E. Phillips Oppenheim
Nicholas Goade, der Detektiv
E. Phillips Oppenheim

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9

»Das Einzige, was ich an Devonshire auszusetzen habe«, ließ sich Goade aus der Tiefe eines bequemen Lehnstuhles in der Bar des Gasthauses »zum Wrydeschild« vernehmen, »ist sein Klima.«

Der Metallwarenhändler des Ortes, Tom Berry mit Namen, machte ein leicht erstauntes Gesicht.

»Was haben Sie daran zu tadeln, Sir?« fragte er.

Goade wies auf die Fensterscheiben, an denen das Wasser hinablief. Seit zwei Tagen hatte er und Flip ihre Wanderungen einstellen müssen.

»Der Regen«, erklärte er. »Sehen Sie sich das an! So geht es seit zwei Tagen – und wir sind noch nicht am Ende. In allen anderen Gegenden Englands stellen die Prognosen schönes Wetter in Aussicht.«

Der Metallwarenhändler blickte zum Fenster hinaus und strich sich nachdenklich das Kinn.

»Wir würden das nicht Regen nennen«, bemerkte er. »Das ist nur ein ganz harmloser Nebel.«

»Wenn Sie hinausgehen, sind Sie in zehn Minuten naß bis auf die Haut«, entgegnete Goade.

Tom Berry lächelte. Er war ein duldsamer Mann, der jederzeit bereit war, den Standpunkt des Fremden gelten zu lassen.

»Das trocknet gleich«, meinte er. »Ein paar Tropfen gutes Regenwasser sind für Haut und Körper gut – frischen sie, sozusagen, ein wenig auf. Zu viel Trockenheit und Sonne bringen Krankheiten hervor, sagt man.«

»Ich glaube, Tom hat recht«, stimmte Farrow, der Fleischermeister, mit schlauem Augenzwinkern bei. »Sonne macht Staub, und was die Doktorsleute sind, die sagen alle: wo Staub ist, da sind Keime. Und ich glaube, in Wryde gibt es noch für vierzehn Tage kein Staubkörnchen.«

»Das gebe ich gerne zu,« räumte Goade ein, »aber bei solchem Wetter kann man doch nicht viel herumspazieren, nicht wahr?«

»Es ist gut fürs Getreide«, bemerkte Mr. Farrow, der ein wenig Landwirtschaft trieb.

»Und gut für uns Menschen«, fügte Tom Berry hinzu. »Es gibt hier in der Gegend starke Männer und, ich glaube, die schönsten Frauen von Westengland.«

»Was, gerade hier in Wryde?« fragte Goade.

»Gerade hier, wie Sie sagen, in dieser kleinen Stadt«, lautete die überzeugte Antwort. »Niemand kann bestreiten, daß unsere Frauen hier was ganz Besonderes sind – viele sind sogar berühmt geworden. Da ist, zum Beispiel, Anna Craste, die Lehrerstochter – die ist für die Akademie gemalt worden. Und dann waren hier die Fräuleins Drysdale aus dem Roten Haus.«

»Die schönen Schwestern von Wryde«, bemerkte die Wirtin hinter dem Schenktisch. »So nannte man die armen Damen.«

»Kann man sie noch sehen?« erkundigte sich Goade.

Die Wirtin schüttelte den Kopf. Es war eine Frau in mittleren Jahren, von angenehmem Äußern und einer gewissen Strenge in der peinlich sauberen Kleidung und in ihrer Haltung. Sie spülte ein Glas aus, stellte es zu den anderen auf das Wandbrett und drehte sich wieder um.

»Es ist hier nur noch eine von ihnen übrig, Sir – Miss Adelaide«, berichtete sie. »Ihre Schönheit hat ihnen wenig Glück gebracht, den armen, lieben Damen!«

»Die anderen sind wohl verheiratet?« fragte Goade, mehr um die schleppende Unterhaltung im Gang zu erhalten, als aus wirklicher Neugier.

»Man weiß nicht genau, was aus ihnen geworden ist«, gestand die Wirtin nach einer kurzen, verlegenen Pause. »Miss Adelaide mag darüber unterrichtet sein, aber obwohl sie ein wahrheitsliebender Mensch ist und fleißig in die Kirche geht, zuweilen –«

Sie zögerte. Der ganze kleine Kreis schien ebenso verlegen wie sie.

»Man kann sich nicht genug darauf verlassen, was Miss Adelaide über diese Schwestern sagt«, brachte Mr. Farrow endlich heraus. »Sie ist stolz. Alle Drysdales waren stolz. Manche sagen, daß sie nichts weiß. Soviel steht fest: ihre Geschichte über Miss Henrietta, die einen amerikanischen Millionär geheiratet haben soll, war sozusagen nicht die volle Wahrheit.«

»Wie viele Schwestern waren es im ganzen?« fragte Goade.

»Es waren im ganzen drei«, erzählte die Wirtin. »Miss Adelaide – das war die Älteste; dann kam Miss Henrietta und dann die jüngste, Miss Rosalind. Miss Rosalind würde jetzt – lassen Sie mich nachrechnen – kommende Weihnachten zweiunddreißig Jahre alt werden. Miss Adelaide muß nahe an vierzig sein; Miss Henrietta – so etwa in der Mitte zwischen beiden.«

»Steckt wirklich ein Geheimnis hinter den beiden, die von hier fort sind?« fuhr Goade fort und streichelte Flip, die auf seinen Schoß geklettert war.

Ein kurzes, verlegenes Schweigen folgte diesen Worten. Mr. Farrow stopfte seine Pfeife; Tom Berry blickte durch die triefenden Fensterscheiben. Die Wirtin stieß einen Seufzer aus.

