Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

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X.

Die Wintertage schlichen wieder öde und traurig hin. Robert war seltsam verändert: er beachtete Denise gar nicht mehr, sprach kaum ein Wort mit ihr.

Er war beinahe nie mehr zu Hause. Früh schon verschwand er, zum Frühstück kehrte er heim, und nachmittags ging er wieder davon. Die Komödie mit der Jagd schien er nicht weiterspielen zu wollen, er nahm jetzt einfach einen Stock zur Hand.

Da kam Denise eines Tages auf den Gedanken, zu sehen, was er triebe. Eine Ahnung stieg in ihr auf, es könnte irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugehen.

Aber wie sollte sie es anfangen? Ihm nachgehen? Das hätte er bald bemerkt. Das einfachste wäre gewesen, irgend jemand zu fragen. Sie dachte an den Krämer im Ort, wo sie einkaufte, an den Küster, und einen Augenblick kam ihr sogar die Idee, sich dem Herrn Pfarrer anzuvertrauen. Aber dann wieder verwarf sie das alles: sie war zu stolz, einem Fremden Einblick in ihr häusliches Leid zu gewähren. Nein, was sie tat, mußte sie selber tun.

Sie fand es ihrer unwürdig, zu spionieren, doch sie wußte sich nicht anders zu helfen. Sie durchsuchte also einmal seine Taschen, in der unbestimmten Idee, es könnte sich eine Spur finden, aber sie entdeckte nichts. Sie merkte sich die Richtung, in der er immer davonging, aber das half ihr zu nichts.

Da dachte sie, worauf sie bisher noch gar nicht gekommen war, plötzlich an früheren Kummer, den ihr Vater ihrer Mutter gemacht hatte. Als Kind hatte sie hier und da etwas gemerkt. Sie las in den Zeitungen Romane, deren Triebfeder beinahe immer die Liebe war. Und das alles zusammen brachte sie auf den Gedanken: dahinter steckt eine Frau!

Mit weiblicher Beharrlichkeit ging sie nun daran, herauszufinden, wer es sei. Sie nahm sich Zeit, sie wollte es nicht erzwingen. Ein Zufall mußte es geben. Er würde sich schon verraten.

Unwillkürlich verlor sie, da sie ihn fortwährend bespähte, die naive Unbefangenheit ihres Wesens. Sie begann Komödie zu spielen, zuerst wenig, schließlich immer mehr. Sie zwang sich, freundlich gegen ihn zu sein, gab ihr Schweigen auf, ihre dumpfe Teilnahmslosigkeit. Sie fragte ihn vorsichtig, ob er wieder im Walde etwas gesehen hätte? Wenn er unangenehm war, machte sie ein gleichgültiges Gesicht. Seine kurzen, groben Worte steckte sie lächelnd ein. Sie gewann die Kraft, alles zu erdulden in dem Gedanken, der sie fortan nur noch beseelte: die Wahrheit zu erforschen.

Sein natürliches Bedürfnis, schwatzen zu müssen, half ihr dabei, und bei der neuen Art, wie sie gegen ihn war, begann er sich allmählich zu verändern, verlor seine Einsilbigkeit und wurde wieder freundlich. Freundlich, nicht herzlich. Er betrachtete sie mehr wie einen gleichgültigen Menschen, dem man allerlei erzählen kann, weil man sicher ist, daß er nicht weiter davon spricht. Und da er nicht mehr die Sorge hatte, sie möchte Liebe von ihm verlangen, da sie so gemessen blieb wie er, bahnte sich allmählich, als der Frühling wieder nach Montmidi kam, ein erträgliches Verhältnis an.

Er erzählte von seinen Spaziergängen, von einem Bachlauf, der sehr hübsch wäre, von einer Stelle im Wald, wo man zu gewissen Stunden das Wild austreten sähe.

Geduldig hörte Denise zu, und eines Tages, als ihn jetzt wieder der Garten beschäftigte, der seine alte Anziehungskraft auf ihn ausübte, ging sie seinen Beschreibungen nach. Sie fand den Bach, fand die Stelle, wo das Wild austrat; aber kein Haus war in der Nähe, kein Wohnort, der sie auf eine Spur hätte führen können.

Doch das entmutigte sie nicht. Sie hatte in ihrem durch nichts bewegten eintönigen Leben Zeit, Zeit, unendlich viel Zeit.

Sie achtete auf seinen Geschmack. Er sprach von einer klapperdürren Frau, die manchmal im Garten mit half, und hielt eine förmliche Vorlesung darüber, wie sonderbar es wäre, daß durch das angestrengte Arbeiten auf dem Acker der Körper gar kein Fett ansetzen könnte.

Er fand die Magerkeit schrecklich, und als er einmal ein Mädchen aus dem Dorfe abfaßte, das nachts im Garten Rosenkohl gestohlen hatte, tat es ihm leid, sie anzeigen zu müssen: es wäre so ein hübsches Ding.

Denise fragte, wie sie aussähe. Er erklärte mit einem gewissen Wohlgefallen:

»Drall, dick und rund.«

Denise hatte sofort das Gefühl: ›Das gefällt ihm.‹ Und sie sagte, um ihn zu einer neuen Äußerung zu reizen: »Allzu stark macht leicht gemein. Nun, es ist ja eine Bauerndirne!«

Da sprach er plötzlich von Paris. Er redete, wie ein Mönch von seiner Weltzeit spricht, verächtlich, naserümpfend. Er verwarf alle die bemalten und gepuderten Frauen, diese gemachten Figuren, die der Mode entsprechend möglichst schlank sein wollten. Er sagte:

»Der wirklich Weise kann keinen Gefallen finden an all dem Luxus, dem Stadttrubel. Da hängen sich diese Weiber nun voll mit Kleidern, die Tausende von Franken kosten, und ein einfaches, gewöhnliches Bauernmädchen mit rundem Busen und roten Backen, mit frischer Hautfarbe, gesund und gebräunt von Luft und Licht, schlägt sie doch tausendmal.«

Er wurde ganz begeistert dabei. Er hatte schon einmal in leisen Andeutungen von seinem früheren Leben in Paris gesprochen, jetzt schalt er sich dumm und töricht, je an die Stadt gedacht zu haben. Das kränkendste für Denise war dabei, daß er eine Theorie aufstellte, als ob eigentlich jede Frau von besserer Herkunft ein schlechtes Geschöpf sei, anspruchsvoll, teuer und dabei doch mit einem gewöhnlichen Mädchen nicht zu vergleichen.

