Er hatte mächtige braune Tatzen, das Haar hing ihm übers ganze Gesicht und ich dachte zuerst, daß er nackt war, Gott!«

»War er wirklich nackt?«

»Er hatte weder Schuhe noch Strümpfe an, nur eine Samthose und eine Art Hemd. Die Haut war beinahe schwarz und als er mich aufhob, brüllte er wie ein Stier. Dann setzte er mich nieder und faßte das Mädchen am Handgelenk. Mabel kreischte, aber sie konnte nicht loskommen. Dann schrie er mich an: ›Wenn du nicht in zehn Sekunden außer Sicht bist, so hau' ich dir jeden Knochen in Splitter.‹ Und – beim Himmel! – das war sein Ernst!«

»Was taten Sie?« fragte Goade.

»Was ich tat?« wiederholte der junge Mann mit leichtem Spott. »So 'ne Frage! Ich kniff aus, so schnell ich konnte.«

»Und ließen das Mädchen dort?«

»Was hätte ich tun können? Ich sage Ihnen, es ist ein wilder Mann, ein Riese. Seine Arme waren dicker als meine Beine. Er hätte mich aufs Butterbrot legen und verspeisen können.«

Goade stand auf und blickte nach dem Felsen, auf den der junge Mann gezeigt hatte. In diesem Augenblick knallte aus derselben Richtung wieder ein Schuß. Bill Aarons schrie auf und fiel vor Schreck platt aufs Gesicht. Aber diesmal prasselten keine Schrotkörner auf sie herab.

»Flip, komm«, rief Goade.

»Sie wollen doch nicht dorthin gehen, Herr?« fragte der Flüchtling, außer sich vor Angst.

»Natürlich geh' ich hin«, lautete die kurze Antwort. »Was mag wohl mit dem Mädchen geschehen sein?«

»Mischen Sie sich nicht ein, Genosse«, flehte der junge Mann. »Sie sind ein großer Kerl, aber er streckt Sie mit einem Schlag zu Boden.«

Goade machte sich schnell auf, ohne ihn zu beachten. Der junge Mann zauderte und folgte dann in einiger Entfernung. Plötzlich blieb er stehen.

»Ich sage Ihnen, Herr Nachbar, Sie sind leichtsinnig«, rief er ihm nach.

Goade drehte sich um und warf einen Blick auf ihn; der junge Mann verschwand hinter einem Felsblock . . .

Als Goade sich dem Haufen von Felstrümmern, zwischen denen der Schuß gefallen war, näherte, sah er nicht ohne Besorgnis um sich. Noch nie war er auf seinen Streifzügen in eine so einsame Gegend geraten – sie war landschaftlich reizvoll, aber ganz unfruchtbar; weder Weiden für Vieh noch zum Anbau geeigneter Boden, nichts, was einen Landmann locken konnte, war hier zu sehen. Auf der Landkarte war einige Meilen im Umkreis keine Landstraße vermerkt; außer einigen verstreuten Heidelbeerbüschen zeigten sich keine Pflanzen oder Blumen. Monate mochten vergehen, bevor der Fuß eines Wanderers sich hierher verirrte. Als Goade sich seinem Ziele näherte, mußte er zugeben, daß es ein höchst unangenehmer Ort für ein Abenteuer war, wie es der junge Aarons angedeutet hatte. Vorsichtig ging er um eine Ecke des gewaltigen Felsens herum und – blieb stehen. Man sah eine Öffnung, die unter die Erde führte und sehr wohl der Eingang einer Höhle sein konnte, und davor lag, auf dem Boden hingestreckt, ein Mädchen . . .

Goade, dessen Sinne fieberhaft arbeiteten, empfing mit Blitzesschnelle einige Eindrücke. Zunächst waren gar keine Spuren irgendeines Kampfes zu sehen. Das – schöne, hellbraune – Haar des Mädchens war nicht zerzaust. Nur ihre runde Wollmütze war zu Boden gefallen und lag neben ihr. Auch Rock und Jumper waren nicht in Unordnung geraten, aber ihr Gesicht war totenblaß und ein leises Stöhnen entrang sich ihren Lippen. Goade blickte vorsichtig, gespannt horchend um sich. Aus der Öffnung am Fuß des Felsens, aus der ohne Zweifel Bill Aarons' »wilder Mann« hervorgekommen war, ließ sich kein Laut vernehmen. Das Mädchen lag verlassen auf dem spärlichen Grase unter freiem Himmel. Er beugte sich über sie, fühlte ihren Puls und rieb ihr die Hände. Sie schien allmählich wieder zu sich zu kommen. Es war ein hübsches Mädchen vom besten Devonshiretyp: groß, aber schön gebaut, mit regelmäßigen Gesichtszügen und herrlichem Teint. Der leichtgeöffnete Mund ließ die vortrefflichen Zähne sehen; die kräftigen, braunen Hände waren gut geformt. Plötzlich schlug sie die Augen auf; er sah, daß sie blau waren.