»Ein Geheimnis mag wohl dahinter sein, Sir,« gab sie zu, »vielleicht auch eine Tragödie. Wenn Sie eine Zeitlang bei uns blieben, würden Sie bald sehen, daß das hier kein Klatschnest ist; aber wenn man durch viel Schwatzen herausbringen könnte, wo die beiden hingegangen sind, so würden viele von uns um der armen Miss Adelaide willen vom Morgen bis zum Abend reden.«

Mr. Berry hob plötzlich warnend den Finger. Alle warfen Goade einen vielsagenden Blick zu. Die Wirtin beugte sich über den Zahltisch.

»Vorsicht, Sir«, flüsterte sie.

Es klopfte an die Tür, die sich leise öffnete. Eine Frau trat herein, bei deren Anblick die beiden Händler sich sogleich erhoben. Goade folgte ihrem Beispiel. Trotz der Einfachheit ihrer Kleidung – sie trug einen wenig kleidsamen, triefend nassen Regenmantel und eine Kopfbedeckung, die einem wasserdichten Matrosenhut ähnlich sah – lag etwas Vornehmes in ihrer Erscheinung, ihrer Stimme, den schönen Zügen und der Farbe ihres Gesichts, das überall Aufsehen erregen mußte. Sie lächelte allen freundlich zu, aber ihre Aufmerksamkeit heftete sich auf Goade.

»Sie müssen mir die Störung verzeihen, Mrs. Delbridge«, sagte sie. »Ich hörte, daß ein Fremder – vielleicht ein Herr aus London, hier wäre.«

»Sie stören uns niemals, Miss Drysdale«, erklärte die Wirtin in herzlichem Ton. »Einen Stuhl, Mr. Farrow! Wollen Sie einen Augenblick Platz nehmen, Miss Drysdale?«

Die Dame schüttelte den Kopf. Sie blickte gespannt auf Goade. Es lag etwas Bittendes in diesem langen, forschenden Blick aus den schönen, sanften, grauen Augen – ein Blick, der ihm zu Herzen ging.

»Unglücklicherweise«, erklärte sie, »habe ich die Adressen meiner beiden Schwestern verloren, die zu einem Besuch nach London gefahren sind. Sie haben mir natürlich regelmäßig geschrieben, aber mein Mädchen hat leider beim Aufräumen meines Salons alle ihre Briefe vernichtet. Da sie nichts mehr von mir hörten, haben sie natürlich aufgehört zu schreiben. Meine einzige Hoffnung, wieder etwas von ihnen zu erfahren, liegt jetzt darin, daß ein Reisender wie Sie ihnen vielleicht zufällig begegnet ist. Die Ältere heißt Henrietta. Sie sieht mir sehr ähnlich. Rosalind, die Jüngere, hat helleres Haar und blaue, nicht graue, Augen.«

Eine stumme Frage lag in ihrem besorgten Blick. Goade bemerkte plötzlich, daß alle ihm heimliche Zeichen zu machen suchten. Er verstand sie sofort.

»Es tut mir sehr leid, Madam,« sagte er, »aber ich kann mich nicht erinnern, eine von ihnen getroffen zu haben. Nach dem, was Sie mir gesagt haben, werde ich ihnen natürlich, falls wir zusammenkommen sollten, mitteilen, daß Sie dringend auf Nachricht warten.«

Die Anwesenden atmeten etwas erleichtert auf.

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Sir«, sagte sie mit einem gewinnenden Lächeln. »Es ging das Gerücht – wir hörten so etwas, als hätte Henrietta einen amerikanischen Millionär geheiratet. Es war nichts Bestimmtes – durchaus nichts Bestimmtes. Wenn Sie die Güte haben wollten, mir heute abend einen kurzen Besuch zu machen, so will ich Ihnen ihre Photographien zeigen. Ich wohne im Roten Hause. Jeder Mensch im Dorf kann Ihnen den Weg zeigen. Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden. Guten Tag, Mrs. Delbridge! Guten Tag, meine Herren!«

Goade hatte gerade Zeit, ihr die Tür zu öffnen. Sie ging mit einer Handbewegung und einem Lächeln hinaus, mit denen eine Königin von einem treuen Diener Abschied nimmt. Man hörte ihre Schritte auf dem Steinfußboden. Keiner sprach ein Wort, bevor die Außentür ins Schloß gefallen war.

»Das ist die arme Miss Adelaide in Person«, sagte Mrs. Delbridge. »Ein wenig gestört im Kopf, die gute Dame – was sehr natürlich ist, da sie schon jahrelang allein lebt. Ein Glück, daß der Herr es so schnell verstanden hat. Die arme Dame fühlt sich leicht in ihrem Stolz verletzt. Es kommt kein Fremder her, dem sie nicht dieselbe Frage stellt. Die meisten gehen auf ihre Grille ein, wie Sie.«

»Das Merkwürdige daran ist,« erkläre Goade, der zum Fenster hinaussah und ein halb finsteres, halb erstauntes Gesicht machte, »daß ich glaube, ihr sagen zu können, wo sich ihre Schwester Henrietta befindet.«

Einen Augenblick herrschte atemloses, ungläubiges Schweigen. Mr. Farrow hörte auf, die Asche aus seiner Pfeife zu klopfen und starrte mit offenem Mund auf den Redenden. Tom Berry stellte das Glas, das er an seine Lippen führen wollte, wieder hin und schien sich ebenfalls in ein Bild stummen Erstaunens verwandelt zu haben. Mrs. Delbridge gewann zuerst ihre Fassung wieder.

»Und wo mag wohl Miss Henrietta sein?« stammelte sie.

Goade zögerte einen Augenblick.

