Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

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XIV.

Als Denisens Droschke vor dem Hotel ihrer Eltern hielt, lag die Straße noch verschlafen, ohne Leben da. Nur aus den Diensteingängen der Häuser kam hier und da ein Mädchen, das etwas zu besorgen hatte; ein kleiner Wagen hielt, der häusliche Bedürfnisse vom Lieferanten brachte.

Denise trat ein. Der alte Diener, der noch nicht die Livree trug, sondern eine Ärmelweste und die Schürze, einen Teppichklopfer in der Hand haltend, fuhr ganz erschrocken zurück:

»Nein, aber so was, ist denn das möglich? Die gnädige Frau?« Aber Denise senkte die Augen, preßte die Lippen aufeinander und fragte nur:

»Ist Mama auf?«

»Gnädige Frau schläft noch.«

»Und Papa?«

»Es hat noch niemand geklingelt.«

Denise, die an das frühere Aufstehen auf dem Lande gewöhnt war, mußte sich erst hineinversetzen, daß vielleicht gestern Abend ein Diner gewesen war oder eine Vorstellung in der Oper, und daß ihre Eltern nun ausschliefen. Sie wurde in den kleinen Salon geführt; der Diener schloß die Fenster, schob noch schnell die Möbel zurecht, nahm ein Tuch von der Lehne des Fauteuils, eine Möbelbürste vom Sofa, dann sagte er:

»Gnädige Frau, einen Augenblick, ich werde mal fragen.«

Denise blieb in dem kühlen, noch nicht fertig aufgeräumten Raum fröstelnd stehen, fröstelnd bis ins Herz hinein, denn sie hatte sich dies Willkommen ganz anders ausgemalt. Sie hatte gedacht, sie wollte ihrer Mutter an die Brust sinken, sie wollte, von ihres Vaters Arm umschlungen, Entschädigung finden für das, was ihr geschehen war, Ruhe für ihren zerstückten Sinn, ihr zerbrochenes Herz. Und es war nicht rein gemacht in den Zimmern, und es war kalt, und die Eltern schliefen.

Es dauerte eine ganze Weile, endlich kam der Diener zurück:

»Die Herrschaften lassen gnädiger Frau sagen, sie möge warten, es würde eine Weile dauern.

Dann blieb er stehen, indem er an seiner Schürze zog, und es war, als wollte er fragen: ›Was ist denn geschehen? Weshalb steht denn unsere Denise hier?‹

Endlich wagte er es:

»Gnädige Frau sind ja so unerwartet gekommen? Der gnädige Herr ist ganz erschrocken! Vielleicht könnte ich etwas sagen zur Vorbereitung?«

Denise antwortete nur: »Ich werde es selbst sagen.«

Der Diener zog sich zurück. Es verging eine halbe Stunde, eine Stunde, und bei diesem Warten erschien Denise plötzlich alles ganz anders. Sie fand ihren Schritt von gestern abend, nach La Bergerie zu laufen, unüberlegt; ganz langsam schlich sich ihr die Erkenntnis in die Seele, die sie in ihrer ersten Erregung, in ihrer Enttäuschung nicht gefunden hatte, daß Henris Haltung möglich, vielleicht sogar verständlich war. Er hatte recht, daß er sich dort nicht mit ihr zeigen durfte; er hatte recht, sie konnte nicht die Nacht dableiben. Allmählich gewann sein Bild wärmere Farben, und je länger sie wartete, je erkältender ihr der Empfang bei den Eltern erschien, desto mehr neigte sich ihre hin und her geworfene Seele, ihr armes, verzweifeltes Herz dem Gedanken und der Hoffnung zu, daß Henri doch noch ihre Hilfe sein könnte.

Ihr künftiges Leben stand vor ihr: sie würde die Scheidung von Robert abwarten: ihre kleine Lucy mußte kommen; mit dem Kinde würde sie dann ein Jahr lang hier ruhig bei den Eltern leben, keinen Menschen sehen, nur des Kindes Erziehung überwachen, von früh bis abends, bis endlich, endlich die Stunde schlug, die sie mit Henri vereinte.