»Wo bin ich?« fragte sie.

»Auf der Heide – und Sie haben nichts zu fürchten«, beruhigte er sie. »Sie kamen mit einem kleinen Mann, Aarons, her und sind erschreckt worden, nicht wahr?«

Sie richtete sich auf. Langsam drehte sie den Kopf nach der engen Öffnung unten am Felsen, und er sah, wie dabei die Farbe, die auf ihre Wangen zurückgekehrt war, wieder einer tiefen Blässe wich. Er half ihr auf die Füße und stützte sie mit seinem Arm.

»Versuchen Sie ein paar Schritte zu gehen und lehnen Sie sich an mich«, bat er sie.

»Ich kann schon gehen,« stammelte sie, »aber lassen Sie mich nicht allein.«

Langsam führte er sie über den Grashang, hinter dem sich das Motorrad befinden mußte. Unterwegs kamen sie an einem kleinen Sumpfteich vorbei. Er hielt einen Augenblick an, steckte sein Taschentuch ins Wasser und benetzte ihre Schläfen. Sie stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Ihre Schritte wurden etwas sicherer. Sie lächelte sogar ein wenig über Flip, die fortwährend zu ihrem Herrn aufblickte und mit wichtiger Miene an seiner Seite dahertrottete.

»Wo kommen Sie her, mit Ihrem kleinen Hund?« fragte sie.

»Wir haben eine Fußwanderung von Chidford aus gemacht«, antwortete er. »Ihr Begleiter fand uns am Rande des Moors. Irgend etwas scheint Sie beide sehr erschreckt zu haben. Wenn Sie sich besser fühlen, würde ich gerne von Ihnen Näheres darüber hören.«

Sie faßte seinen Arm.

»Es war nichts,« erklärte sie in fieberhafter Erregung, »gar nichts.«

Er blieb stehen. Sie waren in die Nähe des Fahrwegs gelangt, und er konnte in der Ferne einen schwarzen Punkt sehen – den jungen Aarons, der auf einem weiten Umweg um das Moor dahergestolpert kam und dann wieder unsichtbar wurde.

»Aber es muß doch etwas gewesen sein«, betonte er hartnäckig. »Der junge Mann war ganz verängstigt. Er sprach von einem ›wilden Mann‹, der aus dem Boden auftauchte und Sie beide anhielt.«

»Das hat er sich bloß so ausgedacht«, erwiderte sie. »Ich war ihm böse, weil er versuchte vertraulich zu werden. Ich sagte ihm, er sollte gehen; er ging auch fort, und dann wurde mir plötzlich schlecht.«

Goade schwieg einen Augenblick. Das Mädchen log wie gedruckt; es fragte sich nur, welchen Grund sie dafür hatte. Sie hatten jetzt die Anhöhe erreicht, in deren Nähe das Motorrad mit dem Beiwagen stand.

»Mir scheint, Ihr Begleiter kehrt zurück«, sagte er. »Wollen wir uns hier ausruhen?«

Sie willigte ein. Sie setzten sich auf die Höhe und blickten auf das Moor. Etwa einen halben Kilometer von ihnen entfernt, kam Aarons über den grasbewachsenen Pfad auf sie zugestrauchelt.

»Es war also nur eine leichte Ohnmacht«, bemerkte Goade.

»Das kommt zuweilen bei mir vor«, sagte sie. »Ich ärgerte mich darüber, daß ich mit dem jungen Mann hergekommen war. Er war mir immer unsympathisch.«

»Und sonst hat Sie wirklich nichts erschreckt?«

»Gar nichts.«

Nachdenklich blickte er nach dem Felsblock zurück. »Es ist ein einsamer Ort,« bemerkte er, »man könnte sich dort leicht verstecken.«

Sie fuhr zusammen.

»Warum sollte sich irgend jemand in dieser Gegend verbergen?« fragte sie leise. »Meilenweit gibt es hier kein Dorf.«

»Jemand verbirgt sich dort in diesem Augenblick«, sagte er ruhig.

»Wie wissen Sie das?« fragte sie mit angsterstickter Stimme.