»Wenn ich mich nicht irre,« erwiderte er ernst, »im Wandsworth-Gefängnis in London . . .«

Gleich darauf stürzte der Bezirksarzt herein, um seinen gewohnten Sherry und Magenbittern zu trinken – ein geschäftiger kleiner Mann, der eine gewisse Nervosität in seinem Benehmen dadurch zu verbergen suchte, daß er vorgab, es immer sehr eilig zu haben. Seine kurze Gestalt sah nicht gerade einnehmend aus, aber in seinen Augen lag etwas Schlaues und Freundliches zugleich.

»Well, meine Herren,« sagte er und ging mit seinem Glas in der Hand auf einen bequemen Stuhl zu, »das ist ein Wetter! Ein verdammtes Hundewetter! Einfach zum Verzweifeln! Ich komme eben aus dem Roten Haus und wünschte, ich wäre an so einem Tage niemals hingegangen.«

»Miss Adelaide war vor einer halben Stunde hier, Doktor«, teilte ihm die Wirtin mit.

Der Arzt nickte.

»Sie hat es mir erzählt. Sie haben natürlich keine Veränderung an ihr bemerkt, aber sie hat sich verändert. Durch den Verfall des Körpers wird der Geist geschwächt. Wenn sie in einem Jahr noch lebt, wird sie geisteskrank sein.«

»Gott behüte«, rief Mrs. Delbridge aus tiefem Herzen. »Mir scheint, unser kleiner Ort ist nicht mehr das, was er war.«

»Wenn durch irgendeinen Zufall«, fuhr der Arzt fort, sein Getränk schlürfend, »durch irgendeinen Zufall, wie er zuweilen vorkommt, Miss Rosalind oder Miss Henrietta oder besser noch beide zurückkämen, dann könnte alles anders werden. Die Sorge und die Qual der täglich neuen Enttäuschung bringen sie um. Sie ist zu stolz, um zuzugeben, daß sie sie absichtlich in Unwissenheit über ihren Aufenthaltsort lassen, und das frißt die ganze Zeit an ihrem Herzen.«

Goades Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück. Er sah sich in London auf dem Kriminalgericht. Auf der Anklagebank saß eine Frau, für die der Prozeß eine schlimme Wendung nahm. Er hatte ihr blasses Gesicht, die berückenden Augen, den flehenden Blick, den sie ihm zuwarf, nie vergessen können.

»Das Schlimmste ist,« sagte der Arzt in Gedanken, »daß man nicht zu einer Zeitungsannonce raten kann; denn Miss Adelaide wird niemals zugeben, daß die Korrespondenz schon seit langer Zeit aufgehört hat. Eine schwierige Situation! Sehr, sehr schwierig!«

»Und inzwischen«, bemerkte Goade leise, »kann die Patientin sterben« . . .

Am Abend, nach dem Essen, machte Goade den versprochenen Besuch und brachte eine Stunde in einer Umgebung zu, die etwas Tragisches an sich hatte. Das Rote Haus war ein recht imponierendes Gebäude – ein schöner, etwas abseits von der Straße gelegener Bau aus der Zeit König Georgs –, aber alles ringsum verriet den Kampf mit bitterer Not. Die Gartenbeete standen leer, und die Allee war von Unkraut überwuchert. Miss Adelaide öffnete selbst die Tür. Einige Worte der Entschuldigung von ihrer Seite sollten andeuten, daß die Bedienung den Befehl erhalten hatte, sie mit ihrem Besuch allein zu lassen. Sie führte ihn in einen Salon, in dem viele schöne Möbel standen, aber alles sah finster und verlassen aus. Hohl hallten ihre Schritte in den Räumen, und Goade gewann die Überzeugung, daß sonst kein Mensch im Hause war. Sie setzte sich in die Nähe eines Kamins und hielt einen Augenblick ihre Hände an ein Feuer, das nur in ihrer Einbildung vorhanden war. Er nahm ihr gegenüber Platz.

»Ich wünschte, Sie hätten meine Schwestern gesehen, Mr. Goade«, begann sie. »Sie sind leider, wie ich Ihnen erzählt habe, beide für kurze Zeit verreist. Die Leute vermissen sie hier. Sie sagen es mir so oft. So nett von ihnen! Ich selbst vermisse sie auch. Es ist so dumm von mir, ihre Adressen verlegt zu haben, und daß alle ihre Briefe verbrannt sind. Sind Sie ganz sicher, keine von ihnen in London getroffen zu haben?«

»Ich glaube es nicht,« erwiderte er, »aber ich könnte es mit mehr Bestimmtheit sagen, wenn Sie mir ihre Bilder zeigen wollten.«

Sie brachte ein Album herbei – ein gewöhnliches Ding, das mit Familienaufnahmen angefüllt war. Die Szene war beinahe immer dieselbe. Die drei Schwestern standen auf der Dorfstraße vor einem Laden; oder sie gingen über die Straße; blieben stehen, um mit einem Bekannten zu sprechen; gingen zu ihrem Gartentor hinein oder hinaus. Aber diese – zum Teil recht schlechten – Amateurbilder waren in einer Hinsicht äußerst interessant. Noch nie hatte er drei so schöne Frauen zusammen gesehen. Jede von ihnen hatte dieselbe anmutige, aber sichere Haltung, den gleichen geschmeidigen Körper, dieselben vollkommen regelmäßigen Züge und denselben gewinnenden Ausdruck.

»Sie könnten alle beinahe gleich alt sein«, rief er aus.

»Der Unterschied schien allerdings nicht groß, wenn wir zusammen waren«, stimmte sie bei. »Unsere Lebensweise war dieselbe, und wir hatten beinahe bis zuletzt die gleichen Ansichten. Später hat sich vielleicht etwas geändert; ich habe oft darüber nachgedacht.«

»Geändert?« wiederholte er fragend, in der Hoffnung, etwas Näheres zu erfahren.