Während sie noch in ihren Gedanken war, wurde die Tür aufgerissen, und Frau de Verneuil trat ein. Sie hatte ein Morgenkleid mit schönem Spitzenbehang übergeworfen und sah etwas müde und verstört aus. Sie war noch nicht frisiert. Das machte sie älter. Sie blieb an der Tür stehen, und Denisens erster Eindruck war: ›Herrgott! Hat die Mama sich verändert!‹ Es war der Morgen, es war der fehlende Anzug, und es waren Wohl auch die drei Jahre, die dahingegangen waren, und die bei dem Lebensalter, in dem sich die Mutter befand, viel bedeuteten. Über dieser Betrachtung kam Denise, so seltsam es ihr schien, gar nicht dazu, den Ernst der Lage zu erfassen. Frau de Verneuil aber schlug die Hände zusammen:

»Um Gottes willen, um Gottes willen, Kind, was ist denn geschehen?«

Denise ging ihr entgegen und sagte ganz ruhig:

»Ich bin meinem Manne davongelaufen.«

Frau de Verneuil stieß einen Schrei aus, sie zog ihre Tochter aufs Sofa:

»Laß mich erst mal mich erholen. Was stellst du denn nur für Geschichten an!«

Und statt sich erzählen zu lassen, redete sie selbst:

»Aber bitte, liebes Kind, was denkst du dir denn eigentlich? Übrigens mußt du sofort wieder zurück! Papa wird dich schon hinbringen! Hat dich denn dein Mann schlecht behandelt? Was ist denn geschehen? Du kommst hier am frühen Morgen an, du rüttelst einen aus dem Schlaf und dann sagst du ganz einfach: ›Ich bin meinem Manne davongelaufen!‹ Ja, das geht doch nicht so! Wenn ich mir denke, ich würde einfach kommen und sagen: ›Ich bin Papa davongelaufen!‹ Herrgott, Herrgott nochmal, so etwas überlegt man sich doch!«

Denise unterbrach sie:

»Ich hatte keine Zeit, es mir zu überlegen.«

»Aber man überlegt sich's doch! Du kannst doch nicht einfach so fortlaufen! Das ist nun einmal im Leben nicht so. Du hast immer alles wie eine Spielerei aufgefaßt! Das Leben ist ernst, ist schrecklich ernst.«

Und die Frau, die nie den wirklichen Ernst des Daseins erfahren hatte, machte ein Gesicht wie ein alter Philosoph.

Da kam Herr de Verneuil. Er war vollkommen angezogen, er hatte sich Zeit genommen, sich zu rasieren, denn er zeigte sich nie anders. Er ging auf Denise zu, aber bei den letzten Worten, die er eben gehört hatte, blieb er wie angewurzelt stehen. Er streckte keine Hand nach seinem Kinde aus, er rief nur: »Denise! Denise!« »Da kommst du einem einfach so wieder ins Haus, und bald fünf Jahre bist du jetzt verheiratet, und nun bist du, bums, wieder da, und das alles soll gar nicht mehr sein, das ist ausgelöscht und weg? Nein, nein, so geht das doch nicht. Was hast du denn überhaupt für einen Begriff von der Welt?«

Aber Denise rief:

»Ich kehre nicht zu meinem Manne zurück.«

»Ja, das ist ganz gut, aber was geht am Ende uns das an? Du hast deine Mitgift bekommen, dein Geld ist weg, du bist verheiratet, du bist deinem Manne angetraut nach göttlichem und menschlichem Gesetz. Da läuft man doch nicht einfach so fort! Das hättest du dir früher überlegen müssen, das hättest du mir vor fünf Jahren sagen können, aber nicht jetzt. Nicht wahr, ich soll einfach nach fünf Jahren, nachdem das ganze Geld aufgegessen ist, und du eine Tochter in die Welt gesetzt hast, dich wieder so zurücknehmen, so – so wie man im Laden was umtauscht. Nein, nein, das sind ja alles Träumereien. Na also, die Sache wird ja schon wieder gut werden! Es renkt sich im Leben alles wieder ein! Das ist vielleicht mal für den Augenblick, ihr habt euch gezankt und...«

