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Die kleine Denise de Verneuil hatte nur einen einzigen Wunsch: sie wollte einen Mann haben! Dieser Wunsch mochte komisch erscheinen bei einem Mädchen, das, kaum von den frommen Schwestern, wo es erzogen worden, in das Vaterhaus zurückgekehrt war. Aber die kleine schwarze Denise war schon von den ersten Kinderjahren ab ungeheuer entschieden gewesen; Vater wie Mutter hatten sie verwöhnt und ihr jede Bitte erfüllt.
Als Denise beim Frühstück Herrn de Verneuil ihr Begehr aussprach, in dem Ton etwa, als hätte sie um ein Stück Brot gebeten, machte er zuerst ein erstauntes Gesicht. Dann fing er an zu lachen, und als er die traurige Miene seiner Tochter sah, die beleidigt zu sein schien, daß er ihre Bitte nicht ernst nahm, lachte er bis zu Tränen und steckte seine Frau an, daß auch sie schließlich das Taschentuch an die Augen hielt. Die kleine Denise war auch zu komisch mit ihrem Wunsch, daß sie einen Mann haben wollte, so etwa, als begehre sie eine Puppe zum Spielen. Und der Vater fragte sie, indem er abwechselnd seine Frau und seinen Sohn René listig ansah:
»Sag' mal, mein Kind, was willst du denn damit anfangen?«
Aber sie antwortete nur, sie wollte einen Mann haben. Als sie nach dem Frühstück einen Augenblick in ihr Zimmer gegangen war und die andern drei am Kamin saßen, in dem an dem regnerisch kühlen Herbsttage ein Feuer wohlig prasselte, sagte Herr de Verneuil, ein großer hagerer Mann mit schwarzem Schnurrbart und einer Fliege am Kinn:
»Lucy, wir werden uns also wohl für die Kleine nach einem Manne umsehen müssen.«
René schnippte die Asche seiner Zigarette in das Feuer; er starrte in die Glut und schien zu überlegen. Er war erst einige zwanzig Jahre alt, wie sein Vater, groß und schlank, ganz sein Ebenbild, nur daß der Schnurrbart erst im Ansatz sich befand; aber auch die Fliege saß ihm am Kinn.
Frau de Verneuil ließ ihre Modezeitung sinken, das einzige Blatt, das sie las, und rief:
»Ich wüßte einen Mann für die Kleine!«
»Nun?«
»Renés Freund, de la Caille.«
Ihr Sohn rührte sich nicht, er sah immer noch ins Feuer. Herr de Verneuil aber nickte nachdenklich:
»Gute Familie, sehr vermögend, ganz vernünftig, soviel ich weiß!«
René blickte seinen Vater kurz an und starrte dann wieder in die Glut, aber Frau de Verneuil hatte den Blick bemerkt und fragte ihren Sohn:
»René, das stimmt wohl nicht?«
René, der zu Haus immer etwas Gelangweiltes, beinahe etwas Philiströses an sich hatte, aber eine ganz andere Natur zeigte, wenn er mit seinen Freunden auf dem Boulevard bummelte, meinte:
»Gott, nicht vernünftiger, aber auch nicht unvernünftiger als andere!«
Herr de Verneuil erhob sich und sagte, indem er in einer gewissen Manier den Kopf hin und her bewegte: »Ach, papperlapapp, überlegen wir es uns, wir haben ja noch Zeit!«
Damit küßte er seine Frau im Vorübergehen auf die Stirn, winkte René mit einem Blick seiner Augen zu und ging davon, wie immer, um in seinem Cercle Zeitungen zu lesen.
Mutter und Sohn blieben allein, und nun stand Frau de Verneuil auf, setzte sich neben René, strich ihm die Wange und begann:
»Mein Kleiner,« so nannte sie ihn noch heute, »nun sage mir einmal, also was meinst du denn zu deinem Freund?«
Mit der Mutter war der Sohn ganz anders; er liebte abgöttisch diese weiche Frau, die immer etwas Schwermütiges hatte, der er alle seine kleinen Herzensangelegenheiten anvertraute, nur die großen nicht, und die ihm immer fürs erste aushalf, wenn er in Geldverlegenheit war. Beim Vater, der selbst viel Geld verbrauchte, mußte man sorgfältig die Gunst der Stunde nutzen.