»Ich selbst«, sagte sie, »war immer zufrieden. Aber zuweilen kam mir der Gedanke, daß Henrietta und auch Rosalind sich gerne etwas weiter in die Welt hinausgewagt hätten. Unser Morgenspaziergang, der mir immer vollkommen genügte, hatte für sie bisweilen keinen Reiz mehr. Doktor Cappers Begrüßung, Mr. Berrys bäurische Komplimente, die lächelnden Gesichter der übrigen Dorfbewohner, ihre Bemerkungen, die uns zuweilen nicht entgehen konnten, waren die Freude meines täglichen Lebens. Meine Schwestern begannen sich nach etwas anderem zu sehnen. Sie betrachteten ein Auto, das vorbeifuhr – etwa einen Mann und eine Frau, mit Gepäck – mit sehnsüchtigem Blick. Bisweilen trafen wir Jagdgesellschaften vom Gutshaus. Henrietta und Rosalind zeigten für die Gäste immer etwas zu viel Interesse. Und dann kam, wie Sie wissen, die Zeit, als zuerst Henrietta und dann auch Rosalind fortging, und seitdem war es einsam. Und wenn ich natürlich auch weiß, daß sie gesund und glücklich sind und bald wieder hier sein werden, so mache ich mir doch zuweilen Sorgen. Ich hätte gern eine Nachricht von ihnen. Sie haben die Bilder gesehen, Mr. Goade. Können Sie mir jetzt noch irgend etwas mitteilen?«

Er vermied ihren Blick.

»Für den Augenblick wüßte ich kaum noch etwas zu sagen,« gestand er, »aber ich würde gern eine von den Aufnahmen mitnehmen – diese hier, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Behutsam schnitt sie das Bild aus.

»Ich würde so gerne Henriettas Gatten kennenlernen – das heißt, wenn sie wirklich verheiratet ist«, sagte sie. »Und Rosalind – wenn ich nur eine Zeile von ihr haben könnte! Wenn sie bloß für ein, zwei Tage herkämen und wir könnten noch einmal um halb zwölf die Dorfstraße hinuntergehen und die Leute könnten uns sehen und reden wie damals – ich glaube, dann würde ich wieder Ruhe haben, und der Schmerz in der Brust, den Doktor Capper nicht erklären kann, würde verschwinden.«

Einen Moment nahmen ihre Augen einen Ausdruck an, der auf Geistesstörung deutete. Goade erhob sich.

»Ich werde sehen, was sich tun läßt«, sagte er in fröhlichem Ton. »Ich bin sicher, daß sie herkämen, wenn sie Bescheid wüßten.«

»Sie haben recht«, erwiderte sie. »Wenn sie Bescheid wüßten! Sie müssen mir helfen, Mr. Goade. Sie haben die Bilder. Henrietta kann nicht unbemerkt bleiben. Sie werden sie finden.«

»Ich bin sicher,« stimmte er bei, »daß ich sie finden werde« . . .

In etwas trüber Stimmung wanderte Goade durch die leeren Straßen zum Gasthaus zurück. Unter dem Torweg blieb er stehen und schaute sich nach dem Wetter um. Der Regen, der in Devonshire keine Bedeutung hatte, strömte vom Himmel herab. Überall waren Pfützen zu sehen, und an den Straßenseiten rieselten Bäche. Er ging ins Haus, steckte den Kopf zum Barfenster hinein und verlangte ein Kursbuch.

»Sie wollen uns doch nicht verlassen, Mr. Goade?« fragte die Wirtin.

»Vielleicht geh' ich auf ein paar Tage weg, bis das Wetter sich bessert«, setzte Goade auseinander.

Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu.

»Sie lieben unsere Devonnebel nicht.«

»Ich finde sie fast so schlimm wie Regen«, gab er zu . . .

Am folgenden Tage erschien Goade unerwarteterweise gegen zwei Uhr in seiner Abteilung von Scotland Yard. Ein kleiner dicker Mann, der den Vorsitz im Bureau führte, begrüßte ihn herzlich, aber nicht ohne Überraschung.

»Hallo, Goade! Ihr Urlaub ist noch nicht zu Ende!«

»Das schlechte Wetter und eine kleine Sache, die meine Neugier reizt, führen mich auf ein paar Tage nach London zurück«, erklärte Goade. »Wer hat die Sache mit der ›Stillen Frau‹ in Bearbeitung – Mona Cross nannte sie sich, glaub' ich?«

Der Kriminalinspektor warf einen Blick in ein Buch.

»Jo Bates«, sagte er. »Er ist eben hier. Wollen Sie ihn sprechen?«

Goade nickte.

»Es wäre mir lieb.«

Auf ein Klingeln des Inspektors erschien sofort ein dicker Mann von kräftigem Aussehen und mittleren Jahren, der Goade die Hand drückte.

»Mr. Goade möchte etwas über den Fall ›Mona Cross‹ hören«, sagte der Bureauchef. »Bitte, ein kurzes Referat.«

Der andere nickte.

»Mona Cross, ledig, Witwe oder weiß Gott, was – gegen dreißig Jahre alt, verdammt hübsch, lebte allein in einer kleinen Wohnung im Marylebone-Stadtteil. Eines Abends wurde dort ein Mann mit Namen Jackson, Rechtsanwalt von zweifelhaftem Ruf, erschossen aufgefunden. Ein Nachbar hatte einen Schuß gehört und die Polizei alarmiert. Aus der Frau war kein Wort herauszubringen; der Mann schien im Sterben zu liegen. Die Frau wurde ins Wandsworth-Gefängnis gebracht. Sie verweigerte jede Antwort. Zweimal kam es zur Verhandlung, aber die Sache wurde jedesmal vertagt: das erste Mal, um festzustellen, ob der Mann lebte, das nächste Mal, um zu sehen, ob er etwas aussagen könnte. Heute morgen kam der Bescheid, er wäre so weit hergestellt, um vernommen zu werden. Ich wollte gegen vier Uhr hingehen.«

»Haben Sie was dagegen, daß ich es an Ihrer Stelle übernehme?« fragte Goade.