Denise unterbrach ihn abermals. Sie erzählte in atemloser Schnelligkeit, in der Befürchtung, Vater und Mutter könnten etwas dazwischenwerfen, all ihr Leid: wie sie behandelt worden war und schmählich hintergangen, wie sie ein Leben der Trauer in diesem elenden Montmidi geführt hatte. Sie erzählte, wie sie Henri d'Hautecourt kennengelernt, wie sie gegenseitig Gefallen aneinander gefunden hatten, wie sie ihn liebe, und sie schloß damit, daß sie ihn heiraten würde.

Herr de Verneuil lief im Zimmer wie rasend auf und ab. Frau de Verneuil aber nahm ihr Taschentuch, tupfte sich die Augen, begann schließlich laut zu schluchzen und stöhnte:

»Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Und das muß gerade jetzt kommen, wo René alles dransetzt, die Partie zu machen!« Herr de Verneuil hatte daran noch nicht einmal gedacht und rief jetzt wütend:

»Denise, einen dümmeren Zeitpunkt hättest du dazu wohl nicht wählen können! Du verdirbst deinem Bruder die ganze Sache, und das will ich dir nur noch sagen, diese – nennen wir sie meinetwegen scheinheilig – aber diese Familie, deren Tochter er haben will, hält aufs Äußere! Neulich hat mir noch mit einer gewissen Beziehung Renés hoffentlich zukünftige Schwiegermutter gesagt, in ihrer Familie wäre Gott sei Dank nichts, dessen sie sich zu schämen hätten, kein Mitglied, das nicht etwas Hervorragendes leiste – wenn es auch vielleicht gar nicht so hervorragend ist und die gute Frau es sich nur einbildet! Aber was nun, Denise, wenn wir jetzt mit einem Skandal kommen? Und der Skandal, mein Gott, mein Gott, der ist ja schon da!«

Er wandte sich an seine Frau, die eine verneinende Bewegung gemacht hatte:

»Gewiß, Lucy, er ist da! Ich sage, er ist schon da! Denn so etwas redet sich doch herum, das gibt eine furchtbare Geschichte. Man hat sie fahren sehen, man hat sie ankommen sehen, die Leute dort werden reden – es gibt doch auch Nachbarn – die werden sich schon darüber aufhalten!«

Er wurde plötzlich so heftig, wie Denise ihren Vater noch nie gesehen hatte. Er zitterte, eine dicke Ader schwoll ihm von der Nasenwurzel bis zum Haar hinauf, er redete sich immer mehr in die Wut hinein, er wußte bald gar nicht mehr, was er sprach. Er machte Denise verantwortlich für alle Folgen, er sah schon voraus, daß aus der Partie von René nichts werden würde, und er erklärte, das Mädchen hätte zweieinhalb Millionen Mitgift und würde später mindestens genau dasselbe noch einmal bekommen. Denise könnte nur jetzt den Schaden ersetzen.

Dabei lief er wie ein Wüterich auf und ab, während Denise still und stumm auf dem Sofa neben ihrer Mutter sitzen blieb, deren Tränen immer reichlicher flossen, und die schließlich in den Ausruf ausbrach:

»Denise, du bist unser Unglück! Wirklich unser Unglück! Man hat auch gar keine Freude an seinen Kindern!«

Denise wurde, je mehr der Zorn ihres Vaters wuchs, je stärker die Tränen ihrer Mutter rannen, desto stiller, verschlossener und eisiger, und mit einem Male stand sie auf, angesichts aller dieser Selbstsucht um sie herum, und sagte ganz ruhig zu ihrem Vater:

