E. Phillips Oppenheim
Nicholas Goade, der Detektiv
E. Phillips Oppenheim

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4

Der Westwind blies in sanften Stößen über die weiten Flächen, die von zahllosen Kaninchen bevölkert waren. Flip zog begierig die süßen Düfte ein und konnte ihrer Jagdlust kaum noch widerstehen. Goade, dessen Auto mit Mühe die steile Anhöhe genommen hatte, ließ den Wagen halten und öffnete den Schlag. Wie ein Gummiball sprang die kleine, fette Hündin auf die Straße und überließ sich ihrem Lieblingssport.

Goade zog einen Packen Briefe, die er auf dem Postamt des nahen Dorfes in Empfang genommen hatte, aus der Tasche und begann sie zu lesen. Der letzte, der in einem großen Umschlag steckte – auf der Rückseite waren die schwarzen Buchstaben »S. Y.« zu sehen –, schien ihn am meisten zu interessieren. Er war von seinem Chef und enthielt nur wenige, aber inhaltsreiche Zeilen:

»Mein lieber Goade, – ich freue mich zu hören, daß Sie Ihre Ferien in so angenehmer Weise verbringen. Ohne Sie bei Ihrer künstlerischen Betätigung im geringsten stören zu wollen, möchte ich Ihnen nahelegen, falls Sie durch das Marktstädtchen Bodstaple kommen sollten, dem Ortssergeanten einen Besuch zu machen. Ganz unerklärliche Unfälle sollen sich in der Nachbarschaft ereignet haben; die Ortspolizei steht ihnen ratlos gegenüber. Faulkener, der Polizeidirektor der Grafschaft, den Sie wohl persönlich kennen, ist von Exeter herübergekommen und, soviel ich sehen kann, wird man sich, wenn die Sache nicht bald aufgeklärt wird, an uns wenden. Ich bitte Sie durchaus nicht, amtlich einzugreifen, aber ich dachte mir, es könnte Ihnen Vergnügen machen, falls Sie in der Nähe sind, die Sache zu untersuchen.«

Goade steckte den Brief in seine Brusttasche, die er zuknöpfte. Dann studierte er einen Augenblick die Karte, füllte seine Pfeife und lehnte sich zurück, um die milde Sommersonne zu genießen. Der Wind trug ihm nicht nur die Wohlgerüche zu, die Flips Herz mit Entzücken erfüllt hatten: ein Hauch von wildem Thymian umwehte ihn, der mandelartige Duft des Ginsters; hier und da kam ein süßer Geißblattgeruch aus der Nähe. Es war ein Morgen lässigen Ausruhens für die trägen Sinne; sogar seine Staffelei wäre ihm heute eine drückende Last gewesen. Goade kreuzte die Arme hinter seinem Kopf und gab sich einer Träumerei hin, die gar nicht zu seinem Beruf paßte. Dem geschicktesten Verbrecher auf der Welt wäre es schwer gefallen, ihn in diesem Augenblick aus seiner Lethargie zu wecken. Die Menschenjagd hatte jeden sportlichen Reiz verloren. Wie herrlich wäre es gewesen, in dieser Gegend den Rest seiner Tage zu verbringen, wenn nur die Sonne öfter scheinen wollte!

Ein scharfes Gebell auf der Straße rief ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Er blickte über den Wagenrand. Flip, das fragwürdigste Exemplar eines Hundes, das je ein Menschenhirn erdenken konnte, war auf den Tritt geklettert und wartete darauf, daß ihr die Tür geöffnet würde. Ihre vier Beine hatten die Farbe des Torfmoors angenommen, und der Bauch war mit einer schwarzen Schmutzschicht bedeckt. Die Schnauze und der Kopf hatten so tief in den Kaninchenlöchern gesteckt, daß sie bis auf die Augen unkenntlich waren. Sie wedelte etwas betreten mit dem Schwanz und sprang auf ihren Sitz.

»Sie kommen in den nächsten Teich, mein Fräulein«, brummte Goade – aber diese Drohung ließ sie ganz kalt.

In bequemer Fahrt ging es durch die hübsche Landschaft, bis sie in das freundliche, zerstreut liegende Dorf Bodstaple kamen, das sich an einer steilen Berglehne hinstreckte. Unten rieselte ein Forellenbach in zahlreichen Windungen durch das grüne Wiesenland, oben zog sich eine saubere weiße Straße hin, zu einem kleinen Platz, um den sich die größten Häuser und Geschäfte des Fleckens gruppierten. Goade hielt vor dem gemütlichen Gasthaus, bestellte den Lunch und wanderte zur gegenüberliegenden Polizeiwache, einem blumengeschmückten Haus. Ein mit unregelmäßigen weißen Steinen gepflasterter Weg führte durch einen bunten Garten dorthin. Der Wachtmeister Elworthy war zu Hause und hatte offenbar keinen Dienst. Er trug seine Uniformhose und ein graues Hemd, kaum etwas mehr.

»Ich bin auf Urlaub,« erklärte ihm Goade, nachdem er seine Karte vorgewiesen hatte, »und möchte nur dann eingreifen, wenn ich mich nützlich erweisen kann. Der Chef hat mir aus Scotland Yard geschrieben, daß Sie sich wegen gewisser Vorfälle hier in Verlegenheit befinden. Er fügt keine näheren Angaben hinzu. Ich weiß nicht, ob Sie Wert darauf legen, mir die Sache mitzuteilen.«

Der Wachtmeister, ein großer, schwerer Mann, betrachtete die Karte, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Er las den Namen laut vor sich hin.