Sie hörte ihm ruhig zu und machte geschickt Einwürfe, um ihn zu weiterm Reden zu veranlassen. Aber als er an diesem Abend zu Bett ging, kurz darauf tief und ruhig wie immer schlief, blieb sie noch lange wach, starrte unausgesetzt von ihrem Lager zur Decke, und sie sagte sich wie mit toter Gewißheit: ›Wenn es eine Frau ist, ist es eine Bauerndirne!‹

Immer freundlicher ward Denise nun gegen ihren Mann, immer unbefangener, so daß sie sich manchmal ganz gut unterhielten. Er ließ sich gehen. Er redete oft in Ausdrücken, wie sie die Bauern gebrauchten, er fand Spaß an gewöhnlichen Worten, die er zum Scherz sagte. Dabei kam Denise immer die Frage: ›Wo hat er das her?‹ Er, einst der elegante Stadtmensch, hätte sonst nie so etwas über die Lippen gebracht. Es waren keine Worte des Pariser Argot, sondern Bauernausdrücke, die ihr jetzt hier und da im Dorf beim Bäcker, beim Fleischer auffielen, während sie sie doch wahrscheinlich seit Jahren schon vernommen, aber nicht beachtet hatte.

Einmal fragte Denise die Amme, was ein Wort hieße, das sie von ihrem Manne gehört hatte. Die lachte laut auf und erklärte es ihr. Es war ein sehr gewöhnlicher Ausdruck, so daß Denise errötete. Als wollte sie sich entschuldigen, sagte sie:

»Ich habe es bei der Gartenarbeit gehört, ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat.«

Da meinte die Amme grinsend:

»Der gnädige Herr sagt's auch.«

Denise antwortete:

»Das ist möglich.«

Sie wandte sich ab, um mit der kleinen Lucy zu spielen, die sie ablenken wollte, denn das Kind war klug und schnappte alles auf.

Aber es quälte sie immer wieder, und sie begann am nächsten Tage abermals, davon mit der Amme zu sprechen. Sie sagte, ihr Mann hätte doch gar keinen Verkehr, wo er denn da einen solchen Ausdruck herhaben könnte? Dabei wagte sie die Frau gar nicht anzusehen.

Dann benutzte Denise den Umstand, daß Louis und seine Frau die Amme verdächtigt hatten, Klatsch gemacht zu haben, und daß die beiden seitdem zusammen nur noch das Notwendigste redeten. Darum sagte sie:

»Er hat es wahrscheinlich von Louis gehört, der ist nicht immer sehr gewählt in seinen Ausdrücken.«

Die Amme grinste wieder, und während sie die Wäsche der kleinen Lucy zusammenlegte, die sie eben vom Bügeln gebracht hatte, brummte sie vor sich hin: »Es ist einer wie der andere, die stecken unter einer Decke.«

Denise griff es auf:

»Wie meinen Sie das?«

Aber die Amme nahm die Wäsche, um sie in den Schrank zu tun, und ging davon.

Denise lief ihr nach, packte sie beim Arm und drehte sie herum:

»Célestine, so entgehen Sie mir nicht. Jetzt sagen Sie sofort, was Sie damit gemeint haben!«

Die Amme machte ein muffiges Gesicht:

»Herrgott, wie man so redet.«

»Nein, nicht wie man so redet, ich verlange Antwort.«

Aber es war nichts aus ihr herauszubekommen, sie sagte nur:

»Nicht wahr, damit ich noch mehr Ärger habe und meine Stelle verliere.«

Davor hatte sie große Angst, denn als Amme konnte sie ja nicht mehr gehen, und zur Tagelöhnerarbeit zurückzukehren, dazu fühlte sie sich jetzt zu sehr verwöhnt.

Denise schloß das Zimmer ab und erklärte:

»Célestine, ich lasse Sie nicht eher fort, bis Sie mir reinen Wein eingeschenkt haben.«

Doch die Amme beschäftigte sich weiter mit ihrer Wäsche, zählte unausgesetzt die Hemden vor- und rückwärts und schien nicht geneigt, eine Antwort zu geben.

Denise ging ans Fenster, den Schlüssel in der Hand und sagte ruhig:

»Ich habe Zeit.«

Dann blickte sie hinaus nach der kleinen Lucy, die auf ihrem Sandhaufen mit einer zerbrochenen alten Holzform Häufchen machte. Seit einer Stunde schon, denn sie war ein gutes, bescheidenes, stilles Kind.

Es verging eine Minute nach der andern, die Amme gab keine Antwort. Schließlich bat sie ihre Herrin, sie möchte sie doch hinauslassen, sie müßte zur Kleinen; aber sie wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.

Da nahm Denise die Frau bei den Armen, zog sie an sich, ließ die Hände über ihre Schultern und den Hals zum Kopf hinauf gleiten, hielt sie fest wie in einem Schraubstock, daß Célestine sie anblicken mußte, und dann sagte sie ernst und entschieden, sie sollte doch vernünftig sein und sagen, was sie wüßte. Unter keinen Umständen ließe sie sie los, und wenn sie den ganzen Tag und die ganze Nacht hierbleiben sollten. Dabei versprach sie ihr, was sie gehört, keinem andern Menschen mitzuteilen. Ja, sie hob in ihrer Verzweiflung die Hand wie zu einem Eide.