»Nicht das geringste, Sir«, erwiderte der andere, der sein Untergebener war. »Er liegt im St.-Pauls-Krankenhaus, Zimmer Nummer 234.«

Goade blieb noch eine Stunde in Scotland Yard und sah einige Personalakten durch. Gleich nach vier stellte er sich im Krankenhaus vor und wurde in das Zimmer geführt, in dem Jackson lag. Die Krankenschwester stellte einen Stuhl an die Seite des Bettes.

»Ein Herr von Scotland Yard möchte Sie sprechen, Mr. Jackson«, meldete sie in freundlichem Ton. »Sie fühlen sich doch heute wohl genug, nicht wahr?«

»Ja, dafür bin ich kräftig genug«, stimmte der Kranke zu.

Die beiden Männer wechselten einen Blick. Goade sah die Jammergestalt eines Mannes von mittlerer Größe vor sich. Das Gesicht, das einen verkommenen Eindruck machte, wurde durch ein Paar schlauer Augen belebt. Die Krankheit schien zugleich das Beste und das Schlechteste in ihm zum Vorschein gebracht zu haben. Sie hatte die groben Züge des Lebemannes verfeinert, aber die Bosheit seines Gesichtsausdrucks noch verschärft.

»Sie werden bei Ihren Aussagen stets daran denken,« begann Goade, »daß ich von Scotland Yard komme? Ich darf wohl sagen, daß ich dort einigen Einfluß habe. Ich höre, daß Sie sich jetzt so gut wie außer Gefahr befinden, und da die Frau, in deren Wohnung Sie aufgefunden wurden, sich bereits einige Zeit in Haft befindet, so haben die Behörden die Absicht, sie freizulassen, wenn nicht ein genügender Grund dagegen vorliegt.«

Der Kranke befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. Er blickte auf das Notizbuch, das Goade in der Hand hielt.

»Ich kann Ihnen eine Menge Gründe anführen, um sie in Haft zu behalten«, sagte er. »Vor allem, der Schuß.«

»Sachte, sachte«, fügte Goade ein. »Lassen Sie mich ein Wort sagen. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß Scotland Yard über Sie genau unterrichtet ist. Sie sind ein- oder zweimal mit knapper Not dem Gefängnis entronnen, und Ihre Beziehungen zu Frauen sind nicht ganz einwandfrei.«

»Was hat das mit –«

»Halt!« unterbrach ihn Goade. »Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht aufregen, Mr. Jackson. Das kann Ihnen bei Ihrem Gesundheitszustand nur schaden. Hören Sie mich an. Unter anderen Dingen, die zu unserer Kenntnis gelangt sind, haben wir auch erfahren, daß Sie für einen gewissen hohen Herrn, der in Devonshire lebt – nehmen Sie mir den Ausdruck nicht übel –, schmutzige Arbeit getan haben . . . Ja, ich dachte mir, daß Sie das überraschen würde; aber wir wissen es, und man ist der Ansicht, daß Ihr Besuch bei Miß Mona Cross – so nannte sie sich, glaube ich – im Interesse dieses Herrn stattgefunden hat. Unglücklicherweise haben Sie sich dabei ein wenig gehen lassen.«

»Sie hat geschwatzt«, brummte Jackson vor sich hin.

»Um die Wahrheit zu sagen,« fuhr Goade fort, »sie hat den Mund kaum geöffnet, aber einiges aus ihrer Lebensgeschichte ist ans Licht gekommen. Ich spreche jetzt nicht amtlich zu Ihnen, aber ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich gerne eine Aussage von Ihnen hätte, die besagt, daß Sie die Frau in großer Verzweiflung angetroffen haben, daß Ihre Mitteilungen wenig tröstlich waren, daß sie drohte, sich zu erschießen, daß Sie, wie es jeder Mann von Herz getan hätte, den Versuch machten, ihr die Waffe zu entreißen, daß bei dem Kampf der Revolver losging und Sie verwundete. Ich glaube, Mr. Jackson, mit dieser Geschichte wäre wohl allen Beteiligten am besten gedient.«

Der Mann lag still und blickte zur Decke empor.

»Schreiben Sie es auf«, sagte er nach einer Weile. »Ich will es unterzeichnen« . . .

Goade verließ das Krankenhaus und fuhr nach einem Haus in der Sloane Street. Ein Diener von höchst korrektem Aussehen führte ihn in ein luxuriös und geschmackvoll eingerichtetes Arbeitszimmer. Nach wenigen Sekunden erschien ein großer, sehr sorgfältig gekleideter Herr, der Goade mit fragendem Blick musterte.

»Ich bin Sir Martin Wryde«, erklärte er. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich bin Goade von Scotland Yard«, sagte Goade, »und komme hierher, um einige Fragen über die Schießaffäre an Sie zu richten, die vor einiger Zeit in der Halsey Street stattgefunden hat.«

Sir Martin stand einen Augenblick wie versteinert da. Dann wurde er sich bewußt, daß der Blick des Detektivs auf ihm ruhte; er nahm alle Kraft zusammen, um sich zu beherrschen.