»Papa, ich will euch nicht belästigen, ich will niemand stören, ich will Renés Zukunft nicht gefährden! Habt nur keine Angst! Er mag sich verloben, er mag seine Millionen einheimsen, er mag tun, was er will, ich brauche euch nicht, ich werde mein Leben auch allein in Ordnung bringen. Aber eins brauche ich, allerdings nur für den Augenblick. Es ist mir peinlich, es sagen zu müssen, und es demütigt mich: ich muß nämlich Geld haben, Geld, denn ich habe mir meine Fahrkarte hierher vom Stationsvorstand geborgt, und den Betrag will ich ihm zurückschicken. Und dann muß ich auch für den Augenblick etwas haben, um zu leben, nur für den Augenblick, hörst du? Da ich doch einmal noch etwas von euch bekommen werde, so ist wohl keine Gefahr dabei. Also ich bitte dich, Papa, gib mir eine Summe, und ich sage dir gleich, nicht zu klein, denn ich würde mich schämen, noch einmal zu bitten. Gib mir ein paar tausend Frank, gib sie mir im voraus von meinem Erbe. Du bekommst sie zurück, du bekommst sie heilig und wahrhaftig zurück. An Henri kann ich mich doch nicht wenden, und meinen Mann, der mein Mann nicht mehr ist, dem kann ich es nicht sagen; da bleibt mir eben nichts als meine Eltern. Also gib mir Geld, und ich will keinem Menschen mehr im Wege stehen.«

Herr de Verneuil war so erstaunt, daß ihm der Mund offen stehen blieb. Was Denise eigentlich hätte antworten sollen und was werden sollte, wußte er selbst nicht, aber bei dieser Lösung war er sprachlos.

Wenn seine Wut ein paar Augenblicke nachgelassen hatte, so stieg sie plötzlich wieder in einer jähen Aufwallung empor. Er zitterte, daß es ihn schüttelte, und rief mit einer tragischen Gebärde, indem er fortwährend die rechte Hand ausstreckte und Zeige- und Mittelfinger beben ließ:

»Gut, mein Kind! Gut, mein Kind, wie du willst! Wie du willst! Also du sollst Geld haben! Das ist eine nette Manier! Du forderst also dein Erbe, ehe wir noch gestorben sind! Nun, wir leben immer noch, und wir lassen uns nicht durch die Dummheiten einer entarteten Tochter unser Dasein verbittern! Und deinem Bruder lassen wir nicht seine Zukunft und alles vernichten, das hast du richtig erkannt. Die Abschlagszahlung auf dein Erbe sollst du aber haben.«

Nun trat er zurück, öffnete die Tür, ging wieder ein paar Schritte rückwärts, und mit derselben Handbewegung, während abermals Zeige- und Mittelfinger zitterten, wie die Blätter an einem Baum, die ein scharfer Lufthauch hin und her weht, stieß er hervor:

»Nur eins noch, das fordert unser Ruf: geh, halte nun auch Wort, störe uns nicht weiter! Ich verbiete dir hierdurch mein Haus. Mein Ehrenwort: du kommst in deinem Leben nicht wieder über diese Schwelle!«

Dann rannte er spornstreichs hinaus in sein Zimmer, um Geld zu holen, und in seinem sinnlosen Zorn nahm er aus seinem Schreibtisch einen ganzen Stoß von Tausend- und Fünfhundert-Frankenscheinen, die er am Abend vorher im Klub umgesetzt hatte; er griff aufs Geratewohl hinein, daß er ein ganzes Bündel in der Hand hatte und nur ein kleiner Teil liegen blieb. Er stieß das Fach zu und rannte zurück in den kleinen Salon, wo Denise noch regungslos stand, während ihre Mutter schluchzend auf dem Sofa saß. Er drückte ihr das Geld in die Hand, und Denise nahm es und antwortete ganz ruhig, immer eisiger werdend, je höher der Zorn ihres Vaters stieg:

»Ich danke dir, Papa, ich werde dir eine Quittung schicken.«

Die Banknoten in der Hand, lief sie fort, rannte die Treppe hinunter, unten am Pförtner vorbei, der eben den Hausflur reinigte, durch das offene Tor hinaus aus dem Hause ihrer Eltern, wo sie nichts zurückließ als die Decke des Stationsvorstehers von Montmidi, die sie in der Aufregung vergessen halte.


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