Endlich traten Célestine die Tränen in die Augen, sie schluchzte, erklärte, sie wäre nicht schlecht, täte niemand etwas Böses, und um Gottes willen dürfe kein Mensch erfahren, was sie jetzt sage. Es wäre ja auch gar nichts weiter, ihr Mann wäre ja auch nicht anders und dabei doch ein ganz braver Mann gewesen. Schließlich kam es unter Stocken und Zögern und Weinen heraus: ›den Ausdruck müßte der gnädige Herr drüben aus dem Dorfe haben.‹

Bei diesem ›drüben aus dem Dorfe‹ blieb es lange, während Denise ihr immer versicherte, sie würde nicht böse sein, sie wollte nur wissen, was sie damit meinte. Schließlich erzählte Célestine, Robert besuche jeden Tag ein Mädchen drüben in Charenton. Ihren Namen behauptete sie nicht zu kennen, aber man brauchte ja nur zu fragen. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern. Allmählich kam heraus, Louis und seine Frau wären die Vermittler gewesen und hätten den gnädigen Herrn daher in ihrer Hand. Célestine schloß mit den Worten:

»Aber um Gottes willen, gnädige Frau, nicht wahr, Sie sagen nichts. Ich will nicht schuld sein, und der gnädige Herr meint es vielleicht gar nicht so schlimm. Mein Mann war doch so gut, und mit der Marie Dubois hat er es doch gehalten. Ich hab's ihm ja freilich ausgetrieben. Man muß die Männer nur mal tüchtig vornehmen. Das sollten Sie auch tun!«

Sie streckte ihre kräftigen Arme, ballte die Fäuste, daß man ahnte, wie sie wohl imstande gewesen, ihrem Manne handgreiflich seine Seitensprünge auszutreiben.

Denise ließ Célestine los. Man sah keine Bewegung in ihrem Gesicht, sie preßte nur die Lippen aufeinander und sagte:

»Es ist gut! Es ist gut! Ich will nichts weiter wissen. Es ist gut.«

Aber die Amme bereute es jetzt, daß sie überhaupt etwas gesagt hatte. Sie fürchtete, man möchte sie nun wegschicken, darum flehte sie:

»Aber, gnädige Frau, nicht wahr, Sie lassen es mich nicht entgelten? Eine arme Frau wie ich! Glauben Sie mir nur, daß ich an meiner Stelle hänge! Ich bin Ihnen so treu, Sie glauben nicht, wie! Ich bin sehr gern bei Ihnen, und ich ginge gleich ins Wasser, wenn ich fort müßte. Nicht wahr, gnädige Frau, Sie sind mir nicht böse?«

Denise machte eine abwehrende Bewegung:

»Célestine, Sie sind ein gutes Mädchen.«

Es kam gepreßt heraus, abgerissen. Sie nahm den Schlüssel, ging an die Tür, öffnete und sagte mit Mühe, denn sie konnte kaum mehr sprechen:

»Sehen Sie einmal nach der Kleinen.«

Die Amme lief davon, froh, dieser Lage entronnen zu sein. Denise schloß die Tür hinter ihr zweimal herum, dann ging sie an das Bettchen ihres Kindes. Dort blieb sie stehen und spielte mit den rosa Vorhängen, die darüber hingen und den Nachmittagsschlaf der Kleinen behüteten. Keine Träne kam ihr, aber alles war in ihr wie zerbrochen, wie tot, vernichtet. Sie konnte keinen Gedanken fassen, sie spielte mit dem Stoff in ihrer Hand; sie wußte nicht, was sie fühlte, wußte nicht, wo sie sich befand; ihr war zu Sinne, als hätte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen, daß ihr das Denken schwer ward. Ab und zu räusperte sie sich, dann ging sie durch das Zimmer und blieb an der Wand stehen, starrte zur Decke und blickte wieder zur Erde. Sie hob die Arme, ließ sie schlaff sinken, als wollte sie sagen: ›Ja, was soll ich denn nun anfangen?‹

Sie setzte sich in einen Stuhl, streckte sich lang aus, schloß die Augen und dachte: ›Ich habe Kopfweh, Kopfweh, nicht zu ertragen!‹ Sie preßte die Handflächen an die Stirn, fuhr wieder auf und fragte sich: ›Was ist denn nur los? Was fehlt mir denn?‹

Dunkel und dumpf nur erschien immer wieder vor ihrem Gedächtnis, was sie eben gehört hatte. Sie versuchte nachzudenken. Wer war diese Person?

Sie wollte ihren Mann zur Rede stellen. Sie richtete sich auf. Sie wollte hinüberlaufen, ihn suchen oder hinunter in den Garten. Sie wollte ihn bei seinem Gewissen packen, ihn aufrütteln, ihn beschimpfen und schmähen, ihn schlagen, ja schlagen, wie Célestine erzählt hatte, daß sie es ihrem Manne getan. Sie ballte die kleinen zarten Hände, aber sie hatte ja keine Kraft, und sie sank in den Stuhl zurück und starrte vor sich hin.

Doch ihr Hirn arbeitete wieder, ihre Gedanken wurden klarer. Es schien ihr, als wäre sie vorhin gelähmt gewesen. Sie meinte, sie müßte verzweifelt sein, und wunderte sich, daß sie es nicht war. Sie meinte, sie müßte weinen, aber sie fand keine Träne. Sie glaubte, sie müßte schreien, hinunterstürzen, ihn angreifen, ihn zur Rede stellen, aber sie blieb regungslos sitzen. Sie wartete auf irgend etwas, etwas Besonderes, etwas Ungeheuerliches. Aber es geschah nichts! Es schwieg alles; nur ab und zu hörte sie unten im Garten das glückliche Lachen ihres Kindes. Da stand sie auf, trat an die Scheiben, blickte hinaus, und nun sah sie die kleine Lucy immer noch geduldig auf derselben Stelle sitzen, wie sie kleine Sandhäufchen machte, umstieß, glättete, wieder zusammenkratzte, um das Werk von neuem zu beginnen. Sie erkannte an der Form des Kopfes, im Strahlen dieser Augen Robert wieder, Zug um Zug, Robert, den Mann, den sie von den ersten Jahren an geliebt, dem sie ihr Lebensschicksal anvertraut, und der sie nun jämmerlich betrogen hatte.

Bei dem Gedanken ballten sich wieder ihre Fäuste, und eine fürchterliche Erbitterung kam über sie. Aber der Sturm ließ abermals nach, sie wurde wieder ruhiger, ganz ruhig. Sie zog sich den Stuhl ans Fenster, stützte die Ellbogen auf und legte das Kinn in die Hände, dann lehnte sie die Stirn gegen die Scheiben. So blieb sie unbeweglich sitzen. Ihr ganzes Dasein zog an ihrem Geiste vorüber: die Erziehung im Kloster, die Heimkehr nach Hause, ihr kindischer, ach, so kindischer Gedanke, sie wollte einen Mann haben. Einen Mann – und das war er nun!