»Goade«, überlegte er. »Ein Inspektor Goade erhielt die große Belohnung aus Amerika.«

»Ich war der Glückliche«, gestand sein Besucher.

Der Sergeant warf ihm einen ehrfurchtsvollen Blick zu.

»Sie sind hochwillkommen, Mr. Goade«, sagte er. »Für einen Kopf wie Ihren mag das eine kleine Sache sein, aber wir kleinen Leute in der Provinz sind in arger Verlegenheit!«

»Erzählen Sie«, sagte Goade, stopfte seine Pfeife und reichte seinen Tabaksbeutel dem andern. Der Sergeant war ein sehr bedachtsamer Mann, und es dauerte fünf Minuten, bis er Goades Beispiel folgte und seinen Bericht begann. Goade hütete sich, ihn zu drängen. Er wußte aus Erfahrung, daß man aus den Menschen am meisten herausholt, wenn man sie nach ihrer eigenen Art verfahren läßt.

»Es fing vor vier Monaten mit dem jungen Ned Spurrell an,« setzte der Polizist auseinander, »dem Waldhüter des Gutsherrn, – er trinkt gern einen Tropfen, ist aber sonst ein ganz harmloser junger Kerl. Er kam eines Nachts auf seiner Runde durch den Wald und fühlte plötzlich, wie er sagte, ›daß etwas ihn ins Bein biß‹. Er stürzte zu Boden, und als er nach einer Weile wieder zu sich kam, fühlte er eine Wunde am Bein, die jetzt noch nicht ganz geheilt ist.«

»Was für eine Wunde?« fragte Goade neugierig.

»Eine scheußliche Wunde mit ausgezackten Rändern, als ob jemand ihm mit einem eisernen Gegenstand einen Schlag versetzt hätte. Er lag sechs Wochen zu Bett und fühlte sich ganz jämmerlich. Dann, während er noch krank lag, passierte John Strone fast ganz dasselbe. Er arbeitet als Knecht auf der Hall Farm und kam in der Nacht aus dem Gasthaus – etwas angeheitert vielleicht, aber nicht schlimm –, plötzlich merkte er, daß etwas ihn am Bein packte. Er fiel der Länge nach hin, und als er die Besinnung wiedererlangte, war seine Hose ganz zerrissen und er selbst etwa in demselben Zustand wie Ned. Wie erklären Sie sich das, Mr. Goade?«

Goade schüttelte den Kopf.

»Ich kann noch gar nichts dazu sagen«, meinte er. »Ich wüßte gern, was der Arzt zu der Verletzung sagt.«

»Das können Sie jederzeit erfahren,« erwiderte der Sergeant, »Doktor Graves wohnt hier im Ort, und gegen eins wird er von seinen Krankenbesuchen nach Hause kommen. Auch er weiß gar nicht, was er dazu sagen soll. Nach Strone kam ein ganz junger Bursche an die Reihe, der noch nicht lange hier in der Gegend ist – Michael Kerrison –, ein leichtfertiger Kerl, fürcht' ich. In einer finsteren Nacht war er unterwegs – wie manche glauben, um zu wildern –, und plötzlich fühlte er einen Schlag auf den Hinterkopf, wie von einem mächtigen Balken, und stürzte hin. Er sah keine Menschenseele und hörte keine Schritte. Es war, als ob ein Klafter Holz vom Himmel fiel und ihn betäubte. Zuletzt – Donnerstag werden es vierzehn Tage sein –, da wollte sich Mr. Emmett, der Krämer, auf Jobsons Wiese am Abend ein Kaninchen holen – er hat dort das Recht zu jagen –, und als er über die Steine kam, die durch den Sumpf gelegt sind, erging es ihm wie Strone und Kerrison und Spurrell. Als er zu sich kam, hatte er genau dieselbe Wunde, aber er lag auf trockenem Boden. Er behauptet, daß irgend jemand ihn herausgezogen – aus Furcht, er könnte ersaufen – und ihn dort habe liegen lassen.«

»Keiner von diesen Männern war beraubt worden oder sonst in irgendeiner Weise zu Schaden gekommen?«

»Nichts hatte man angerührt. Die meisten hatten Geld in der Tasche, und es fehlte nichts daran. Mr. Emmett hatte fünf Pfund in Banknoten und etwas Silbergeld bei sich. Nicht ein Penny war abhanden gekommen.«

»Alle gehörten verschiedenen Familien an? Standen in gar keiner Verbindung?«

»Ganz und gar nicht. Der junge Bursche war den anderen fast fremd. Spurrell und Strone sind befreundet, aber nicht sehr nahe.«

»Gibt es schlechte Elemente im Dorf?«

»Keine Menschenseele, der man eine Übeltat zutrauen könnte,« lautete die überzeugte Antwort. »Die Polizei hat kaum etwas zu tun und jetzt, seit die gläubigen Sektierer aus Wales gekommen sind, weniger denn je. Sie scheinen mächtig viel Gutes gewirkt zu haben, obwohl ich damit nicht sagen will, daß es hier nötig war. Wir sind hier nicht so sündhafte Leute wie in den Städten.«

»Haben Sie irgendeine Erklärung?«

»Keine, die ein Mann bei gesundem Verstande gelten lassen könnte,« erwiderte der Sergeant.