René nahm die Hand seiner Mutter, und während er sprach, spielte er mit ihren zarten, dünnen, beringten Fingern und drückte ab und zu einen Kuß darauf:
»Mein liebes Mamachen, Robert de la Caille ist das leichtsinnigste Huhn, das ich kenne.«
»Aber warum hast du denn das Papa nicht gesagt?«
»Wir haben schon ein paarmal über ihn gesprochen, und ich weiß, daß er sehr eingenommen von ihm ist.«
Die Mutter beugte sich nahe zu ihrem Sohn:
»Aber, René, wirst du denn nie Vertrauen zu deinem Vater haben?«
René zuckte die Achseln und blickte zu Boden:
»Ist es denn überhaupt nötig, die arme Denise sofort zu verheiraten? Sie hat doch noch Zeit.«
Frau de Verneuil lächelte: »Du hast aber doch gehört, daß sie einen Mann haben will!«
»Ach, das ist Kinderei! Ich habe meine kleine Schwester gern, und ich kenne die andern jungen Leute. Ich kenne meine Freunde. Ich bin ja vielleicht nicht besser als sie, aber das kann ich dir sagen, ehe Denise einen von denen heiratet, da sollte sie es lieber überhaupt bleiben lassen.«
Frau de Verneuil antwortete nichts und vertiefte sich wieder in ihr Modeblatt.
René stand bald auf. Er küßte seine Mutter auf die Stirn, genau wie es ein paar Minuten vorher der Vater getan hatte, nur vielleicht ein ganz klein wenig herzlicher. Dann ging auch er davon; er wollte sich, wie seine Redensart lautete, einmal ein wenig die Läden ansehen. Auch Frau de Verneuil blieb nicht lange sitzen, sie hatte das Coupé bestellt und fuhr zur Schneiderin.
So blieb die kleine Denise allein zu Haus. Sie saß in ihrem Mädchenzimmer, beschäftigte sich mit einer Stickerei, malte, schrieb an dem winzigen Rokokoschreibtisch, den sie zum Neujahrstage bekommen hatte – sozusagen als Zeichen, daß sie erwachsen war – einen Brief an eine Freundin, die jetzt auf einem Schlosse ihres Vaters in der Normandie ihr Leben »vertrauerte«.
Keines der beiden Mädchen war zufrieden. Margarete de Palustre, die Tochter des Marquis de Palustre, eines Mannes, der nur Interesse für das Landleben hatte, für Jagd, Vieh- und Pferdezucht und niemals nach Paris kam, beneidete die kleine Denise in jedem Briefe, daß sie in der Hauptstadt lebte. Denise wiederum schrieb ihrer Freundin jedesmal, wie gern sie in der Normandie wäre. Die eine klagte von den düstern Mauern des alten normannischen Kastells, von finsterm, freudelosem Dasein, von eisiger Kälte, von Schneefall und kahlen Bäumen, von dem gewaltigen Wind, der Tag und Nacht landeinwärts blies. Und die andere schilderte ihre Eindrücke in diesem Häusermeer, in diesem Gewirr und Hasten der Weltstadt, in dem sie sich verloren und verlassen fühlte. Im Grunde genommen sehnten sich beide nach dem stillen Klosterhof zurück, nach dem wundervollen Garten der frommen Schwestern, und beiden tat, einer jeden nach ihrer Weise, die erste Berührung mit der Welt weh.
Denise war nicht so kindisch, wie Vater und Mutter und auch René glaubten; sie sah nur eine Möglichkeit, als streng gehaltenes französisches Mädchen diesem Zustande zu entfliehen, die Ehe, und darum hatte sie so naiv um einen Mann gebeten. Was dann folgen sollte, wo sie leben würde, ob das besser wäre als jetzt, darüber zerbrach sie sich nicht den Kopf.
Diese Nachmittage waren schrecklich. Die Mutter nahm sie zu ihren Besorgungen nicht mit, sie durfte sie erst später zur täglichen Ausfahrt in das Bois de Boulogne begleiten. So betrachtete sie denn unaufhörlich ihre Habseligkeiten, ihre drei Gebetbücher, die zwei Muttergottesbilder und die kleine Christusfigur, die ihr die gute Schwester Klara beim Abschied geschenkt hatte. Dann ordnete sie peinlich ihre Wäsche, legte die Taschentücher zurecht, verschnürte und verpackte sorgfältig die Briefe ihrer Freundin, indem sie alle paar Tage eine andere Reihenfolge vornahm und sie einmal rechts, einmal links in den Schreibtisch legte. Schließlich ging sie in den Salon hinüber, den für eine Pariser Wohnung fast saalartig großen Raum; wie er, ganz im Empirestil gehalten, war auch der große Flügel, an den sich Denise nun setzte, um zu spielen.