Das Rätsel ihres Lebens stieg vor ihr auf, das Rätsel, das sie nicht faßte, all das Unglück ihres Daseins, die Verkettung von traurigen Umständen, die sie hierher geführt hatte in dies verlassene Zimmer von Montmidi, wo kein Mensch sie sah, sie, die von ihren Eltern doch für die Gesellschaft, für Wohlleben, für Luxus bestimmt war, und die wohl ein Anrecht gehabt hätte auf die Freuden und das Glück dieser Erde. Was war daraus geworden? Sie war eine einsame Frau, mit der ihr Mann nicht sprach, eine Verkümmerte, die sich nach ein wenig Liebe sehnte, die sie nicht empfing, eine Bescheidene, die, ach, mit einem freundlichen Blick nur, schon zufrieden gewesen wäre.

Sie saß hier ohne Geld, einem rüden Bauern überantwortet, der sie um eines gewöhnlichen Mädchens willen verriet. Sie dachte an die Person, die sie nie gesehen hatte, wenigstens nie mit Bewußtsein, deren Namen sie nicht kannte, und eine furchtbare Wut überfiel sie. Nicht gegen ihren Mann, sondern gegen dieses Weib, das ihr das Herz ihres Gatten entführt hatte. Der Gedanke kam ihr: ›Aufstehen! Hinauslaufen nach Charenton und sie suchen, sie schlagen, sie der Verachtung der Menschen preisgeben.‹ Sie wollte zum Bäcker laufen und zum Fleischer und in das Grand-Café, die armselige Kneipe, die sich so nannte, und dort dem Wirt sagen: ›Die ist es, und ihr duldet eine solche Elende unter euch?‹ Sie wollte an die Frauen sich wenden, an die guten, braven, ehrbaren Frauen des Dorfes und wollte ihnen sagen: ›Diese Person hat mir das Herz meines Mannes gestohlen! Wollen wir nicht alle zusammenstehen? Es kann euch doch auch einmal so gehen?‹ Sie wollte all die Bauernweiber zusammentrommeln, die Frauen der kleinen Kaufleute, die Mädchen und Mägde, die Dirnen von den Höfen und wollte ihnen sagen: ›Treibt sie hinaus! Duldet sie nicht unter euch!‹

Aber sie blieb sitzen und regte sich nicht. Sie wußte, sie hätte sich geschämt vor all den Menschen, geschämt, ihren Kummer, ihr Elend, ihre Schmach zu offenbaren. Nein, sie würde ihr nichts tun, wollte sie nicht sehen, ihr nicht die Polizei auf den Hals jagen, wie sie in ihrer ersten Erbitterung gemeint hatte. Sie wollte nicht die Weiber aufhetzen, sie wußte, die hätten sie ausgelacht, denn sie waren genau so, sie mußten ja alle so sein!

Denn was hatte Célestine gesagt, als sie von jener Marie Dubois gesprochen? Nichts weiter als: ›So sind die Männer alle!‹ Sie hatte die Dubois vielleicht geprügelt, sich vergriffen an ihr und ihre Hände beschmutzt. So faßten die Weiber hier das auf, was in die tiefsten Tiefen des Herzens ging! Sie waren beruhigt, wenn sie ihre Männer durch ein paar Ohrfeigen wieder auf den rechten Weg gebracht zu haben glaubten. Daß da jedesmal zwei Menschen einander verloren gehen, daß der sträfliche Gedanke des Mannes die Frau schon ebenso demütigt wie die ausgeführte Tat des Treubruches, das begriff Célestine nicht, das verstanden diese Weiber nicht, die sie, Denise, in ihrer törichten ersten Wallung zu ihrem Schutz hatte aufrufen wollen.

Ein entsetzlicher Ekel überkam sie vor den Menschen, eine Furcht vor dem Leben, ein Grauen vor allem, was es brachte.

Und wieder dachte sie daran, wie sie in Paris an jenem Tage beim Frühstück unter dem Lachen der Eltern und des Bruders gesagt hatte, sie wollte einen Mann haben. Wie ein Kind um eine Puppe bittet. Und wer war der Mann? Robert!

Sie stand auf, sie schüttelte sich, es überlief sie, ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie tupfte sich mit dem kleinen zusammengeballten Taschentuch Mund und Stirn und sagte ganz laut vor sich hin:

»Pfui Teufel!«

Mit ihrem Mann sprach Denise kein Wort über das Vorkommnis. Sie tat keinen Schritt, um zu erfahren, wer dieses Mädchen wäre. Sie ging nicht mehr in den Wald, die Stelle zu suchen, die nach den Erzählungen in Betracht kam, sie schlich Robert nicht nach. Sie zwang sich, wenn er erzählte, zu einem Lächeln, aber jedesmal, wenn sie ihn sah, kam ein unbestimmtes Gefühl über sie: ›Du hast mich betrogen, du bist ein Verräter!‹

Stillschweigend, ohne ein Wort zu verlieren, schaffte sie mit Célestine ein altes Bett vom Boden herab und stellte es im Kinderzimmer auf. Die Amme schlief dafür in einer Bodenkammer. Robert fragte, was das sollte. Sie antwortete:

»Die Kleine bedarf meiner, und ich muß die Sorge für sie allein übernehmen, denn ich denke daran, Célestine einmal fortzuschicken.« Er sah sie kurz an, aber er antwortete nichts. Von diesem Tage ab betrat Denise das gemeinsame Schlafzimmer nicht mehr.

Zuerst war ihr Waschzeug nebenan stehengeblieben, im Toilettenzimmer, einem kleinen, in einem Anbau befindlichen helltapezierten Raum, der durch ein einziges Seitenfensterchen Licht erhielt. Aber bald holte sie ihr Geschirr herüber. Bei Lucy wurde auf eine Kommode eine Serviette gebreitet, dort wusch sie sich jetzt. Kurz darauf entfernte sie auch ihren Toilettentisch aus dem Schlafzimmer, dafür ward der Schrank Célestines auf den Dachboden geräumt.