»Einen Verdacht?«

»Es gibt im Dorf keinen Menschen, den man verdächtigen könnte.«

»Keine Ortsfremden in der Gegend?«

»Keine Spur.«

»Well, kein Wunder, daß Sie nicht aus noch ein wissen, Wachtmeister«, sagte Goade. »Ich will am Nachmittag mit dem Doktor sprechen und vielleicht auch mit einem der Verunglückten. Wann haben Sie wieder Dienst?«

»Um zehn Uhr abends, Sir«, erwiderte der Mann. »Tagsüber gibt es nur Kleinigkeiten zu erledigen. Ich hatte die Absicht, einen Rundgang in der Nacht zu machen. Vielleicht findet sich was.«

»Ich werde zeitig hier sein«, versprach Goade und empfahl sich.

Nach einem vorzüglichen Lunch machte er dem Arzt einen Besuch, aber der joviale alte Herr konnte ihm absolut keine Aufklärung geben.

»Ich kann Ihnen nur so viel sagen,« bemerkte er, »daß die drei Männer den Unfall, oder was es sonst sein mag, an derselben Körperstelle, über dem Schienbein, erlitten haben. Es hat den Anschein, als ob jemand ihnen mit einer ausgezackten Metallwaffe einen furchtbaren Schlag versetzt hätte: das Fleisch war bis auf den Knochen aufgeschlitzt. Bei Kerrison liegt der Fall klar: er hat mit einer stumpfen Waffe von beträchtlicher Breite einen Schlag auf den Hinterkopf erhalten. Ein Holzbalken gibt Ihnen eine Vorstellung.«

»Eine merkwürdige Sache«, meinte Goade.

Der Arzt zuckte die Achseln. Er war ein sehr beschäftigter Mann, und man sah ihm an, daß er es für seine Pflicht hielt, Wunden zu heilen, ohne sich über ihre Entstehung den Kopf zu zerbrechen. Als sein Besucher sich erhob, um zu gehen, machte er keinen Versuch, ihn zurückzuhalten und eilte in sein Empfangszimmer. Goade ging noch einmal auf die Polizeiwache.

»Ich bleibe jedenfalls die Nacht hier, Wachtmeister,« sagte er, »vielleicht auch zwei – drei Tage. Wer ist der intelligenteste von den drei Verletzten?«

»Ned Spurrell ist sicher der gelehrteste«, gab der Polizist zu verstehen. »Ich will Sie heute nachmittag, wann Sie wollen, hinführen.«

»Dann sagen wir gegen vier«, schlug Goade vor.

Als Goade die Gartentür vor Ned Spurrells Landhaus öffnete, blieb er auf dem mit roten Ziegelsteinen gepflasterten Wege zwischen zwei mächtigen Heckenrosenbüschen stehen und lauschte. Ein Fenster des Erdgeschosses stand weit offen und die lieblichste Stimme, die er je gehört zu haben glaubte, schlug an sein Ohr – die Stimme einer Frau, die aus den Evangelien vorlas. Während er noch zaudernd dastand, verklangen die letzten Verse. Er hörte, wie das Buch geschlossen wurde; einen Augenblick war es still, dann sprach dieselbe Stimme das Vaterunser, während ein leises, halb verschämtes, halb inbrünstiges Echo sie begleitete. Er wartete, bis das letzte Wort verklungen war; dann klopfte er an die Tür, die gleich geöffnet wurde.

Ein Mädchen in grauem Kleide, dessen strenge Einfachheit an eine Uniform erinnerte, mit schlichtem, blondem Haar, das die schöne Stirn frei ließ, stand vor ihm. Er wußte sofort, daß es die Frau mit der wundervollen Stimme war. Zugleich war ihm klar, daß sie – trotz der leichten Blässe ihres Gesichtes und der Einfachheit ihrer Kleidung – wohl die schönste Frau war, die er in seinem Leben gesehen hatte. Auf den hellen, reinen Zügen ihres Madonnengesichtes lag ein zartes, freundliches Lächeln, das auch den Unbekannten entzückte.

»Ich wollte Mr. Spurrell sprechen«, sagte er. »Sie sind gewiß die Krankenschwester. Fühlt er sich wohl genug, um mich zu empfangen?«

»Gewiß«, antwortete sie. »Ich bin nicht die Krankenschwester, aber man hat mich für kurze Zeit zur Pflege hier gelassen. Soll ich ihm Ihren Namen sagen?«

»Er kennt ihn nicht«, erwiderte Goade. »Trotzdem würde ich gern einige Minuten mit ihm sprechen.«

Sie ging voran und beugte sich über den Kranken.

»Hier ist ein Herr, der Sie zu sprechen wünscht«, meldete sie. »In einer Viertelstunde wird Ihre Mutter zurück sein. Ich will jetzt gehen.«

»Sie werden morgen wiederkommen?« bat der junge Mann.

»Ich komme morgen«, sagte sie fast unhörbar leise. »Ich komme jeden Tag, bis ich Ihr Versprechen habe.«

Seine Augen folgten ihr zur Tür, die Goade für sie offen hielt. Sie blickte sich um und lächelte.

»Gott behüte Sie«, rief sie und ging hinaus.

Goade schloß die Tür und trat an das Bett.