Sie nahm die Noten vor. Es war mehr eine mechanische Arbeit. Sie wußte, wenn ihre Eltern Gäste sahen, mußte sie »ihr Stück« spielen. Und sie übte das peinlich und sorgfältig, ohne Schwung, ohne Talent, nur weil sie eben »ihr Stück« vortragen mußte. Dann kam irgendeiner und sagte ihr, das wäre sehr gut und ein zweiter:
»Wie lange spielen Sie schon?«
Und ein dritter:
»Sie sollten es wiederholen!«
Aber dazu kam es nie, denn auch andere wollten gehört sein, und bei den Verneuils wurde viel musiziert.
Die Herren, die das Mädchen bei ihren Eltern gesehen hatte, gefielen ihr alle nicht. Sie ahnte, daß die jungen Leute eingeladen wurden, um sie zu besehen, und auch, damit ihre Eltern sie kennenlernten. Ab und zu hatte sie, wenn sie auch gar nicht so tat, ein paar Worte aufgeschnappt, denn die Frage der Heirat wurde im Hause immer besprochen. Sie hörte, wie der Vater den einen zu jung fand, den andern zu arm, und im Innern hätte sie sich ausschütten mögen vor Lachen, als er neulich den Vicomte de Cornadon für sehr passend erklärte, einen Herrn mit fast grauem Haar, den sie am liebsten Großpapa genannt hätte.
Denise hielt im Klavierspiel inne, stützte das Kinn auf ihre noch etwas magern, schlanken Mädchenarme, beugte sich weit vor und starrte zwischen dem Notenpult in die Saiten unter dem Deckel des Flügels.
Einen hätte sie schon gewußt, der ihr gefiel, das war Renés Freund, de la Caille. Ja, Robert, wie ihn René immer nannte, und unter diesem Namen kannte sie ihn am besten, den hätte sie gern zum Mann gehabt. Er war immer so nett mit ihr, eben wie ein Freund ihres Bruders. Er sah sie nie prüfend von der Seite an, wie die andern, denn auch das merkte sie ganz wohl. Er sagte ihr nie eine fade Schmeichelei, er sprach mit ihr beinahe wie ihr Bruder, einfach, freundlich. Und sie waren ja so alte Bekannte; sie erinnerte sich noch, wie er mit René in die Schule ging – man sagte einfach »die Schule« – die sie beinahe alle besuchten aus dem Faubourg Saint-Germain, wo man alle Familien kannte, wo die Jungen miteinander verkehrten, wie einst ihre Väter verkehrt hatten, und wo René mit jedem ruhig Freundschaft schließen konnte, ohne die Eltern zu befragen, denn sie alle waren anständiger Leute Kinder. Robert war Sonntags immer gekommen, und damals war er reizend gegen das kleine Mädchen gewesen, für das René eigentlich in jenen Jahren eine gewisse Verachtung gehabt. Robert hatte ihr Kuchen mitgebracht, heimlich, denn die Mutter wollte es nicht, und ab und zu eine Blume, und wenn er sie übergab, war es immer wie eine kleine, zarte Huldigung.
Der Ton war geblieben, obgleich sie sich jahrelang nicht gesehen hatten. Denn von den frommen Schwestern war sie kaum einmal nach Haus gekommen. Man sollte, wie es hieß, den Gang der Erziehung nicht durch andere Eindrücke beeinträchtigen. Und nun hatte sie Robert wiedergesehen, und er war genau so wie früher, nur die kleine kindliche Knabenhuldigung dem um acht Jahre jüngern Mädchen gegenüber hatte einer ruhigen Freundschaft Platz gemacht. Er brachte ihr keinen Kuchen mehr und auch keine Blumen, aber er sprach immer mit ihr; und seine Worte gingen nie auf Stelzen, sie waren herzlich und einfach.