»Nun, erstens,« sagte er, »ist gerade davor das Heidekraut von irgend jemand, der aus und ein geht, völlig niedergetreten worden. Nahe am Eingang war die Fußspur eines Mannes zu sehen, auch ein gebrauchtes Streichholz und –«

»Still!« unterbrach sie ihn. »Dort ist kein Mensch. Ich bin ganz sicher, daß niemand dort ist. Mr. Aarons hat ein Streichholz angezündet, und Sie haben seine Fußspur gesehen.«

Er blickte den Pfad entlang auf die Gestalt, die sich ihnen nun schnell näherte.

»Wir wollen hören, was uns der junge Mann darüber zu sagen hat«, meinte er.

Sie legte ihre Finger auf seinen Arm.

»Ja nicht,« flehte sie, »bitte, fragen Sie ihn nicht danach! Gehen Sie Ihres Weges, wohin Sie wollen. Ich habe einen Grund für diese Bitte.«

»Das kann ich nicht«, versicherte er. »Ich bin von Natur neugierig. Ihr Gefährte hat mir erzählt, daß er sah, wie ein wilder Mann aus dem Erdboden hervorsprang. Ich finde Sie dort in tiefer Ohnmacht. Die Sache muß aufgeklärt werden.«

Sie zog ihre Hand von seinem Arm zurück. »Sie sind ein verrückter Mensch«, sagte sie. »Manchen hat die Neugier schon das Leben gekostet.«

Er blickte nach dem Felsblock zurück. Es kam ihm vor, als ob der Heidebusch, der den Eingang halb verdeckte, sich leise bewegte, als ob jemand hindurchspähte. Das junge Mädchen beobachtete ihn in fieberhafter Erregung.

»Vielleicht«, sagte er nachdenklich, »wäre es am besten, ich ginge zur nächsten Polizeiwache und brächte jemand her.«

»Das dürfen Sie auch nicht tun,« flehte sie, »bitte, bitte, tun Sie das nicht!«

»Dann ist also jemand dort?« fragte er schnell.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Und wenn jemand dort wäre, warum wollen Sie sich darum kümmern? Was geht Sie das alles an? Ich hasse Menschen, die sich überall einmischen.«

Mr. Bill Aarons von der Bethnel Green Road kam her angeschlendert.

»Donnerwetter, Herr, Sie haben Glück!« rief er, mit einem letzten ängstlichen Blick nach dem Fels hin. »Nehmen Sie Platz, Fräulein, wenn Sie fertig sind. Wir wollen machen, daß wir fortkommen. Das ist keine gute Gegend.«

Er beugte sich über die Maschine, brachte den Motor in Gang, schwang sich in seinen Sattel und öffnete ihr den Schlag des Beiwagens.

»Also los,« bat er, »wir wollen fort von hier, solange es uns möglich ist.«

Das junge Mädchen ergriff Goades Arm.

»Ich begreife jetzt,« sagte sie, »Sie sind gekommen, um mir zu helfen. Sie dachten, ich wäre in Gefahr. Das war sehr mutig von Ihnen. Aber es war wirklich gar kein Grund zur Furcht da.«

Aarons fuhr auf seinem Sattel herum.

»Gott!« schrie er. »Gar kein Grund zur Furcht! Sie können mich beide einen Feigling nennen. Ich bin wohl auch einer. Aber ich kann Ihnen sagen, wenn ich je im Leben wieder so etwas sehe, so ist es aus mit mir. Steigen Sie ein, Miss. Wenn ich bloß an ihn denke, krieg' ich wieder das Zittern.«

Als sie ihren Platz eingenommen hatte, neigte sie sich Goade zu.

»Gehen Sie nicht dahin zurück!« bat sie.

»Das kann ich nicht versprechen«, antwortete er.

Sie sah ihn mit unverkennbarer Verzweiflung an.

»Mein Name ist Crocombe,« sagte sie, »– Mabel Crocombe. Wir leben auf der Wood Farm, dort hinter den Bäumen in der Ferne. Wollen Sie zu uns kommen?«