»Sie sind also Ned Spurrell«, begann er und rückte einen Stuhl an die Seite des Mannes. »Können Sie mir sagen, wer diese reizende junge Frau ist?«

»Sie heißt Mary Tennent«, sagte Ned Spurrell in etwas mißtrauischem Ton. »Sie und ihr Bruder treiben hier in der Gegend Missionsarbeit. Sie kommen aus Wales.«

»Ihr jungen Burschen möchtet euch wohl alle gern bekehren lassen«, bemerkte Goade lächelnd.

Aber der junge Mann schien die Sache nicht leicht nehmen zu wollen.

»Sie ist wunderbar«, bekannte er in ehrfurchtsvollem Ton. »Und wie sie über Religion spricht – kein Priester kann einen so etwas fühlen lassen. Aber wer sind Sie, Sir?«

»Ich wollte etwas über Ihren Unfall hören«, erklärte Goade. »Das war eine sonderbare Sache, nicht?«

»Sind Sie von der Versicherung?« fragte Ned Spurrell argwöhnisch.

»Wenn Sie es durchaus wissen wollen,« erwiderte Goade, »– obwohl es mir lieber ist, daß Sie nicht davon reden – ich stehe mit der Polizei in Verbindung.«

Der Kranke kicherte.

»Mit der Polizei!« rief er spöttisch. »Das sind mir die rechten! Wir sind viere, die daran glauben mußten, und der Täter ist noch nicht verhaftet.«

»Well, es ist doch eine recht ungewöhnliche Sache«, bemerkte Goade. »Erzählen Sie mir genau, was sich zugetragen hat.«

»Na, es hat sich eben zugetragen – nichts weiter. Ich ging, an nichts Böses denkend, meines Weges und rauchte meine Pfeife, da war es, gerade als ob mir einer einen mächtigen Schlag mit einem Brecheisen aufs Schienbein versetzte. Ich schlug hin und konnte mich nicht rühren und bevor ich mich besinnen konnte, war ich ganz wie tot.«

»Sie hörten niemand in der Nähe?«

»Ich hörte niemand, und es war auch niemand da. Darauf kann ich meinen Kopf geben«, lautete die eigensinnige Antwort. »Es war überhaupt nicht zu begreifen, wie ein Wunder! Ich habe hier gelegen und darüber nachgedacht, bis mir der Kopf weh tat.«

»Haben Sie irgend jemand den Ort angegeben, wo es geschehen ist?«

»Der Wachtmeister kennt ihn genau. Es gibt da nichts Gefährliches in der Nähe, so sagt er wenigstens. Er ist seitdem oft genug dagewesen.«

»Ich will mir von ihm die Stelle zeigen lassen«, sagte Goade. »Es hat doch keiner hier einen Groll gegen Sie oder so etwas Ähnliches?«

»Kein Mensch. Außerdem – denken Sie an die andern«, bemerkte der junge Mann. »Es gibt im Dorf keinen beliebteren Burschen als John Strone. Wollen Sie ihn aufsuchen?«

»Sofort. Ich will alle vier sprechen, die diese sonderbaren Unfälle erlebt haben.«

»Ich weiß nicht, ob Ihnen das etwas nützen wird,« meinte der Waldhüter. »Keiner von ihnen weiß mehr darüber als ich.«

»In unserem Beruf«, bemerkte Goade, »stößt man oft ganz unerwarteter Weise auf das Richtige.«

»Sie sind wohl ein Detektiv?«

Goade nickte.

»Ja,« bestätigte er, »ich gehöre zur Kriminalpolizei. Eben bin ich gerade auf Urlaub.«

»Erzählen Sie mir was von Einbrechern und dergleichen«, schlug der junge Mann vor. »Es ist so langweilig, hier zu liegen, wenn sie fort ist.«

»Besucht diese junge Frau alle vier Kranken?« fragte Goade.

»Das nehm' ich an«, lautete die ein wenig mißmutige Antwort. »Sie besuchte Strone zweimal am Tag, als es ihm schlecht ging.«

»Welcher Sekte gehört sie an?«

»Überhaupt keiner. Das ist das Herrliche an ihr und auch an ihrem Bruder. Wenn Sie zur Kirche gehen, will sie Ihnen ein Gefühl für die Kirche ins Herz geben, wie Sie es nie gehabt haben. Sie versucht, Sie zu ›erleuchten‹, wie sie es nennt. Sind Sie ein Dissident, so ist es genau so. Sobald ich wieder humpeln kann, geh' ich mit ihr zur Kirche.«

Nachdem Goade den Kranken mit einigen Erzählungen aus seinem Leben erfreut hatte, suchte er den Wachtmeister auf und begab sich mit ihm auf die Unfallstelle. Es war ein unebener, mit Farnkraut überwachsener Pfad, und die sorgfältigste Untersuchung ergab nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine Erklärung des Geheimnisses.

»Wollen Sie die andern Unglücklichen sehen, Mr. Goade?« fragte der Sergeant. »Sie wohnen alle nicht weit von hier.«

»Ich will sie morgen besuchen«, versprach Goade. »Lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten, Wachtmeister. Ich will hier am Rande des Waldes eine Pfeife rauchen. Wenn Sie mich aufsuchen wollen, bevor Sie heute abend Ihre Runde machen, können wir ein Stück zusammen gehen.«

Der Mann verabschiedete sich. Goade ließ sich auf eine Moosbank nieder und sah zu, wie Flip sich ergötzte. Plötzlich hörte er, wie eine Tür sich öffnete und wieder schloß. Über den Wiesenstreif kam Mary Tennent auf ihn zu. Er betrachtete sie mit kritischem, aber bewunderndem Blick. Ihr Gang schien ihm so anmutig, wie der keiner anderen Frau, und ihr Lächeln, als sie ihn erkannte, hatte etwas Berückendes.