Wie Denise über alles das nachdachte, immer noch auf den Flügel gelehnt, mit einem Finger ab und zu einen Ton anschlagend und lauschend auf das Nachzittern der Saiten, ward sie sich plötzlich klar, daß sie an Robert gedacht, als sie ihren Eltern heute beim Frühstück gesagt hatte, sie wollte gern einen Mann haben.
Sie stand auf, klappte das Instrument zu und kehrte in ihr Zimmer zurück, als schämte sie sich, als wollte sie jetzt nicht gesehen sein. Und sie starrte auf den Hof hinaus, denn ihr Zimmer lag nach hinten. Da sah sie das Coupé stehen; das Pferd war schon ausgespannt. Der Kutscher vertauschte eben den Livreerock mit seiner Ärmelweste. In einer halben Stunde wurden also die beiden Braunen eingespannt, und dann kam die übliche Fahrt ins Bois. Schnell, schnell, sie mußte sich anziehen.
So nahm sie denn alle die Sachen, in denen sie gekramt hatte, warf sie kunterbunt durcheinander in das Fach ihrer kleinen Kommode, trat mit dem Fuß dagegen, daß es zurutschte, und machte sich fertig. Sie wußte nicht, welchen Hut sie aufsetzen sollte und mußte zweimal den Schleier wieder abbinden. Endlich saß das feine Gewebe, für das sie von ihrem Taschengeld immer verhältnismäßig viel ausgab, und nun nahm sie eine Haarnadel und lüftete den Schleier rechts und links, damit das Haar nicht an den Schläfen kleben sollte. Dann öffnete sie den Mund ein paarmal wie zum Gähnen und spannte dadurch den Schleier ein wenig ab. Sie zog die Handschuhe an und huschte hinaus:
»Mama, da bin ich!«
Frau de Verneuil saß im Schlafzimmer an ihrem Louis-XVI.-Schreibtisch. Sie fuhr zusammen:
»Herrgott, habe ich mich erschrocken!«
Sie fügte etwas ärgerlich hinzu:
»Du mußt auch nicht immer so hereinplatzen!«
Aber Denise fiel ihrer Mutter um den Hals, küßte sie, daß sie sich lächelnd ihrer kaum erwehren konnte, und rief:
»Meine liebe gute Mama, du bist ja doch nicht böse!«
Sie war auch nicht böse, sie konnte Denise nicht böse sein, wie keiner im Hause.
Mutter und Tochter stiegen nun in den Wagen, der Diener stopfte ihnen noch die Decke zurecht, schob die große Wärmflasche unter die Füße, dann lehnten sich die beiden Damen in die Seidenpolster des Coupés, und während der Diener schnell auf den Bock kletterte, zogen die Pferde an. Lautlos auf den Gummirädern rollte der Wagen durch den Torweg.
Als sie aus der stillen Straße, in der nur einzelne vornehme Hotels lagen, ein- oder höchstens zweistöckige, in die Champs Elysées hinausbogen, umflutete sie das ganze gewaltige Leben dieser Nachmittagsstunde, wo Hunderte von Equipagen die übliche Fahrt ins Bois antraten, die Denise so aus tiefstem Herzen haßte. Auf der breiten Avenue mit den entlaubten Bäumen rechts und links, aus denen die Häuser mit ihren hohen Schieferdächern und ihren teils in Gärten versteckten Fronten lugten, war ein unausgesetztes Hin und Her. Hohe schwere Omnibusse kamen gefahren, Automobile stießen ihre Klage- und Warnungsrufe aus und huschten an den vornehmen Gefährten vorbei, die in unausgesetzter, doppelter, drei- oder vierfacher Reihe hintereinander oder einander überholend zum Bois hinausstrebten. Der Hauptstrom ging hinauf zum Triumphbogen, nur wenige Gefährte bewegten sich von dort zurück nach der Place de la Concorde.
Nun brach die Sonne, die sich bisher versteckt gehalten hatte, durch ein Wolkenfenster durch und bestrahlte dieses wimmelnde Nachmittagsbild. Damen in kostbaren Pelzen lenkten selbst ihre Automobile oder ihr Gefährt, und in den Coupés sah man sie zurückgelehnt, lässig und müde in größter Eleganz sitzen, während regungslos vor ihnen auf dem Bock die beiden glattrasierten Bedienten Platz genommen hatten. Die Sonne spielte auf dem Lack der Wagen, als ob es lauter polierte Spiegel wären; sie glitzerte in dem silberbeschlagenen Geschirr und zeichnete glänzende Flecken auf den Kruppen der tadellos gehaltenen Pferde, die in hoher Aktion stolz vor ihren Wagen in den Strängen lagen.