Er nickte und blieb mit dem Hut in der Hand stehen, während sein Blick dem Motorrad folgte, das knatternd den verfallenen Weg hinaufklomm und kleine blaue Wölkchen auspuffte. Als sie endlich die Höhe genommen hatten, drehte das Mädchen sich um und winkte ihm zu. Dann waren sie hinter dem Hügelrücken verschwunden. Goade füllte seine Pfeife und überlegte. Ohne Zweifel erwartete ihn dort in einer Entfernung von wenigen hundert Metern ein Abenteuer – vielleicht ein schlimmes Abenteuer. Der Angstzustand, in dem sich der junge Aarons befand, mußte einen außergewöhnlichen Grund haben. Der Mensch, der unter dem Felsen in der Erde vorübergehend einen Unterschlupf gefunden hatte, mußte durch irgendein Motiv in die Einsamkeit getrieben sein und offenbar irgend etwas Schauriges an sich haben, sonst hätte er die beiden Eindringlinge nicht zu Tode erschreckt. Die Sache schien ihm eine nähere Untersuchung zu erfordern. Andrerseits befand er sich auf Urlaub. Er hatte keinen besonderen Grund, den dringenden Bitten des Mädchens nicht zu folgen und die ganze Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Das schien im Grunde das einzig Vernünftige zu sein. Als er zu diesem Schluß gelangt war, suchte er ihn sich mit aller Macht einzuprägen, um darnach zu handeln. Dann aber tat er, was er in seinem Innern genau vorausgesehen hatte: er schwang sich über die Grashöhe, packte seinen Stock fester und schritt, mit Flip an seiner Seite, über das Heideland auf den Felsen zu. Er blieb davor stehen und horchte. Kein Laut war zu hören. Dann erhob er seine Stimme.

»Hallo!«

Es erfolgte keine Antwort. Er schlug an den Felsen. Plötzlich ließ sich aus dem dunklen Innern eine Stimme vernehmen, bei deren Klang er zusammenfuhr.

»Hallo! Was wollen Sie?«

»Nur ein Wort mit Ihnen reden.«

Jetzt wurden leichte Schritte hörbar. Goade trat überrascht etwas zurück. Die Stimme, die ihm geantwortet hatte, war nicht die Stimme eines Bauern, eines wilden oder halbzivilisierten Menschen. Sie gehörte, der Klangfarbe und dem Tonfall nach, einem gebildeten Manne an. Er bereitete sich trotzdem auf eine Gefahr vor, ja, er erwartete sie geradezu. Da teilte sich der Heidebusch vor ihm, und Goade, der an Überraschungen gewöhnt war, stand mit offenem Munde da. Ein schlanker, glattrasierter, wohlgebauter junger Mann in einem alten, aber vorzüglich geschnittenen Wollanzug, trat ruhig hervor. Er war unbewaffnet, und sein Monokel saß so fest, als ob es mit seinem Auge verwachsen wäre. Mit der einen Hand ordnete er sein Haar, das, während er sich durch den Eingang zwängte, ein wenig in Unordnung geraten war.

»Hallo, Goade!« rief er. »Zum Teufel, was treiben Sie in dieser Gegend?«

Goade war einen Moment sprachlos. Er betrachtete den jungen Mann von oben bis unten. Das war ohne Zweifel ein gebildeter, kultivierter Mensch. Mit einer leichten Veränderung seines Aufzuges aus dem Ländlichen ins Städtische hätte er vortrefflich auf den Bond Street oder in Piccadilly spazieren können. Außerdem kam er ihm nicht ganz unbekannt vor.

»Sie scheinen mich zu kennen«, sagte Goade. »Ich muß gestehen, daß ich Sie nicht wiedererkenne.«

»Wir haben uns ein- oder zweimal getroffen«, erwiderte der andere. »Mein Name ist Erriscombe – Cecil Erriscombe. Ich bin in der ›Braunen Maske‹ im Royaltytheater aufgetreten. Irgend jemand brachte Sie zur Premiere mit.«

»Natürlich, ich erinnere mich«, bestätigte Goade. »Sie müssen mir verzeihen, wenn ich zuerst ein wenig verdutzt war. Ich hätte nie erwartet, daß aus diesem Erdloch ein bekannter ›erster Liebhaber‹ herauskriechen könnte. Aber, Mann, was machen Sie denn hier?«

Mr. Cecil Erriscombe lächelte. Er zog ein goldenes Etui hervor und hielt es Goade hin, nachdem er sich selbst eine Zigarette herausgenommen hatte.

»Aufrichtig gesagt,« berichtete er, »ich habe die gewöhnlichen Ferien satt. Ich machte eine Fußwanderung durch die Heide und kam während eines Gewitters an diesen Platz. Ich dachte mir, es wäre eine großartige Idee, sich hier auf acht bis zehn Tage niederzulassen und die Natur gewissermaßen aus erster Hand zu genießen. Sie erinnern sich, ich war bei den ›Arkadiern‹, und der Gedanke hatte für mich immer großen Reiz. Ich kaufte mir Vorräte und zog vor einer Woche hier ein. Es war fabelhaft, aber ich muß morgen fort.«

»Himmel!« brummte Goade, der noch wie betäubt war.