»Sie sind hergekommen, die Stelle zu sehen, an der Mr. Spurrell der Unfall passiert ist?« fragte sie.

Er nickte.

»Und Sie haben einen der anderen Leidenden besucht?« bemerkte er aufs Geratewohl.

Sie lächelte.

»Ich bin heute sehr glücklich«, erzählte sie. »Mr. Strone war so verstockt. Aber die Worte eines kurzen Gebets haben ihn, glaub' ich, eben gerührt. Er hat versprochen, am ersten Sonntag, wenn er hinauskann, mit mir in die Dissidentenkirche zu kommen.«

»Sie haben mit diesen jungen Leuten alle Hände voll zu tun,« bemerkte er.

»Was macht das?« erwiderte sie. »Es ist mein Leben. Dazu bin ich geboren, dazu lebe ich. Der einzige, der noch kein Versprechen gegeben hat, ist Michael Kerrison. Er macht Schwierigkeiten, aber bevor ich gehe, wird er sein Wort geben.«

»Wie sind Sie zu dieser Tätigkeit gekommen?« fragte er.

»Gott gab sie mir ins Herz«, sagte sie einfach. »Mein Vater hat bis zum letzten Tage seines Lebens gepredigt. Mein Bruder hat wunderbare Gaben. Ich tue, was in meinen Kräften ist. Bisweilen hab' ich großen Erfolg.«

»Sind diese jungen Leute nicht eifersüchtig aufeinander?«

Sie lächelte ihm offen zu.

»Natürlich machen sie hier und da Torheiten«, gab sie zu. »Sie verstehen nicht, wie wenig Liebe und Heirat und alle diese Dinge im Vergleich zur Ewigkeit zu bedeuten haben. Ich würde meinen armen Leib ihnen allen hingeben, wenn ich das Gefühl für das Große in ihnen wecken könnte.«

Er sah sie neugierig an. An ihrer Aufrichtigkeit war nicht zu zweifeln. Aus ihren Augen strahlte das Licht einer göttlichen Mystik. Man hätte sie für eine Jungfrau von Orleans halten können, die sich gerne, mit Begeisterung opferte. Ihr Leib – was kam es darauf an. Ihr Leben schien nicht von dieser Welt zu sein.

»Wer ist mit Ihnen hier?« fragte er ein wenig unvermittelt. »Sprachen Sie nicht von einem Bruder?«

»Ich bin allein mit meinem Bruder«, sagte sie. »Wir haben einen Wohnwagen, in dem wir den ganzen Weg von Wales hierher gezogen sind. Er ist ein sehr geschickter Zimmermann und Kesselflicker, und ich mache zuweilen Näharbeit für die Damen im Hause. Wir haben nicht mehr Geld, als was wir so nebenbei verdienen, aber das ist immer übergenug.«

»Wissen Sie,« fragte er sie, »daß Sie sehr schön sind?«

»Das ist die Gnade Gottes, die in mir ist«, sagte sie ganz schlicht.

Er war sprachlos. Er fühlte deutlich, daß sie aufrichtig war, daß jedes ihrer Worte von Herzen kam.

»Aber ich kann es mir gar nicht anders denken,« betonte er, »Sie müssen es doch mit all' diesen jungen Leuten zuweilen nicht leicht haben. Wollen nicht einige von ihnen Sie, zum Beispiel, heiraten?«

Sie lachte leise.

»Die meisten«, gestand sie. »Wenn ich könnte, würde ich sie alle heiraten. Ich würde jeden heiraten, um seine Seele zu retten.«

»Auch mich?«

Ohne einen Augenblick zu zögern, legte sie ihre Hand – eine weiche, kühle Hand, die köstlich anzufühlen war – auf die seine.

»Natürlich«, versicherte sie. »Wenn ich Sie durch die Heirat erleuchten, zu Gott emporheben könnte, so würde ich Sie natürlich heiraten.«

»Aber,« fuhr er fort, ohne ihre Hand loszulassen, »da ist Ned Spurrell und Michael Kerrison und John Strone.«

»Ich weiß es«, stimmte sie ein wenig betrübt zu. »Ich werde sie alle mit mir zur Kirche führen, und sie werden mich alle heiraten wollen. Zuweilen, wenn ich fortgehe, sind sie böse und vergessen alles, was sie versprochen haben – aber es ist nicht immer so. Viele denken daran, und wenn auch nur wenige es behalten, ist es schon der Mühe wert . . . Wie steht es mit Ihnen? Bitte, sagen Sie mir Ihren Namen.«

»Goade – Nicholas Goade.«

»Wie steht es mit Ihnen, Mr. Nicholas Goade?«

»Ich glaube nicht, daß ich religionslos bin«, sagte er. »Ich gehöre wohl einfach zu den Menschen, die zu keiner befriedigenden Lösung kommen können und sich treiben lassen.«

»Das ist der allergefährlichste Zustand«, erklärte sie und ergriff seine Finger. »Nicht wahr, Sie versuchen, die Zukunft zu erkennen und Gott mit Ihrem Verstande zu fassen? Das kann der Mensch nicht. Der Glaube fehlt Ihnen – der Glaube. Sie müssen Glauben haben. Sie müssen ihn um jeden Preis erringen. Sie müssen darum beten – beten, bis die Worte Ihnen versagen – aber Sie müssen ihn haben, oder – denken Sie, wie es Ihnen ergeht, wenn Sie sterben.«

Ihre Stimme bebte vor Eifer; ein Fieber hatte sie gepackt.