Auf den Bürgersteigen erging sich die Menge, die Herren im blanken Zylinder, die Krücke ihres Stockes nach unten gesenkt, in Lackstiefeln und weißen Handschuhen. Sie neigten sich zu den Damen, die sie begleiteten, und sagten irgend etwas. Man erriet, daß es wohl eine Artigkeit sein mußte. Dazwischen gingen Kinderfrauen mit ihren runden Hauben und den lang herabhängenden Bändern, das pflegebefohlene Kind unter dem weiten Mantel verborgen. Und bei dem milden Schein der Sonne, bei dem es plötzlich wärmer geworden war, saßen die Menschen jetzt auch überall auf den Bänken und starrten auf das Fluten des Verkehrs. Kleine Bürger, die Riesenzahl der Rentner, hier und da ein Arbeiter in blauer Bluse, irgendein Paket in der Hand, der auf seinem Gange rastete und dem eleganten Treiben zusah, das für ihn immer und ewig ein unerreichbares Märchen bedeutete. Ab und zu sah man auch ein paar Uniformen, kleine, schwarze Soldaten in roten Hosen und blauen Röcken, mit den Epauletten, die beinahe größer zu sein schienen als die winzigen Kerlchen.
Die beiden Damen im Wagen achteten nicht auf all das, sie waren es gewohnt. Der Mutter schien es zum Leben notwendig, der Tochter langweilig, zu bunt und zu unruhig. Sie sprachen kein Wort, während der Wagen um den Triumphbogen herumfuhr, immer weiter dem Bois de Boulogne zu, und noch immer redeten sie nicht, als sich die weite Avenue auftat und man rechts und links die Wälle der Stadt-Enceinte sah.
Nun beschrieb der Wagen den Weg, den er immer machte, um den See herum, dann die Akazienallee hinunter. Die einzige Unterhaltung bildete jetzt, daß Frau de Verneuil, aus dem Fenster blickend, Bekannte sah, die genau so wie sie den täglichen Rundweg machten, die sie täglich traf, die sie täglich begrüßte. Nur ab und zu kam die Bemerkung:
»Sieh mal den neuen Tricorne der Gräfin Brizennes! Hast du ihn gesehen, Denise? Sehr hübsch!«
Oder: »Die Berteaux könnten nun auch wirklich einmal ein paar andere Pferde anschaffen, so reiche Leute!«
Dann herrschte wieder Schweigen in dem kleinen Coupé, das beim schnellen Trabe der Pferde fast ohne Geräusch und ohne Erschütterung dahinglitt. Frau de Verneuil beugte sich von Zeit zu Zeit vor, sah in den kleinen Spiegel ihr gegenüber und blickte nach der Uhr, die im Vorderteil des Wagens im Seidenkissen eingebettet lag.
Plötzlich schien Denise aufzuwachen, die bisher gleichgültig dagesessen hatte:
»Sieh mal, Mama, Robert!«
Die Mutter blickte hin und sah gerade noch ein Tandem vorüberhuschen, von einem schlanken jungen Manne gefahren, der ein ganz klein wenig René ähnelte, dessen Gesicht nur regelmäßiger war, da ihm die scharfe Nase fehlte. Und Frau de Verneuil dachte an den Ausspruch ihres Mannes und fragte unwillkürlich:
»Ist er noch immer so nett?«
Denise meinte nur kurz, ohne ihre Mutter anzusehen:
»Sehr nett!«
»Nun ja, als Renés Freund und dein alter Spielkamerad!«
Denise antwortete nicht. Ihre Mutter kam auf keinen Gedanken. Sie sagte sich: »Wäre er am Ende doch etwas für meine Kleine?«
Sie überlegte, daß, wenn er auch wirklich nicht als Tugendspiegel gelten konnte, schließlich Herr de Verneuil in früheren Jahren auch keiner gewesen war. Und wieder sagte sie sich: »Ach, Renés Freund ist so nett, und er treibt's doch wohl nicht anders als andere junge Leute. Und wenn mancher so viel Geld hätte, so würde er wohl noch ganz anders sein. Es muß nur die richtige Frau sein, und die kleine Denise würde ihn schon vernünftig machen.« Da kam ihr plötzlich der Gedanke, zu forschen, und sie fragte:
»Sag' mal, mein Kind, du wolltest doch einen Mann haben?«