Das alles taten die beiden Frauen, ohne Louis oder seine Frau zu Hilfe zu rufen. Denise strengte sich an, die schweren Möbel mit der Amme zu schleppen; sie biß die Zähne aufeinander, während sie das Bett trug, und alle zwei Schritte blieb sie stehen und erholte sich von der Anstrengung. Um keinen Preis hätte sie die anderen aufgefordert, ihr zu helfen. Sie fürchtete sich vor den spöttischen oder gar mitleidigen Blicken dieser beiden, die doch offenbar wußten, was Robert trieb.

Denise fühlte sich im Haus wie eine Gefangene. Ihren Dienstboten konnte sie nicht trauen, ihr Mann hatte sie betrogen, nur ein einziges Wesen, Célestine, stand auf ihrer Seite, aber das war eine dumme Bauersfrau, mit der sie nicht viel sprechen konnte.

So ward es Sommer und ward Herbst. Robert war noch einsilbiger als früher, und nur noch selten erzählte er etwas.

Denise war ruhiger geworden. Ihr schien jetzt die Schmach, die ihr Mann ihr angetan hatte, wie etwas Unabänderliches. Sie brauchte sich nicht mehr zu zwingen, seinen karg fließenden Worten zuzustimmen. Sie tat es mechanisch, immer mit denselben Ausdrücken, wenn die einzigen, ewig wiederkehrenden Gesprächsgegenstände abgehandelt wurden: der Zustand des Gartens nach dem Einbruch des Winters, die Wetteraussichten, Roberts Spaziergänge, der Blätterfall im Herbst. Sie begnügte sich mit nichtssagenden Wendungen: ›der Winter wäre traurig, der Frühling würde wieder schön werden, der Sommer brächte wohl reiche Frucht.‹

Das Gespräch zog sich notdürftig hin wie unter Fremden. Sie näherte sich Robert nicht mehr, sie bat nicht mehr um seine Liebe, und sie, die sich mit einem flüchtigen Kuß auf die Stirn am Morgen und am Abend begnügt hatte, wich jetzt sogar zurück, wenn er sich ihr nähern wollte. Seine Lippen hatten eine andere berührt, sie sollten ihr fernbleiben.

Er war es zufrieden, wenn er auch das erstemal, als sie sich wehrte, ein erstauntes Gesicht machte. Jetzt sagten sie sich nur guten Morgen und gute Nacht, oft nicht einmal das.

Eines Tages wiederholte Robert seine Anfrage, ob Denise nicht nach Paris zu ihren Eltern gehen wollte. Er tat dabei freundschaftlicher als sonst, schien sich ihr wieder nähern zu wollen, aber wie er ihr die Hand auf die Schulter legte, fuhr sie zurück, als wäre ein böses Reptil über ihren Leib gekrochen. Er sah sie erstaunt an:

»Nanu?«

Doch sie erklärte kurz, sie ginge nicht nach Paris. Dann ließ sie ihn stehen, und als sie fortging, hörte sie ihn laut sagen:

»So ein albernes Frauenzimmer!«

An diesem Tage wurde kein Wort beim Frühstück gewechselt, kein Wort bei Tisch. Robert sagte ihr nicht gute Nacht, am nächsten Morgen begrüßte er sie nicht. Mittags fehlte er.

Denise setzte sich allein zu Tisch mit der kleinen Lucy, die stumm auf ihrem Stühlchen saß, die Serviette vorgebunden, und mit ihren niedlichen kleinen Händchen ganz geschickt selbst ihre Suppe löffelte. Ab und zu fiel einmal ein Tropfen herab, dann beugte sich, die Mutter vor, nahm dem Kinde den Löffel ab, wischte die Stelle an der Serviette rein und fütterte die Kleine.

Aber wie sie so allein saß, der leere Platz ihr gegenüber, traten ihr die Tränen in die Augen.

»Was hast du denn, Mama?« fragte das Kind.

Denise wischte sich die Lider und fing an zu lächeln.

Die Kleine fragte wieder:

»Bist du traurig?«

Da nickte die Mutter und zog das Kind an sich, das rührend zärtlich gegen sie war und ihr immer mit der kleinen Hand die Wange streichelte.

Abends erschien Robert, aber eine Stunde zu spät. Sie hörte nur seinen Schritt, denn sie hatte sich oben eingeschlossen.

Nun begann ein entsetzliches Leben. Robert sprach kaum mehr ein Wort. Er blieb immer häufiger zum Frühstück fort. Denise saß die langen Tage bei ihrem Kinde mit geröteten Augen. Sie konnte nicht mehr, ihre Kraft war zu Ende, ihre Nerven ließen nach. Sie mußte unausgesetzt weinen. Aber sie verbarg es vor der kleinen Lucy, denn die rief dann immer:

»Mama, nicht weinen!«

Und das ging ihr so zu Herzen, daß ihr erst recht die Tränen kamen.

Im Februar, als ihr vierjähriger Hochzeitstag nahte, der Himmel grau war, ein eisiger Regen niederging, Robert wieder zum Frühstück fehlte und sie ahnte, wo er war – bei der andern dort drüben, deren Namen sie nicht kannte, von der sie nie wieder gesprochen – kam die Verzweiflung so über sie, daß sie beschloß, wenn ihr Mann zurückkehrte, ihm zu erklären, dies Leben hielte sie nicht länger aus, und ihm vorzuschlagen, sie wollten ein Ende machen so oder so. Sie kannte die Rechtsverhältnisse nicht, sie wußte nur, daß man getrennt leben konnte, daß man sich scheiden lassen durfte. Aber sie ahnte nicht, wie das zu geschehen hätte, und sie nahm sich vor, sie wollte eines Tages ihr Kind nehmen und, während er fort war, einfach abreisen. Aber dazu mußte sie Geld haben, und sie besaß keins; denn die Zinsen ihrer Mitgift steckte er ein. Er rechnet mit Louis und seiner Frau ab, sie bekam nur immer das Notwendigste, unter Brummen darüber, was sie alles für Anschaffungen für sich und die Kleine brauchte.