»Ich muß kommen und Ihren Bruder predigen hören«, meinte er.

»Sie werden mit ihm reden«, stimmte sie zu. »Er ist wunderbar. Er bekehrt mehr Leute als irgendein anderer. Kommen Sie gleich zu ihm. Ich will Ihnen zeigen, wo wir wohnen.«

Er pfiff Flip, die erfolglos in Kaninchenlöchern wühlte. Das junge Mädchen nahm ganz unbefangen seinen Arm.

»Ich wäre so froh, wenn Sie einer meiner Brüder würden,« sagte sie, »einer meiner Brüder im wahren Glauben. Wenn irgend jemand Ihnen die Wahrheit zeigen kann, so ist es James. Er hat die Gabe der Zungen.«

»Sie haben auch eine Gabe«, meinte er.

»Maria Magdalenas Gabe«, seufzte sie. »Sie war auch schön. Meine Schönheit, wie sie nun einmal ist, gehört jedem, den sie der Erlösung näher bringen kann.«

Sie traten aus dem Walde auf eine Wiese am Bach. Zwei kleine Wohnwagen standen ein wenig abseits vom Wege. Aus dem kleineren klang das schwirrende Geräusch einer Drehbank.

»Mein Bruder ist bei der Arbeit«, sagte sie. »James!«

Die Tür öffnete sich sofort und ein junger Mann trat heraus. Goade betrachtete ihn mit Verständnis – es war ein typischer Visionär, hohlwangig, mit tiefliegenden Augen, pechschwarzem Haar und leise zuckenden Lippen.

»Wer ist das, Mary?« fragte er.

»Ein Freund«, erwiderte sie. »Ich traf ihn in Ned Spurrells Landhaus. Er kommt heute abend zur Versammlung. Er gehört noch dem Reich dieser Welt an, James. Du mußt mit ihm reden.«

Goade, auf den nicht viele Dinge Eindruck machten, fühlte die Wärme, die in dem Lächeln des jungen Mannes lag und gleichzeitig den Ernst seiner Augen.

»Wenn Worte der Wahrheit Sie zur Erkenntnis bringen können, so sollen Sie sie hören«, versprach er.

Er schloß die Tür des kleinen Wohnwagens ab, aus dem er herausgetreten war.

»Ist das Ihre Werkstatt?« fragte Goade.

Der junge Mann nickte, schenkte aber der offensichtlichen Neugier des Fragers keine weitere Beachtung. Er ging zu dem größeren Wohnwagen und machte sich an einem Bücherregal zu schaffen, aus dem er verschiedene Bände hervorsuchte. Das junge Mädchen führte Goade bis an die Stufen und lud ihn ein einzutreten.

»Das ist mein Bett«, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf ein fleckenlos sauberes Lager, an dessen Seite ein kleiner Tisch mit einer Vase voll Blumen und einer Bibel stand. Durch das offene Fenster strich ein sanfter Wind.

»Sie haben sich an einem schönen Platz niedergelassen«, bemerkte Goade.

»Nachts ist es herrlich«, sagte sie »Ich liege da und kann die Sterne sehen und die Nachtvögel im Walde hören. In den Bäumen dort ist ein Eulennest, und auf der anderen Seite des Baches singt eine Nachtigall. Zuweilen ist es zu schön, um zu schlafen, dann wandere ich umher.«

»Hier in der Nähe muß Ned Spurrell den Unfall gehabt haben«, sagte Goade nachdenklich. »Haben Sie ihn nicht rufen hören oder sonst etwas?«

»Wir haben nichts gehört«, erwiderte das junge Mädchen.

Goade verabschiedete sich, und sie begleitete ihn ein paar Schritte.

»Um acht Uhr auf dem Dorfplatz«, erinnerte sie ihn.

»Ich komme«, versprach er.

»Ich werde für Sie beten«, flüsterte sie, »beten, glaube ich, wie ich noch nie gebetet habe.«

Sie hing ohne jede Scheu an seinem Arm und Goade fühlte sich trotz seiner Menschen- und Frauenkenntnis befangen und verwirrt. Wenn sie sich wirklich ihres körperlichen Wesens nicht bewußt war, so war ihr doch etwas Menschliches geblieben, was sie sehr begehrenswert machte. Man hätte darauf schwören können, daß in dem Blick, den sie ihm beim Abschied zuwarf, ein Schimmer von Koketterie aufblitzte. Sie sah ihm nach, als er die Straße hinabschritt. Er wandte sich um und winkte ihr zu. War es eine Täuschung seiner Sinne? Ihre Finger schienen die Lippen berührt zu haben, bevor sie ihm zurückwinkte . . .

»Was gefunden, Sir?« fragte der Wachtmeister, als sie auf der Straße zusammentrafen.