»Zum Henker, was meinen Sie damit!« fragte er. »Die Schießaffäre?«

»Ein Anwalt, Jackson mit Namen, wurde in der Wohnung einer Dame erschossen aufgefunden, die sich Mona Cross nannte, in Wirklichkeit aber Henrietta Drysdale heißt«, erklärte Goade. »Der Anwalt war, glaube ich, zu Miß Drysdale gekommen, um ihr in Ihrem Namen gewisse Vorschläge zu machen. Wenn Sie es vorziehen, über die Sache zu schweigen, Sir Martin, dann müssen Sie sich auf eine gerichtliche Vorladung gefaßt machen. Ich will Ihnen gleich mitteilen, daß ich eigentlich nicht in amtlichem Auftrage hier bin, obwohl meine Stellung in Scotland Yard Ihnen bekannt sein dürfte.«

»In Gottes Namen, fragen Sie mich, was Sie wollen«, rief Sir Martin und warf sich in einen Lehnstuhl. »Es wäre mir beinahe eine Erlösung, die ganze Geschichte in den Zeitungen ausposaunt und mich selbst ruiniert zu sehen. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Henrietta hat vermutlich alles verraten.«

»Die Dame«, sagte Goade, »hat eine Eigenschaft mit den Besten ihres Geschlechts gemein: sie begeht den Fehler, unverbrüchliche Treue zu halten. Sie hat niemals ihren Mund geöffnet. Andere haben den wahren Tatbestand aufgedeckt und aus Achtung vor ihr keinen Gebrauch davon gemacht.«

»Ich will Ihnen alles sagen«, erklärte Sir Martin. »Hören Sie meine Geschichte: Wir waren Nachbarn in Devonshire, und ich schwöre Ihnen, daß es niemals eine schönere Frau gegeben hat als Henrietta Drysdale. Ich hätte sie geheiratet, besaß aber damals keinen Penny. Die Hypothekenzinsen von Wryde richteten mich zugrunde. Ich war Parlamentsmitglied für den Wahlbezirk, kam nach London, trat in die Direktion einiger Gesellschaften ein, erhielt eine kleine Stellung im Auswärtigen Amt und habe mich bewährt. Jetzt geht es immer mehr vorwärts. Natürlich hätte ich sie heiraten sollen, und diese Absicht hatte ich, als ich sie nach London kommen ließ. Später dachte ich – na, kurz und gut, was bessere und schlimmere Menschen als ich wohl auch gedacht haben. Ich legte etwas Geld auf der Bank an, schickte Jackson zu ihr und versuchte, einen Vergleich zustande zu bringen.«

»Das ist jedenfalls offen und ehrlich gesprochen, Sir Martin«, gestand Goade. »Ich will Ihnen ebenso offen antworten. Durch einen Zufall sind mir diese Dinge in die Hände geraten. In unserer Abteilung von Scotland Yard stehe ich an zweiter Stelle und besitze jede erforderliche Vollmacht. Augenblicklich befinde ich mich auf Urlaub und möchte lieber auf Urlaub bleiben. Ich spreche jetzt zu Ihnen als Nicholas Goade zu Sir Martin Wryde. Auf Grund einer Aussage Jacksons, die ich besitze, kann Henrietta Drysdale in drei Tagen aus der Haft entlassen werden. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, sie zu heiraten, und die ganze Sache ist begraben.«

Sir Martin sprang auf. Er trat auf Goade zu, legte die Hand auf seine Schulter und sah ihm ins Gesicht.

»Mein Gott, Mann, ist das Ihr Ernst?« fragte er.

»Mein voller Ernst.«

Sie reichten sich die Hände. Goade griff nach seinem Hut.

»Wenn ich etwas Glück habe,« sagte er, »so werden Sie in drei Tagen Miss Henrietta draußen in Wryde finden.«

Goade wartete bis zum nächsten Tage, bevor er nach Wandsworth fuhr. Der Entlassungsbefehl war in seiner Tasche. Als die Leiterin des Frauengefängnisses die angebliche Mona Cross in den schmutzigen Empfangsraum führte, gab es ihm beinahe einen Stoß. Die Schönheit dieser Frau machte ihn sprachlos, obgleich ihr Gesicht wie erstorben schien. Sie lächelte ihm freundlich zu, sagte aber kein Wort.

»Seit sie hier ist,« erklärte die Leiterin, »ist sie immer stumm geblieben.«

»Wenn Sie uns allein lassen wollen,« sagte Goade, »so wird sie mit mir sprechen.«

»Das ist im Grunde gegen die Vorschrift«, meinte die Dame zögernd.

Goade zeigte ihr den Entlassungsbefehl.

»Die Sache ist erledigt«, sagte er. »Der verwundete Mann gibt zu, daß er beim Versuch, ihr den Revolver zu entreißen, getroffen wurde.«

Henrietta Drysdale fuhr ein wenig zusammen. Als die Tür sich geschlossen hatte, blickte sie ihn an. Zum erstenmal nach zwei Monaten brach sie das Schweigen.

»Aber das ist nicht wahr«, rief sie aus.

»Es soll wahr werden«, erwiderte Goade in beruhigendem Ton. »Jackson hat die eidliche Aussage unterzeichnet. Er tat es, um sich Schlimmeres zu ersparen. Vielleicht ist es nicht wahr, aber es ist gerecht.«

»Wer sind Sie und woher wissen Sie etwas davon?« fragte sie.

»Das ist eine lange Geschichte. Aber das ist gleich, ich bringe Ihnen gute Nachrichten. Erlauben Sie mir, Sie anzusehen.«

»Mich anzusehen?« fragte sie erstaunt. Er ergriff ihre beiden Hände.

»Henrietta Drysdale,« sagte er, »auf Ihrem Gesicht steht geschrieben, daß Sie ein edler Mensch sind. Können Sie verzeihen?«

Sie stieß einen Seufzer aus.

»Ich glaube,« sagte sie, »jede Frau kann nur zu leicht verzeihen.«

»Wollen Sie Sir Martin verzeihen und ihn heiraten?«

Ein Zittern überfiel sie. Dann traten Tränen in ihre herrlichen Augen und ließen sie noch schöner strahlen.