Doch gerade an dem Abend, wo sie eine Aussprache erzwingen wollte, dauerte es und dauerte es, und Robert kam nicht. Während die kleine Lucy schlief, saß Denise im Kinderzimmer, ganz nahe an der nur angelehnten Tür, um zu lauschen, wann Robert heimkehrte. Eine Stunde verflog nach der andern. Es war elf geworden, die Haustür verschlossen, überall im Hause längst das Licht gelöscht, und noch immer war er nicht da.

Denise hatte einen Schal um die Schultern gehängt, sie fror trotzdem, denn es war eine kalte Nacht. Und als sie ans Fenster trat, sah sie plötzlich, wie alles draußen glänzte: Schnee bedeckte den Garten und türmte sich auf den Zweigen der Bäume in dichten Lasten. Ein kalter Mondenhimmel leuchtete herab. Gerade gegenüber deutete eine helle Stelle in den Wolken an, daß sich dort das Nachtgestirn hindurchrang. Aber ein paar Augenblicke darauf ward es wieder finster und finsterer: der Schneefall ging weiter, langsam fielen die Flocken, häuften sich zu hoher Decke, vom Winde seitwärts getrieben, und eine eisige Kälte wehte durch die Fugen der schlecht schließenden Fenster der jungen Frau entgegen.

Sie schloß die Laden. Ihre Finger zitterten, als die Flocken ihre zarte Haut trafen. Sie schauerte zusammen, sie war müde und übernächtig. Sie blickte nach der Uhr: eins! Und immer war er noch nicht zurück.

Da ging sie an die Tür, riegelte zu, setzte sich auf ihr Bett, legte die Hände in den Schoß und überließ sich ihren Gedanken. Sie lauschte auf die regelmäßigen Atemzüge der Kleinen. Dann horchte sie wieder hinaus, ob kein Geräusch ihres Mannes Wiederkunft anzeigte, aber nur ab und zu hörte sie draußen eine Schneelast von den Zweigen in den Garten hinunterschütten. Ganz in der Ferne schlug einmal ein Hund an.

Sonst schwieg alles, schwieg, wie es seit langem in ihrem Herzen geschwiegen hatte, schwieg, wie immer hier in der verlassenen Villa, in der sie lebte, als hätte sie keinen Mann, keinen Bekannten, keine Verwandten, keine Freunde, wo sie ihr Dasein, ihre Jugend vertrauerte, und nur eins besaß, dem sie trauen durfte: ihre kleine Lucy.

Sie dachte nach über ihr Schicksal. Sie dachte nach über das ganze Leben. Wozu war sie nun eigentlich auf diese Erde gestellt? Welchem Zweck sollte ihr Dasein dienen? Sie war allein, immer allein, kein Mensch kümmerte sich um sie, keinem stand sie nahe.

Sie dachte an ihre Freundinnen aus dem Kloster, mit denen sie sich nicht mehr schrieb, denn die waren meist in Paris verheiratet, lebten ihr elegantes Gesellschaftsleben und kümmerten sich um die armselige kleine Provinzlerin nicht.

Sie hatte absichtlich mit ihnen keinen Verkehr unterhalten, sie wollte niemand ihr Elend und ihre Armut offenbaren, sie hätte sich im tiefsten Grund ihrer Seele geschämt, einem andern zu zeigen, was sie hier stumm litt. Sie dachte an ihre Mutter, die doch die erste gewesen wäre, sich ihr anzuvertrauen. Aber hatte sich die Mutter je um etwas anderes gekümmert als um ihre Unterhaltung, ihre Toiletten, ihren Wagen? Hatte sie je gefragt, ob die Tochter glücklich wäre? Ihr schien die Mutter so kalt, so fern, so gleichgültig. Ja, gleichgültig, wirklich wie eine Fremde.

Sie dachte an den Vater. Sie ahnte jetzt dunkel, daß er sich einst auf ähnlichen Wegen befunden hatte wie Robert. Er war schwach, er brauchte viel Geld, er war oberflächlich, ein großer Egoist, der nur immer das getan hatte, was ihm Spaß machte. Und doch ward sie in Gedanken an ihn nicht so bitter wie gegen die Mutter. Das letztemal, als sie ihn gesehen, hatte er ihr doch Dinge gesagt, die verrieten, daß er wenigstens eine Seele besaß.

An ihn wollte sie sich wenden; er würde sein Kind in höchster Not nicht zurückstoßen. Sie stand auf, ging an den Schreibtisch in der Ecke, zündete Licht an und schrieb ihrem Vater einen langen Brief.

Sie suchte darin immer noch Robert zu schonen, redete nur im allgemeinen von Mißstimmung und Auseinanderlaufen, von der Öde in ihrem Dasein, daß sie keinen Menschen sähe und glaubte, verrückt werden zu müssen, wenn das ewig dauern würde. Sie bat ihn, zu kommen, daß sie sich mit ihm aussprechen könnte. Er wäre doch immer ihr guter, lieber, kleiner Papa gewesen, sie wüßte sich keinen Rat mehr, er müßte, müßte kommen.

Dann ging sie todmüde zu Bett. Aber sie konnte nicht schlafen, immer fuhr sie im Halbschlummer empor und lauschte auf Roberts Rückkehr. Doch nichts regte sich.

Als sie endlich aufwachte, stand die Kleine schon aufrecht in ihrem Bett, hielt sich an den Gitterstäben und rief kläglich nach ihrer Mutter. Denise holte sie zu sich, legte sie an ihre Seite, strich ihr die schwarzen Locken aus der Stirn, erzählte vom Schnee, der draußen läge, und daß es kalt und häßlich wäre; sie sollte ruhig noch ein bißchen hierbleiben.

Dabei brachen ihre Worte ab, und sie nickte ein. Aber das Kind weckte sie im nächsten Augenblick. Lucy wollte hinaus, um den Schnee anzufassen, den Schnee, der seit Jahren nicht mehr gefallen war und in dieser Gegend auch nicht dauernd liegen blieb.