»Der Teich dort war meine Badewanne«, fuhr der andere fort, lehnte sich an den Fels zurück, auf dem sie sich niedergelassen hatten, und blickte dem Rauch nach, der sich von seiner Zigarette emporkräuselte, »und zugleich mein Spiegel. Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten dort drin, aber das ist nicht der Rede wert. Ich bedaure nur, keine Kamera mitgenommen zu haben, um eine Aufnahme von mir in meiner Verkleidung zu machen.«

»In Ihrer – was?«

»In meiner Verkleidung«, wiederholte der junge Mann in kühlem Ton. »Verstehen Sie, den ersten Tag, als ich hier war, kam ein Tourist zu Fuß und dann einige Kinder, die Heidelbeeren pflückten. Das langweilte mich und verdarb mir meine Illusion von tiefer Einsamkeit. Ich telegraphierte nach London und ließ mir eine Ausrüstung für einen Wilden – mit Tomahawk usw. – schicken. Es hat mir viel Spaß gemacht«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das seinem Gefährten aus irgendeinem Grunde nicht recht natürlich schien.

»Das glaub' ich«, bemerkte Goade, dessen Überraschung zunahm. »Sie haben einen jungen Mann fast zu Tode erschreckt, und hier draußen fand ich ein Mädchen in tiefer Ohnmacht.«

»Das tut mir leid«, erklärte Erriscombe. »Ich wollte den jungen Mann in Angst versetzen, aber als ich nichts mehr von dem Mädchen hörte, glaubte ich, sie wäre in der entgegengesetzten Richtung davongelaufen. Sie hat nicht aufgeschrieen, sonst hätte ich es hören müssen. Ich hoffe, es geht ihr wieder gut?«

»Es geht ihr wieder gut«, bestätigte Goade mit tonloser Stimme. »Sie ist mit dem jungen Mann heimgefahren.«

»Und, wahrhaftig,« überlegte Erriscombe mit einem sonderbaren Lächeln, »in ein, zwei Tagen wird das ganze Landvolk hier herumkrauchen, um den wilden Mann zu sehen. Ich denke, ich lasse ihnen meine Ausrüstung zu ihrem Vergnügen da und mache mich auf die Socken. In welcher Richtung gehen Sie, Goade? Wir könnten ein Stück zusammen wandern.«

»Ich wollte zuerst auf der Farm, dort hinter den Bäumen, einen Besuch machen,« erwiderte Goade, »nur um der jungen Dame mitzuteilen, daß sie nichts zu befürchten hatte. Nachher will ich nach Chidford zurück, wo ich mein Auto gelassen habe.«

»Chidford paßt mir sehr gut«, stimmte Erriscombe mit unverkennbarem Eifer zu. »Sie könnten zur Farm gehen und mich auf dem Rückweg abholen, nicht? Ich habe noch einiges in meinen Rucksack zu tun. Auf jeden Fall kostet es Sie hin und zurück nicht mehr als eine Stunde. Wir werden rechtzeitig in Chidford sein, um einen großartigen Tee mit allem, was dazu gehört, einzunehmen. Es wird mir vielleicht nicht unangenehm sein, wieder einmal zwischen Bettüchern zu schlafen.«

»Sehr gut«, stimmte Goade bei. »Es wird mich freuen, mit Ihnen zusammen zu sein – wenn es Ihnen recht ist, nehm' ich Sie morgen in meinem Wagen mit. Lassen Sie mich einen Blick in Ihr Quartier werfen«, fügte er hinzu und spähte durch den Heidebusch.

Der junge Mann verzog ein wenig das Gesicht.

»Lieber nicht,« meinte er, »es ist so dumpf und unordentlich da unten, es wäre mir unangenehm. Ich habe die beiden letzten Nächte draußen geschlafen.«

Goade nickte in Gedanken. Plötzlich schoß Flip an ihm vorbei durch die Öffnung und verschwand im Finstern. Gleich darauf drang ihr scharfes Gebell zu ihm hinauf.

»Was gibt es, Flip?« rief er.

Statt einer Antwort hörte man, wie Flips Gebell plötzlich in ein Heulen überging. Erriscombes Finger, die seine Zigarette hielten, zitterten.

»Um Gottes willen rufen Sie das kleine Biest zurück«, bat er. »Ein schreckliches Geheul!«

Goade stand auf und blickte ernst auf den jungen Mann.

»Ich habe sie nur einmal so heulen hören«, sagte er. »Ich werde hineingehen müssen, Erriscombe.«

Der junge Mann stand regungslos da.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte er nach einer Weile.