»Ich brauche Sie nicht dazu zu drängen«, fuhr er fort, »aber es gibt etwas noch Wichtigeres: Ihre Schwester Adelaide verliert vor Kummer den Verstand. Die Einsamkeit hat ihre Gesundheit untergraben. Sie müssen morgen oder übermorgen zu ihr zurückkehren. Sir Martin wird Sie dort aufsuchen.«

»Aber wer sind Sie?« fragte sie zum zweitenmal.

Er machte eine abwinkende Bewegung.

»Und jetzt,« sagte er, »– Rosalind?«

Henrietta schauderte.

»Ich fürchte mich, daran zu denken«, murmelte sie vor sich hin. »Das war auch meine Schuld. Rosalind war jünger als ich.«

»Ist es zu spät?« fragte er.

»Wenn sie nicht verhungert ist, – nein,« erwiderte Henrietta. »Rosalind ist noch stolzer als ich und Adelaide. Sie wohnte nicht bei mir, weil Martin sich immer davor fürchtete, sie könnte ihn in meiner Wohnung sehen. Sie versuchte, auf die Bühne zu kommen.«

»Geben Sie mir ihre Adresse«, bat er.

Sie kritzelte ein paar Worte auf einen Umschlag, den er vor sie auf den Tisch legte. Er steckte ihn in die Tasche und ergriff seinen Hut.

»Aber wer sind Sie?« fragte sie wieder, als er sich erhob.

»Nun,« meinte er lächelnd, »für einige Wochen bin ich – niemand. Ein Mann mit einem Fordwagen und einem kleinen Hund auf Urlaub in Devonshire. Verstehen Sie, ich hatte es satt auf gutes Wetter zu warten und kam daher auf ein, zwei Tage nach London, mich in Angelegenheiten zu mischen, die mich nichts angehen. Wir werden uns in Wryde wiedersehen.«

Er legte ein Kuvert auf den Tisch.

»Ihre Schwester Adelaide schickt Ihnen Geld zur Reise.« . . .

Der letzte Besuch, den er machte, drohte der bedenklichste von allen zu werden. Er machte ein trübes Gesicht, als er die Umgebung des Hauses betrachtete, die übertriebenen Komplimente einer gelbhaarigen Wirtin empfing, die enge Treppe hinaufstieg, auf der ein abgetretener Teppich lag, und in der stickigen Luft höher und höher kletterte, bis er den fünften Stock erreichte, um an eine einfache Brettertür zu klopfen. Eine halberstickte Stimme rief »Herein« und er trat sofort ins Zimmer. Außer einem einfachen Eisenbett, einem Waschtisch, einem halbzerbrochenen Stuhl und einigen Haken an der Wand waren keine Möbel zu sehen. Die dritte der »Schönen Schwestern von Wryde« kniete vor einem kleinen Koffer, in den sie ihre Sachen packte. Sie erhob sich, und Goade starrte sie mit offenem Munde an.

»Mein Gott, wie schön Sie sind!« konnte er sich nicht enthalten auszurufen.

Eine leichte Röte stieg in ihre blassen Wangen.

»Wer sind Sie?« fragte sie kühl.

»Ein Freund«, beruhigte er sie.

»Weiß Gott, den hab' ich nötig!« rief sie in leidenschaftlichem Ton.

»Wo wollen Sie mit dem Koffer hin?« fragte er.

»In die Hölle«, sagte sie.

»Ich gehe gern auf Ihr Gleichnis ein,« erwiderte er freundlich, »aber in welchen Teil der Hölle?«

»Ich reise mit einer Theatergesellschaft, unter Leitung von Mr. Montague Masson, nach Blackpool«, fuhr sie in bitterem Ton fort. »Wenn Sie Mr. Montague Masson kennen, werden Sie wissen, was das sagen will. Wenn nicht, so müssen Sie glauben, was ich Ihnen sage – daß ich in die Hölle fahre.«

»Dann komme ich, wie es scheint, gerade zur rechten Zeit,« bemerkte er.

Sie sah ihn ernst an.

»Sie sind mir doch ganz fremd!«

»Keineswegs«, erwiderte er. »Ich bin ein alter Freund Ihrer Schwester Adelaide und ein neuer Freund Ihrer Schwester Henrietta. Noch vor achtundvierzig Stunden war ich in Wryde selbst. In wenigen Tagen werde ich wieder dorthin kommen. Sie werden vor mir da sein. Hier«, fuhr er fort und legte wieder ein Kuvert auf den Tisch, »ist Geld für Ihre Rechnung – Ihre Wirtin wird sicher Bezahlung verlangen, bevor Sie abreisen –, für die Reise nach Wryde und« – fügte er entschuldigend hinzu – »für ein neues Kleid«.

Sie setzte sich auf das Bett nieder und stützte beide Hände auf.

»Was heißt das?« brachte sie mühsam hervor.

»Es heißt,« erklärte er, »daß ich ein Wesen bin, das zuweilen vom Himmel fällt, um manche Dinge in Ordnung zu bringen, verstehen Sie? Sie brauchen nicht gerade an meine Übernatürlichkeit zu glauben, wenn Sie nicht wollen. Und jetzt, ernstlich gesprochen, bitte, Miß Rosalind – hören Sie zu?«

»Ja,« flüsterte sie, »ich will an Sie glauben!«

»Mit Ihrer Schwester Adelaide steht es sehr traurig. Sie kommt beinahe von Sinnen und glaubt nur seit einiger Zeit Ihre Adressen verloren zu haben. Sie hat keine Ahnung davon, daß Sie Schlimmes durchgemacht haben. Sie müssen beide nicht reumütig, sondern im Triumph zurückkehren. Wollen Sie so gut sein und morgen nach Wryde fahren?«

»Natürlich«, sagte das junge Mädchen mit einem Seufzer. »Gibt es für mich etwas Herrlicheres auf der Welt, als wieder in Frieden und Sicherheit im Roten Hause zu sein? Ich gehe lieber als Küchenmagd ins Wrydegasthaus, als zu erleben, was ich hier erlebt habe.«

»Das wird kaum nötig sein«, beruhigte er sie. »Sie fahren morgen mit dem Elf-Uhr-Zuge zurück. Ihre Schwester Henrietta wird am nächsten Tage nachkommen.«

»Glauben Sie, daß man sie freilassen wird?« stammelte sie.