Aber Denise rieb sich die schweren Augenlider und antwortete nur ärgerlich:

»Kind, laß mich doch in Ruh', schlaf' noch ein bißchen.«

Geduldig fügte sich die kleine Lucy, doch sie wälzte sich von einer Seite zur andern, und schließlich sah Denise ein, sie mußte der Kleinen ihren Willen tun. Sie klingelte nach der Amme und ließ das Kind anziehen. Dann empfahl sie, sie sollten nicht zu lange draußen bleiben, daß Lucy keine nassen Füße bekäme, jedenfalls müsse sie dann Schuhe und Strümpfe wechseln.

Als die beiden fort waren, erhob sich Denise und zog sich schnell an, um selbst an die Eisenbahnstation zu gehen und den Brief an ihren Vater in den Kasten zu stecken. Sie konnte ihn ja hier keinem Menschen anvertrauen. Sie fragte nicht, ob ihr Mann zurückgekehrt sei. So sehr sie der Gedanke gequält hatte, daß er nun auch die Nächte, wie es schien, fortblieb, so gleichgültig war es ihr jetzt. Mochte er in Charenton sein, so viel er wollte: dieser Mann, der sie täglich und stündlich verriet, ging sie nichts mehr an.

Während sie durch den allmählich unter der Einwirkung der Sonne zerrinnenden Schnee den Weg zur Station hinschritt, dachte sie nur noch daran, daß ihr Vater kommen würde, um sie zu erlösen aus dieser schmachvollen Gefangenschaft.

Er rieselte und rauschte von allen Seiten, in den Chausseegräben lief das Tauwasser, die Bäume starrten wie schwarze, struppige Besen und Ruten gen Himmel, denn der größte Teil des Schnees war in der Sonne schon geschmolzen.

Wie sie die schnurgerade Chaussee dahinschritt, dachte sie an den Tag, da sie mit Robert zum erstenmal hierher nach Montmidi gekommen war, das Herz voll junger Hoffnung. Sie lachte bitter, als sie sich überlegte, wie sie nicht einmal ernstlich böse gewesen war, daß er das Geld verloren hatte, denn sie hatte doch gemeint, sie würde um so glücklicher sein können in dieser Einsamkeit, wo sie nichts abzog von ihrer Liebe. Ihr kam wieder zu Sinnen, wie sie sich aus Paris fortgesehnt hatte, weg aus dem Trubel der Weltstadt, wie sie ihrer Freundin in der Normandie einst geschrieben, sie wollte mit ihr tauschen.

Das Wasser rann nur so über den Boden, der tief aufgeweicht war. Es drang ihr bald durch die Sohlen, daß die Strümpfe sich förmlich vollsogen wie Schwämme. Denise hob mit beiden Händen das Kleid, den Brief zwischen den Fingern, immer mit dem Gedanken beschäftigt: ›Papa kommt! Papa kommt! Und nun wird alles gut!‹

Sie hatte plötzlich großes Vertrauen zu ihm, nun sie eine Hoffnung sah, jemandem ihr Herz ausschütten zu können.

Das verbesserte ihre Laune, sie lächelte vor sich hin. Sie sagte sich: ›Wenn Papa mich mitnimmt, sollen diese letzten Monate oder Jahre hinter mir auf ewig versunken sein!‹

Als sie an die ersten Häuser des Ortes kam und schon das kleine, mit hellen Hohlziegeln gedeckte Bahnhofsgebäude vor sich sah, ließ sie das Kleid los, um den Brief in den Kasten zu stecken. Da erst merkte sie, daß sie ihn nicht mehr in der Hand hielt.

Sie erschrak. Sie hatte ihn doch eben noch zwischen den Fingern gefühlt. Hatte sie ihn etwa eingesteckt? Sie griff in die Tasche, sie faßte in ihren kleinen Muff. Nein, sie mußte ihn verloren haben.

Eiligst lief sie den Weg zurück, er mußte ja irgendwo liegen. Sie ärgerte sich nur, daß der Umschlag beschmutzt sein könnte. Sie ging eine ganze Strecke, aber sie fand den Brief nicht.

In der Ferne sah sie einen Wagen kommen, und sie sagte sich sofort: ›Ich werde die guten Leute fragen, vielleicht haben sie etwas Weißes liegen sehen.‹ Denn sie meinte, es wäre ein Bauerngefährt.

Das Tier davor griff so schnell aus, daß sie ein paar Augenblicke darauf ein Dogcart erkannte, in dem zwei Personen saßen, ein Herr mit dem Groom.

Sie wollte unbemerkt vorübergehen, denn sie ahnte: es war einer der Nachbarn, die doch gewiß etwas von ihnen gehört hatten, und sie schämte sich, weil sie sich so ärmlich angezogen fand.

Aber da hielt der Wagen vor ihr. Der Herr lüftete den Hut:

»Gnädige Frau!«

Sie blickte auf und sah einen schlanken, jungen Menschen vor sich, mit kleinem, schwarzem Schnurrbart und der gelben Gesichtsfarbe des Südländers. Einen Herrn, der einen schönen Pelz trug und leicht gelocktes Haar zeigte, als er die Kopfbedeckung abnahm. Der Groom war tadellos angezogen, und mit einem flüchtigen Blick entdeckte sie am Dogcart zwei Buchstaben und eine Krone darüber.

Ein Schreck durchfuhr sie: es war wirklich ein Nachbar. Um Gottes willen, er kannte sie doch nicht? Er wollte sie doch nicht begrüßen? Was hätte sie denn mit einem Gast angefangen, jetzt, wo Robert zum Bauern geworden war! Und in der Wirtschaft kein Geld, in ihrem Keller keine Flasche Wein!

Sie ward rot, während der junge Herr fortfuhr:

»Gnädige Frau, entschuldigen Sie, wenn ich Sie anrede, aber ich glaube Ihnen einen Dienst zu erweisen. Haben Sie etwa diesen Brief verloren?«

Dabei zeigte er ihr den Brief an ihren Vater.

Sie antwortete erschrocken, indem ihr Gesicht sich immer dunkler färbte:

»Allerdings, ich glaube, daß es mein Brief ist.«

Der Herr las die Adresse: »An Herrn de Verneuil, nicht wahr?«

Er lüftete die Decke um seine Knie, sprang gelenkig und geschickt herunter, nahm abermals den Hut ab und überreichte ihr den Brief.