Denise war jetzt etwas beschämt, seitdem ihr die Augen aufgegangen waren, und sie wich aus:
»Mama, es war ja bloß ein Scherz!«
»Na, na, aber so kleiner Kinder Wünsche erfüllt man doch, wenn man kann!«
Die Tochter bat:
»Bitte, Mama, sprich nicht davon!«
»Davon will ich ja auch gar nicht reden, ich will von ganz anderm sprechen. Du sagtest, Robert wäre nett; ist er noch gegen dich wie früher? Seid ihr noch immer so gute Kameraden?«
»Gewiß!«
Forschend fragte die Mutter:
»Weißt du noch, wie er dir früher Bonbons brachte und Blumen? Das tut er doch nicht mehr?«
Denise seufzte ein wenig:
»Nein, aber das brauche ich auch nicht. Wozu? Er geht mich ja nichts an, er ist ja nichts als Renés Freund.«
Frau de Verneuil grüßte eine Bekannte, dann fragte sie ganz unvermittelt:
»Nun, Denise, was denkst du denn von dem?«
Denises Gesicht überflog ein purpurner Schimmer:
»Wie meinst du das?«
Die Mutter, die seinerzeit auf gegenseitiges Familienübereinkommen mit Herrn de Verneuil verheiratet worden, und die, obwohl sie jetzt wieder den Frieden erlangt hatte, in ihrer Ehe schon recht unglücklich gewesen war, hatte sich geschworen, es ihrer Tochter nicht so widerfahren zu lassen, wie es ihr ergangen war. So fragte sie geradezu:
»Nun, du wolltest doch einen Mann haben! Was meinst du zu Robert?«
Denise fuhr erschrocken zusammen. Sie wollte eigentlich nein sagen, doch die Mutter redete ihr freundschaftlich zu und sie, die sonst Denise gegenüber etwas Strenges hatte, – ein ganz anderes Verhältnis als zu ihrem Sohn – zog ihrer Tochter kleine Hand aus dem Muff, spielte mit ihren Fingern, lehnte sich an ihre Schulter, während sie jetzt dem See zufuhren und die Zahl der Bekannten abnahm. Sie sprach auf Denise ein: sie müßte nun doch mal an die Ehe denken, und sie sollte, damit die Mutter ihre Interessen wahren könnte, einfach sagen, was sie wünschte. Wenn nun Robert in Frage käme, würde sie zufrieden damit sein?
Da antwortete Denise, indem sie denselben naiven, ruhigen Ton wiederfand, in dem sie heute beim Frühstück kindlich gebeten hatte, sie wolle einen Mann haben:
»Robert, ja!«
Ein paar Augenblicke darauf gab Frau de Verneuil durch das Sprachrohr dem Kutscher den Befehl, zur Stadt zurückzukehren, und zeitiger als sonst fuhren sie wieder dem Triumphbogen zu, der, augenblendend von den Sonnenstrahlen umspielt, wie ein gewaltiges Eingangstor zu der Eleganz und Schönheit der Weltstadt dalag.
Als es die Champs Elysses hinunterging und die breite stolze Avenue vor ihnen lag, noch schöner vielleicht als vor einer halben Stunde, da sie hinaufgefahren waren – denn man konnte nun das Heer der ungezählten Wagen bis zur Place de la Concorde hinunter verfolgen –, erschien Denise das Bild, das sie sonst in seiner Beweglichkeit beängstigend gefunden hatte, doch nicht ohne Reiz, als wäre sie durch die Frage der Mutter mit Paris schon etwas versöhnt worden.
Herr de Verneuil hatte René noch einmal ins Gebet genommen und ihn unter vier Augen, nicht wie ein Vater den Sohn, sondern wie ein älterer erfahrener Mann den jungen lebenslustigen Freund gefragt, ob es denn wirklich mit Roberts Leichtsinn so schlimm wäre.
René befand sich in schwieriger Lage. Robert war sein Busenfreund, sie trafen sich täglich, sie gingen ins Theater, in den Zirkus, in die Vergnügungslokale. Sie gehörten beide demselben Cercle an, einem andern als der Vater, und alles, was René etwa Nachteiliges über den Freund gesagt hätte, wäre zum guten Teil auf ihn selbst zurückgefallen. René stellte sich aber gern als soliden jungen Mann dar. So gab er schließlich seinem Vater eine befriedigende Auskunft.