»Ich muß hineingehen und sehen, warum der Hund so heult«, erklärte Goade. »Es tut mir leid, Erriscombe.«

Unvermutet ergriff er ihn an den Armen und befühlte seinen Körper.

»Es ist gut«, sagte er, als er ihn freiließ. »Sie können hier auf mich warten oder mitkommen, wie Sie wollen.«

Erriscombe zuckte die Achseln, zog eine elektrische Taschenlampe hervor und übergab sie Goade.

»Sie werden das nötig haben«, sagte er. »Geben Sie auf die dritte Stufe acht. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich werde auf Sie warten.«

Goade nahm die Lampe und stieg hinunter. Die Luft war ganz gut, und am Fuß von drei rohen Steinstufen fand er den Boden mit trockenem Heidekraut bedeckt. In einer Ecke hatte offenbar ein Mensch geschlafen; schmutziges Kochgeschirr lag umher und ein Napf, in dem man Wasser aus dem Teich geholt hatte. Das war alles, was Goade auf den ersten Blick bemerkte; aber ein zweiter zeigte ihm etwas viel Schrecklicheres. Aus einer Vertiefung, die offenbar weiter in die Höhle hineinführte, ragte das haarige, sonnverbrannte Bein eines Mannes hervor, das in einem groben Schuh steckte. Goade schlich vorwärts und ließ seine Lampe aufleuchten. Ein großer, spärlich bekleideter Mann mit ungeheurem Bart und Haupthaar lag regungslos auf der Seite. Ein leichter Pulverdampf war in der Luft zu spüren, eine Flinte und eine leere Patronenhülse lagen auf dem Boden, und in einem entfernten Winkel schien noch etwas bläulicher Rauch zu lagern. Goade richtete sich einen Augenblick auf und blickte um sich. Dann drehte er um und stieg die Stufen empor, die ins Tageslicht hinaufführten. Erriscombe saß auf dem Felsen, ein Sonnenstrahl fiel blitzend auf sein Monokel, aber bei Goades Erscheinen erhob er sich, wie um jemand zu begrüßen. Goade, der nach Luft schnappend ins Sonnenlicht trat, mußte sich einen Augenblick die Augen reiben. Wenige Schritte von ihnen entfernt, kam das junge Mädchen mit ausgebreiteten Armen auf sie zugeeilt.

»Cecil!« schrie sie. »Cecil!«

Der junge Mann schüttelte langsam den Kopf. Sie warf sich schluchzend in seine Arme.

»Es war nicht zu ändern, Liebling«, sagte er. »Goade kam zufällig vorbei, und da ist nichts mehr zu machen.«

»Sie täten beide gut daran, kein Wort mehr zu sagen«, riet ihnen Goade, »Sie wissen, wer ich bin, Erriscombe. Ich bin auf Urlaub, aber ich bin trotzdem Kriminalbeamter. Ich werde Sie nach Chidford mitnehmen müssen.«

Erriscombe nickte. Das Mädchen hatte sich auf einen Stein niedergelassen und schluchzte leise vor sich hin.

»Schon recht, Goade«, sagte der junge Mann. »Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Was Ihren Rat betrifft, zu schweigen, so lassen Sie das meine Sorge sein. Ich habe Lust, Ihnen alles, was geschehen ist, genau zu erzählen, und zwar hier auf der Stelle, während Mabel zuhört.«

»Es ist gegen meinen Rat«, erinnerte ihn Goade.

»Im vergangenen Sommer«, fuhr Erriscombe unbeirrt fort, »kam ich auf die Ferien hierher. Ich wohnte auf der Wood Farm. Wie soll ich es in einfachen Worten sagen? Ich schloß mich Mabel an, die, glaub' ich, mit dem Klotz da unten so gut wie verlobt war – er war der Sohn eines Pächters in Chidford. Fällt Ihnen dabei nichts ein, Goade? Ein Fall, der durch die Zeitungen ging. Wir machten keinen Lärm, aber die Sonntagsblätter kriegten Wind davon.«

Goade nickte.

»Ich besinne mich darauf«, sagte er.