»Nicht allein das,« erwiderte er, »sondern Sir Martin heiratet sie. Ich kann Sie in Ruhe verlassen, nicht wahr? Sie geben mir Ihr Wort darauf, den Elf-Uhr-Zug morgen nicht zu versäumen? In dem Umschlag dort finden Sie an Geld, was Sie brauchen.«

»Ja, ich versprech' es Ihnen, aber Sie müssen mir sagen, wer Sie sind. Sie wissen, wovor Sie mich bewahrt haben! Ich finde keine Worte!«

Ihre Lippen bebten. Er nahm seinen Hut, um das sonderbare Gefühl, das ihn überkam, zu verbergen. Noch nie war ihm etwas so Törichtes passiert. Er neigte sich tief herab und küßte ihre Hand.

»Mein liebes Fräulein,« sagte er, »ich bin ein Mann, der sich auf Urlaub befindet und mit seinem kleinen Hund in einem alten Auto herumfährt. Das schlechte Wetter hielt mich auf, und da bin ich, wie ich Ihrer Schwester sagte, in allerhand Geschichten verwickelt worden, die mich nichts angehen. Sie werden mich morgen nicht im Stich lassen?«

»Sie im Stich lassen!« rief sie. »Niemals!« . . .

Drei Tage später waren alle Nebel verflogen. Die Sonne schien auf die roten Dächer des malerischen Städtchens Wryde herab. Es war halb zwölf, und auf den stillen, sauberen Straßen begann sich das gewohnte Treiben des Vormittags zu regen. Die Gartentür des Roten Hauses öffnete sich, und die drei Schwestern traten hervor. Miß Adelaide ging, stolz wie immer, in der Mitte. Zu ihrer Linken schritt Henrietta, zu ihrer Rechten Rosalind. Der Straßenkehrer eilte herbei, das Tor hinter ihnen zu schließen, nahm seinen Hut ab und stieß in sein Signalhorn. Mr. Berry, der Eisenhändler, kam schnell hinter dem Ladentisch hervor, um auf der Schwelle seines Ladens zu stehen, als sie vorbeigingen. Mr. Farrow stürzte, mit dem Schlachtmesser in der Hand, auf die Straße hinaus.

»Guten Morgen, Mr. Berry«, sagte Adelaide in huldvollem Ton. »Wir kommen gleich zu Ihnen, wenn wir bei Mr. Farrow eingekauft haben.«

»Es wird mir eine Ehre sein, Sie zu begrüßen, meine Damen«, erklärte Mr. Berry. »Wryde ist wieder, was es früher war.«

Adelaide strahlte vor Glück. Rosalind blieb einen Moment stehen – irgend etwas war ihr ins Auge gekommen, und Henrietta bückte sich nach dem Taschentuch, das ihr entfallen war. Dann gingen sie weiter. Der Doktor winkte ihnen von der anderen Seite der Straße zu, und der Tierarzt, der ein junges Pferd ritt, hatte Mühe es festzuhalten, um den Hut zu lüften und ein Wort des Willkommens zu äußern. Der Schneidermeister, Mr. Sparrow, dem das Meterband über die Schulter hing, kam schüchtern herbei und machte viele Bücklinge. Mrs. Delbridge eilte aus dem gemütlichen Gastzimmer hinaus, um ihren schönsten Knicks zu machen.

»Ihr seht,« bemerkte Adelaide in triumphierendem Ton, »wie froh sie alle sind, daß ihr zurückgekommen seid. Da steht Mr. Farrow und wartet auf uns. Du mußt heute etwas recht Gutes aussuchen, Henrietta, da Martin zum Lunch kommt.«

Ein alter Fordwagen kam die Dorfhöhe hinaufgekeucht. Neben dem Mann am Steuer saß ein kleiner weißer Hund. Von den ›Schönen Schwestern von Wryde‹, die so anmutig daherkamen, blieben zwei einen Augenblick stehen. Dann traten sie mitten auf die Straße. Goade stieg aus und brachte mit den Einwohnern des Städtchens seine Huldigungen dar. Mit dem Hut in der Hand folgte er einer unenglischen Sitte, die ihm plötzlich natürlich schien, er beugte sich tief über die Hände, die sie ihm entgegenstreckten.

»Ihr kennt diesen Herrn?« fragte Adelaide, als auch sie ihn begrüßt hatte. »Während eurer Abwesenheit ist er so gut zu mir gewesen; er zeigte so viel warmes Interesse für Henrietta und war so teilnehmend, als er hörte, daß ich eure Adressen verloren hatte und keine Nachricht von euch bekam. Mr. Goade, Sie müssen durchaus einmal zu uns zum Tee kommen und Ihren lieben kleinen Hund mitbringen.«

Nicholas Goade nahm Abschied und stieg in sein Auto.

»Ich komme gern einmal zu Ihnen, Miß Drysdale,« sagte er, »aber in dieser Gegend bin ich leider nur ein – Wandervogel.«

Die »Schönen Schwestern von Wryde« setzten ihren Gang fort; aber einer von ihnen war es weh ums Herz.

 


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