Nun ward ihm der Auftrag, seinem Freunde nahezulegen, sich doch mal Denise etwas näher anzusehen.
Da wurde denn Robert de la Caille eines Tages unvermutet von René zum Frühstück mitgebracht, und sein erster Blick fiel auf Denise. Er beobachtete sie, während sie im Salon warteten, daß der Diener der Frau des Hauses melden sollte, es sei angerichtet.
Er saß bei Tisch neben ihr, und wenn er schon für alle erzählte, wandte er sich doch stets zu seiner Nachbarin, als gelte es ihr besonders. Es wurde in Anbetracht der Anwesenheit des jungen Mädchens ein anderer Ton angeschlagen als wohl sonst, und auch von Dingen gesprochen, die ihr näher lagen. Robert fragte nach den frommen Schwestern, und wie es Denise im Kloster ergangen sei. Das Mädchen antwortete ihm, nachdem die erste Verlegenheit überwunden war, unbefangen auf alle Fragen und lachte mit ihm, als er daran erinnerte, wie er ihr früher Blumen gebracht hatte.
Nach Tisch, als sie wieder in den Salon hinübergegangen waren und er einen Augenblick mit ihr allein am Fenster stand, sagte der hübsche, elegante Mensch so von ungefähr: »Wissen Sie denn auch wohl, daß Sie eigentlich eine alte Liebe von mir sind? Oh, Sie brauchen sich nicht zu ärgern, es war ja eine Kinderei, ich war damals Schüler und Sie waren ein ganz, ganz kleines Mädchen. Aber ich kann Ihnen nur sagen, ich habe die Blumen jedesmal an die Lippen gedrückt, ehe ich sie Ihnen schenkte.«
Denise meinte lachend in ihrer entschiedenen sichern Art, die sie auch im Verkehr mit jungen Leuten hatte, wenn nicht gerade die Eltern zuhörten:
»Das wird ja den Blumen nichts geschadet haben!«
Er fragte:
»Haben Sie es denn geahnt?«
Sie blitzte ihn an:
»Nein, sonst hätte ich sie nicht angenommen!«
Er legte bedauernd die Hände zusammen: »Oh, oh, so hart sind Sie?«
»Ich war es!«
»Und heute?«
»Ich weiß nicht!«
»Wir wollen mal sehen! Das nächste Mal bringe ich Ihnen Blumen mit!«
Sie wurden unterbrochen, und Robert, der meinte, sein Besuch hätte lange genug gedauert, empfahl sich mit ein paar artigen Worten.
An einem der nächsten Tage kam er abends zum Diner, dabei brachte er ein paar weiße Rosen mit und unversehens drückte er einen Kuß darauf, ehe er sie Denise überreichte. Dann sagte er:
»Ich habe eine große Bitte, schenken Sie mir eine dieser Rosen!«
Sie löste eine kleine Knospe heraus. Er fragte:
»Duften sie schön?«
Denise verstand, und während sie, um nicht Antwort zu geben, sich auf die Blumen niederbeugte, war es, als berührten auch ihre Lippen die kühlen frischen Blätter.
René hatte bereits mit seinem Freunde gesprochen und auch mit Herrn de Verneuil eine Unterredung gehabt. Man war einig geworden, und Robert konnte jetzt, noch ehe es zu Tisch ging, Denises Vater mitteilen, er glaube, sie wäre einverstanden. Er sagte das mit so strahlender Miene, daß Herr de Verneuil ganz gerührt war, denn er meinte, an dem Glück des jungen Mannes und damit des jungen Paares nicht zweifeln zu können.
Während der Mahlzeit wurde zuerst noch nichts davon laut. Doch beim Nachtisch erhob plötzlich Herr de Verneuil sein Glas, in dem der Champagner schäumte, und sagte zu den wenigen Anwesenden, nur Verwandten:
»Ich bitte Sie, auf das Wohl des jüngsten Brautpaares zu trinken!«
Alle hatten es geahnt, keiner wunderte sich auch nur einen Augenblick. Man hob die Kelche gegeneinander, leerte sie, und die Verlobung war besiegelt.