»Nun, obwohl ich Schauspieler war und aus London kam, war ich doch nicht ganz der Lump, für den mich manche gehalten haben. Ich ging auf einige Zeit fort, und Mabel fuhr zu einer Tante nach Exeter. Wir ließen uns trauen, und ich kehrte dann hierher zurück, um den Rest meines Urlaubs hier zuzubringen. Es war natürlich ein Fehler,« fuhr er fort, »daß wir unsere Heirat nicht bekanntmachten, aber ich sollte nach einem Monat im Haymarkettheater in einer Rolle auftreten, die mein Lebenserfolg hätte werden können. Ich wußte, daß es ein dauernder Erfolg für mich sein würde, und ich wußte auch, daß ich bessere Aussichten hatte, wenn ich meine Heirat geheimhielt, bis die Vorstellungen in vollem Gange waren. Natürlich wurde ein wenig über uns geklatscht, aber Mabel machte sich nichts daraus; sie wußte, daß alles bald in Ordnung sein würde. Das Unglück kam durch den rohen Kerl, mit dem ich eben abgerechnet habe.«

Erriscombe schwieg und blickte zu einem Falken hinauf, der über ihnen kreiste. Dann fuhr er fort.

»Dieser Mann – Crang war sein Name – lief wie ein Wahnsinniger in der Gegend umher, und alle sagten mir, ich sollte mich vor ihm in acht nehmen. Eines Tages verfolgte er uns und fand uns hier an dieser Stelle. Ich tat, was ich konnte, aber was half es, Goade? Er ist sechseinhalb Fuß lang und hat Muskeln wie ein Stier, und wenn ich auch ein wenig boxen kann – es war doch nie meine Liebhaberei. Er machte aus mir eine Art Marmelade – verdrosch mich, Goade, während Mabel schreiend um uns herumlief. Sind Sie jemals verdroschen worden, Goade?«

»Nicht daß ich wüßte«, gestand Goade.

»Nun, ich kann Ihnen sagen, es ist nicht schön. Ich mußte es eine halbe Stunde lang aushalten, dann war ich bewußtlos. Er muß mir noch ein paar Fußtritte versetzt haben, bevor er mich liegen ließ. Die Premiere im Haymarket war für mich verloren. Ich lag vier Wochen im Krankenhaus von Exeter und Crang kam ›wegen versuchten Totschlags‹ auf zwei Jahre ins Gefängnis.«

Wieder schwieg er. Ein einsamer Brachvogel flog mit leisem, traurigem Ruf über sie dahin. Mabel schluchzte, und Goade wartete mit ernstem Gesicht. Er wollte jetzt jedes Wort hören.

»Sie sind nie verprügelt worden, sagen Sie, Goade?« begann Erriscombe von neuem. »Irgend etwas läßt einem bei diesem Gedanken das Blut gerinnen – es stammt vielleicht aus der Schule und begleitet einen durch die Studentenjahre ins Leben hinein. Ich habe immer gewußt, was nun kommen mußte. Ich wußte, daß nur eins mir meine Ruhe wiedergeben konnte, und ich hab' es getan. Den Mann, der mich verprügelt hatte, mußte ich töten. Vor vierzehn Tagen las ich, daß er aus dem Gefängnis entsprungen war und sich irgendwo in der Gegend verborgen hielt. Ich glaubte zu wissen, wo ich ihn finden würde. Ich kam her. Ich hatte einen Revolver, aber ich machte keinen Gebrauch davon. Sie werden ihn dort in dem Teich finden. Ich hab' ihn mit seinem eigenen Doppellauf erschossen.«

»Wer hat den ersten Schuß auf Aarons abgefeuert?« fragte Goade.

»Crang«, erklärte Erriscombe. »Mabel und der kleine Stadtmensch lockten ihn aus seiner Höhle. Ich lag einige Schritte von ihm entfernt und wartete darauf, daß er herauskäme. Mabel war von der Farm herbeigeeilt, um das Unglück womöglich zu verhindern. Crang hörte ihre Stimmen und kam heraus. Er jagte dem kleinen Mann einen Todesschreck ein, feuerte ihm einen Schuß nach und ließ das Gewehr an den Felsen gelehnt stehen. Während er mit Mabel sprach, nahm ich es an mich. Er hörte mich und drehte sich um. Ich schoß. Mit Mühe und Not gelang es mir, ihn in seine Höhle hinunterzuschleppen. Gerade als ich wieder heraufkam, hörte ich Sie und wartete. Das Märchen von meiner Verkleidung als Wilder erfand ich, weil ich mir denken konnte, wie Aarons Ihnen den Mann, der ihn erschreckte, beschrieben haben mußte. Was gedenken Sie nun zu tun?«

»Ich weiß nicht«, gestand Goade.

Sie saßen da und sahen einander an. Erriscombe stand auf und setzte sich an die Seite seiner Frau. Er legte seinen Arm um sie, und ihr Kopf sank an seine Schulter.