Goade schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, Wachtmeister,« erwiderte er, »dieser kleine Winkel, der so weitab von aller Welt liegt, wird uns noch viel zu denken geben.«

Nach dem Essen zündete er seine Pfeife an und ging hinaus, um sich den Zug anzusehen, der wie eine festliche Prozession durch die Dorfstraße kam. Mary Tennant mit einem Gesangbuch, ihr Bruder mit einer Bibel in der Hand schritten voran. Die Leute, die ihnen entgegenkamen, drückten beiden die Hände. Viele kehrten um und folgten ihnen. Bevor sie den Marktplatz erreichten, waren sie von Menschen umgeben. Von allen Seiten strömten andere herbei. Schnell war von willigen Händen eine Art Podium errichtet. Das junge Mädchen blickte nach allen Seiten, bis sie Goade am Außenrand der Menge entdeckte. Sie verließ ihren Platz, schritt auf ihn zu und nahm ihn bei der Hand.

»Bitte, kommen Sie näher«, sagte sie. »Sie müssen jedes Wort hören.«

Er ließ sich bis vor das Podium führen. Gleich darauf fielen Bruder und Schwester auf die Knie. Alle Teilnehmer der Versammlung bedeckten ihr Gesicht. Der Mann begann zu beten . . .

Goade versuchte später oft sich diese kleine Szene wieder zu vergegenwärtigen, ihren mystischen Zauber von neuem zu empfinden, den magischen Eindruck der Worte wiederzuerwecken, die in einem Strom wilder Leidenschaft von den Lippen des Mannes flossen. Der altertümliche Marktplatz war eine stille Oase geworden, die von der ganzen übrigen Welt abgeschlossen schien. Man hörte die Schritte einiger Fußgänger, die vorbeigingen, hier und da die Hupe eines Autos, das über das holperige Straßenpflaster dahinfuhr; eine lärmende Schar unreifer Burschen kam johlend und lachend vorbei, – aber alle diese Laute waren nur wie das undeutliche Echo aus einer niederen Welt. All' seine früheren Gedanken – die Gedanken eines gebildeten Menschen – über die grobe Aufdringlichkeit in der Redekunst dieser Sektierer waren Goade vollständig aus dem Sinn gekommen, als er wie in Verzückung dastand. Der Mann mit der klagenden Stimme und dem krampfhaft zuckenden Gesicht war inspiriert, wenn je ein Mensch inspiriert war, und das Mädchen, das mit gefalteten Händen an seiner Seite stand, während ihre Augen ruhelos von ihrem Bruder zu ihm wanderten, schien auf einem Altar ein Opfer darzubringen, mit stummer, aber tiefer Inbrunst sein Gebet zu unterstützen. Goade gab in späteren Jahren unumwunden zu, daß in diesen Augenblicken alle Schranken eines kalten Skeptizismus, die der Verstand gegen übersinnliche Wahrheiten errichtet, fielen. Dieser Mann hatte etwas gefunden, was die Welt nicht besaß. Goade gab sich mit der seltsamen kleinen Gemeinde der leidenschaftlichen, überspannten Begeisterung hin: mit dieser Schar von Ladengehilfen, Dienstmädchen und Marktweibern, unter denen er einige Landleute von der Straße, einen müden Geschäftsmann und einen Fuhrmann bemerkte. Befreit atmete er auf, als die Stimme des knienden Mannes verstummte. Die Lippen des Mädchens bewegten sich noch wie im Gebet, und ihre Augen ließen ihn nicht los. Sie schienen mit ihrem flehenden Blick alles Geistige und Menschliche in ihm wundersam zu rühren. Dann war alles vorüber. Einen Augenblick herrschte tiefe Stille. Bruder und Schwester traten vom Podium herab und schüttelten fast jedem Teilnehmer der Versammlung die Hand. Dann kamen sie auf Goade zu.

»Wollen Sie mit uns gehen?« lud ihn das Mädchen ein.

»Nur bis zur Tür meines Gasthauses«, antwortete er, »Sie müssen mich heute abend entschuldigen.«

Sie hing sich an seinen Arm. Der Mann schritt ein wenig abseits von ihnen und murmelte leise vor sich hin. Goade hatte den Eindruck, daß er noch immer betete.

»Sie fingen an, etwas zu empfinden«, sagte sie. »Ich sah es an Ihrem Gesicht. Halten Sie mich nicht für ahnungslos. Ich bin es nicht. Ich kann mir die Welt vorstellen, in der Sie leben. Ich weiß, daß selbst Gott durch den Mund eines Menschen nicht in einem Augenblick ein Wunder tun kann. Aber Sie werden kommen. Sie werden zu uns kommen. Sie werden nicht so fortgehen, ohne daß wir noch einmal miteinander sprechen?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf«, sagte er.

»Heute abend«, bat sie. »Ich werde für Sie beten. Ich will mit Ihnen beten. Wenn Sie nicht schlafen können, kommen Sie heute abend. Ich werde auf Sie warten.«

Er fühlte, daß er in einer seltsamen, unbeschreiblichen Erregung zitterte.