»Ich mußte es tun, Liebling«, flüsterte er. »Ich bin eine Last – eine schwere Last los.«

»Wir wollen sehen, ob der Mann tot ist«, sagte Goade nach einer kurzen Pause. »Kommen Sie, Erriscombe, helfen Sie mir.«

Sie stiegen die Stufen hinab und schleppten den schweren Körper in den geräumigeren Teil der Höhle. Goade zog seinen Rock aus und untersuchte die Wunde. Dann drehte er sich schnell um.

»Bringen Sie Wasser in dem Napf!« befahl er. »Er ist nicht tot.«

Über eine halbe Stunde war er damit beschäftigt, aus seinem eigenen Hemd einen Verband zurechtzuschneiden und ihn dem Verwundeten anzulegen. Erriscombe hatte etwas Branntwein bei sich, von dem sie einige Tropfen zwischen die Zähne des Mannes gossen, der die ersten Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins gab. Endlich trat Goade ins Freie.

»Der Mann ist stark wie ein Bulle«, erklärte er. »Er kann am Leben bleiben; ja, ich bin fest überzeugt, daß er davonkommt.«

»Und jetzt?« fragte Erriscombe.

»Und jetzt?« wiederholte das junge Mädchen, das ihren Blick auf Goade gerichtet hielt.

»Können Sie ein Auto fahren?« fragte dieser.

»Das kann jeder«, lautete die zuversichtliche Antwort.

Goade wies über das Moor hin.

»Dort finden Sie meinen Wagen«, erklärte er »Nehmen Sie ihn und fahren Sie nach der Farm. Schicken Sie ein Lastfuhrwerk mit den stärksten Männern, die Sie finden können, dort auf den Fahrweg. Der junge Aarons kann sich auf sein Motorrad setzen und einen Arzt holen. Alles andere überlassen Sie mir. Ich will tun, was ich kann.«

Er hielt die Hand hin; Erriscombe ergriff sie. Sie sprachen kein Wort; ein Blick sagte alles. Die junge Frau schritt mutig an der Seite ihres Gatten. Goade wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann ging er an den Teich und holte noch mehr Wasser herbei. Als er zurückkam und die drei Stufen hinabstieg, sah er, daß die Augen des Mannes weit geöffnet waren. Goade benetzte ihm die Stirn, fühlte seinen Puls und setzte sich neben ihn.

»Sie sind angeschossen worden«, sagte er.

»Ja«, murmelte der Mann.

»An Ihrer Stelle«, fuhr Goade fort, »würde ich das vergessen.«

Der Mann sah ihn verständnislos an.

»Sie sind mit dem Gewehr in der Hand auf den Stufen ausgeglitten. Es ist losgegangen und hat Sie verletzt. Sehen Sie, als braver Devonshirebursche wissen Sie genau, was recht und billig ist. Sie haben Erriscombe halbtot geprügelt. Er kann nicht boxen, aber er mußte seine Revanche haben, nicht wahr? Jetzt sind Sie quitt. Er hat Mabel geheiratet. Daran ist nichts zu ändern.«

Der Mann lag ganz still. In seinem Gesicht zuckte es. Es sah aus, als versuchte er zu verstehen.

»Sie haben Erriscombe heute nicht gesehen«, betonte Goade weiter. »Sie sind die ganze Zeit allein gewesen, bis ich Sie hier fand. Ich hörte den Schuß und kam herbei. Sie werden gesund werden, aber man wird Sie ausfragen. Crang, Sie sind doch ein Sportsmann! Halten Sie den Mund, und ich werde mein Bestes tun, Sie aus dem Gefängnis zu befreien. Ich nehme eine leitende Stellung in der Kriminalpolizei ein und habe dort Einfluß. Verstehen Sie?«

»Wenn der Kerl mit Mabel richtig verheiratet ist,« brachte der Mann langsam hervor, »dann hab' ich nichts mehr gegen ihn. Ich bin die Stufen heruntergefallen, Herr. Schon recht. Ich habe Erriscombe nicht gesehen. Ich versteh' jetzt. Geben Sie mir noch etwas Wasser.«

Goade hielt die Schüssel an seine Lippen. Dann horchte er auf.

»Man kommt, Sie zu holen«, sagte er. »Sie werden bald gesund sein, Crang. Nicht wahr, Sie halten Ihr Wort?«

»Ganz si–cher«, sagte der Mann mit Überzeugung. »Es war nun mal bestimmt, daß sie heiraten mußten, und Sie können Mabel sagen, daß alles in Ordnung ist.«

Der Mann hatte Riesenkräfte. Er konnte sich beinahe schon aufsetzen. Goade ging ins Freie hinaus und winkte die Landleute herbei, die bereits auf dem Fahrweg aus dem Lastwagen stiegen.

 


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