»Gut,« willigte er ein, »ich werde kommen.«

 

Es war elf Uhr, als Nicholas Goade in Flips Gesellschaft aufbrach. Seine Aufmerksamkeit war scharf gespannt. Er hielt einen kräftigen Stock in der Hand und ging die ganze Zeit mit ungewöhnlich vorsichtigem, zögerndem Schritt. Am Eingang des Wäldchens blieb er stehen. Durch die Bäume konnte er ein einziges Licht sehen, das in dem Wohnwagen brannte. Er ging jetzt noch langsamer als zuvor und hielt den Stock vor sich hingestreckt, während Flip von einer Seite zur anderen lief. Als die letzten fünfzig Meter vor ihm lagen, machte er noch einmal halt. Auf dem Wege lag Reisig, das er am Nachmittag dort nicht bemerkt hatte. Behutsam trat er noch einen Schritt vor. Plötzlich ließ Flip ein leises Knurren hören, und er empfand, daß er im Begriff war zu finden, was er suchte. Er stieß die lockeren Zweige mit dem Stock beiseite und erblickte, was er erwartet hatte. Er hob es auf – es war ein harmlos aussehender Eichenzweig, von dem nicht einmal die Blätter abgestreift waren. Unter diesem lag ein zwischen Moos und Farne verstecktes, mit scharfen, ausgezackten Messern versehenes Fangeisen, in das der Fuß des Wanderers fallen sollte. Er hielt das diabolische Instrument vorsichtig in der Hand. Dann schritt er auf den Wohnwagen zu. Als er ins Freie trat, sah er das Mädchen horchend warten. Sie schien ihm zu Stein zu erstarren. Er warf seine Last auf den Boden und sah sie an, ohne ein Wort zu sprechen. Die Tür des kleineren Wagens öffnete sich, und ihr Bruder trat schweigend heraus.

»Für mich!« rief Goade in grimmigem Ton.

Sie streckte ihre Hände nach ihm aus. Er hätte sie beiseite geschoben, aber er hatte alle Kraft verloren. Die Hände legten sich leise auf seine Schultern. Sie war beinahe ebenso groß wie er, und ihr Gesicht war, als sie zu ihm aufsah, dem seinen ganz nahe.

»Es ist das einzige Mittel«, stieß sie seufzend hervor. »Die andern – ich habe mit ihnen gebetet, als sie stark und gesund waren, und Gott blieb für sie ein leeres Wort. Nur durch Krankheit und Leiden führt der Weg zu ihrem Herzen. Das haben James und ich immer wieder erfahren. Diese drei jungen Leute, die gelitten haben, sind durch ihr Leiden Kinder Gottes geworden. Auch Sie – heute abend war es ein Anfang, aber Sie wären weggezogen und hätten gedacht, daß alles, was geschehen war, bloß eine Gefühlswallung gewesen. Sie wären gegangen, wie Sie jetzt gehen werden. Ich hätte Sie so gerne – lieber als irgendeinen andern – behalten.«

Er blickte auf das bösartige Werkzeug am Boden, und immer noch fiel es ihm schwer, zu sprechen.

»Ich bin Kriminalbeamter«, sagte er endlich. »Ich wurde hergeschickt, um diese geheimnisvollen Unfälle aufzuklären.«

»Und jetzt, da Sie sie aufgeklärt haben?« fragte sie, ohne seine Schultern loszulassen.

Ein Zittern überlief vom Kopf bis zu den Füßen den starken Mann, der Mörder verhaftet und dem Tode so oft, wie ein Soldat, ins Antlitz geschaut hatte.

»Zeigen Sie mir das Innere des anderen Wagens,« befahl er, zu dem Bruder gewendet, »des kleineren«.

Der Mann schloß ihn auf, und als Goade sich darin umsah, nahm sein Gesicht einen harten Ausdruck an. Er trat zurück und schloß die Tür. Bruder und Schwester verfolgten jede seiner Bewegungen.

»Sie haben dort einen Ofen«, bemerkte er. »Bringen Sie ihn her.«

Der Mann gehorchte. Goade zündete ihn an und setzte ihn unter den kleineren Wohnwagen. Mit traurigem Gesicht sammelten sie dürres Holz. Bald flammte ein helles Feuer auf, und nach kurzer Zeit war nichts mehr übrig als etwas verkohltes Holz und Metallbruchstücke von seltsamem Aussehen. Der Rauch stieg hoch über die Bäume zum Himmel empor. Goade horchte.

»In kurzer Zeit,« sagte er, »werden die Leute aus dem Dorf kommen. Sie können ihnen erzählen, was Sie wollen.«

Das Mädchen klammerte sich plötzlich an ihn. Ihr Bruder schien nichts zu sehen.

»Gehen Sie nicht fort!« flehte sie. »Sie müssen bleiben.«

Und in diesem Leben, das so streng und logisch aufgebaut war, gab es einige tolle Augenblicke! . . .

Nach kurzer Zeit saß Nicholas Goade mit Flip an seiner Seite im Fordwagen vor dem Gasthaus des Dorfes. Der Wachtmeister war bei der Abfahrt zugegen.

»Ich habe beschlossen, beim Mondlicht weiterzufahren«, erklärte Goade. »Hören Sie mal, Elworthy. Es wird keine Unfälle mehr geben.«

»Haben Sie was entdeckt?« fragte der Mann gespannt.

»Nichts Bestimmtes«, lautete Goades ausweichende Antwort. »Wenn noch irgend etwas der Art passieren sollte, so werde ich in London Bericht erstatten. Aber ich habe den Eindruck, daß keine weiteren Unfälle zu befürchten sind.«

»In welcher Richtung fahren Sie heute abend, Sir?« fragte der Sergeant, der überrascht und verwirrt war. »Es ist eine sonderbare Zeit, um abzureisen.«

Goade wandte den Fordwagen so, daß er den Lichtern auf der Höhe und der Wiese, auf der der Wohnwagen stand, die Hinterseite zukehrte. Er schaltete den Gang ein und gab Gas.

»Ich fahre, so weit ich vor Tagesanbruch in dieser Richtung kommen kann,« gab er zur Antwort.

 


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