Sie sagte:

»Ja, in der Tat, mein Vater.«

»Ach, Ihr Herr Vater?«

»Jawohl, mein Vater.«

Er sah sie forschend an:

»Ich habe wohl die Ehre, Frau de la Caille vor mir zu sehen?«

Sie nickte, und er sagte:

»Sie erlauben wohl, daß ich mich bekannt mache: Baron d'Hautecourt.«

Sie drehte den Brief zwischen den Fingern, und er fuhr fort:

»Gnädige Frau, ich habe ihn möglichst sorgfältig gereinigt.«

Dabei zog er ein schmutzig gewordenes Taschentuch, nahm einen reinen Zipfel und wischte nochmals über den Umschlag, obgleich das Papier längst trocken war. Doch die Tintenschrift war verwischt, und er meinte, sie müsse die Adresse noch einmal schreiben.

Sie erwiderte, es wäre nicht nötig, sie nähme den Brief mit nach Haus. Da hatte er schon aus seiner Rocktasche einen Umschlag gezogen:

»Bitte, gnädige Frau, ich habe immer alles zum Schreiben bei mir. Man kann nie wissen.«

Dabei lachte er listig vor sich hin, blickte Denise von der Seite an, holte eine Füllfeder gleichfalls aus der Tasche, ließ durch den Groom das Dogcart bis hart an den Fußweg der Straße fahren, nahm den Sitz herunter, legte ihn auf den Fußtritt und sagte: »Sehen Sie einmal, gnädige Frau, hier haben Sie den schönsten Schreibtisch der Welt!«

Sie wußte nicht, wie es kam; obgleich es vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre, ergriff sie die Feder. Sie schrieb die Adresse, er hatte auch schon eine Briefmarke aus dem Portemonnaie genommen und klebte sie darauf.

Sie sagte, als wollte sie ihm die Briefmarke ersetzen:

»Also fünfzehn Centimes ...«

Er lachte nur. Doch sie hatte schon nach der Tasche gegriffen, merkte aber, daß sie kein Geld bei sich trug. Da sagte sie, immer noch verlegen:

»Ich werde mir erlauben, es Ihnen zuzuschicken.«

Doch er wehrte ab:

»Nein, gnädige Frau, das ist ja lächerlich!«

»Nein, ich bin gewöhnt, meine Schulden zu bezahlen.«

Er meinte:

»Ach, wenn ich das nur auch immer getan hätte, das wäre gut, oder vielleicht, es wäre gut, wenn ich nie welche gemacht hätte.«

Währenddessen fuhr das Dogcart im Schritt auf und ab, denn das Pferd schwitzte. Er blieb immer noch neben ihr stehen. Sie antwortete und verstand sich selbst nicht, wo sie den Mut hernahm:

»Haben Sie denn so viele Schulden gemacht?«

Er lachte:

»Ach schrecklich! schrecklich! Das kommt von dem verdammten Paris. Übrigens haben Sie keine Angst, sie sind alle bezahlt. Ich sitze jetzt hier auf meiner Klitsche, um mich etwas davon zu erholen. Sonst können Sie sich doch denken, daß ich nicht gerade den Winter hier verleben würde. Mein Gott, ist das ein gräßliches Land!«

Sie schämte sich jetzt fast, daß sie auch den Winter hier zubrachte, und meinte: »Es kommt darauf an. Wenn man Familie hat ...«

»Ja, sehen Sie, wenn man Familie hat! Aber die habe ich ja nicht. Ich bin ganz allein. Jäger bin ich eigentlich nicht, nur aus Verzweiflung nehme ich mal ein Gewehr in die Hand. Nun sagen Sie selbst, was soll man hier anfangen? Sie werden sich wundern, daß ich das so offen erzähle, daß ich hier sitze, um meine Verhältnisse zu ordnen, aber es ist doch am Ende nichts dabei. Wenn man Schulden macht und sie nicht bezahlt, ja dann! Aber ich bin eben so anständig gewesen und habe sie bezahlt. Darum muß ich jetzt vernünftig sein. Ich sagte mir nämlich, in Paris sitzen und keinen Groschen haben, das bringe ich nicht fertig. Da habe ich also die große Remedur eintreten lassen und habe mir selbst drei Jahre Provinz verordnet. Denken Sie mal, drei Jahre! Und das ist erst der erste Winter! Es ist ja zum Rasendwerden! Ob ich's aushalte, weiß ich noch nicht bestimmt, aber wegen meiner Finanzen muß ich's hoffen. Ich habe nämlich mit meinen Gläubigern ein großartiges Abkommen getroffen mit Hilfe eines mir bekannten Notars, der ein Mann von Verständnis und Welt ist! Ich bekomme nur einen kleinen Teil meiner Einkünfte, das übrige wird dazu benutzt, um allmählich die Kerls abzufinden. Ach, der frühere Leichtsinn ist schwer gebüßt. Mein Gott, mein Gott, wenn ich nicht ein paar Bücher hätte!«

Sie meinte, weil sie sich komisch fand, so dazustehen, ohne ein Wort zu sprechen:

»So, lesen Sie viel?«

»Na, das können Sie sich doch denken! Übrigens lese ich sehr gern, und ich las auch in Paris manches, aber seitdem ich hier lesen muß, um die Zeit totzuschlagen, seitdem macht es mir nicht mehr so viel Spaß. Es ist die alte Geschichte vom Zwang. Nur keinen Zwang, nur nicht gebunden sein, das ist schrecklich! Alles, wozu man eine Verpflichtung hat, ist mir fürchterlich. Alles, was ich freiwillig tue, tue ich riesig gern.«

Aber die Unterhaltung hatte schon zu lange gedauert, er schien es zu fühlen und sagte, indem sein Blick über ihre Gestalt lief und an ihren Augen hängen blieb:

»Gnädige Frau, da uns der Zufall einmal so zusammengeführt hat, werde ich mir also gestatten, Ihnen meine Aufwartung zu machen.«

Es durchschoß sie ein furchtbarer Schreck. Sie stammelte:

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber mein Mann ist allerdings nicht sehr für Geselligkeit, und ich muß Ihnen gleich sagen, daß wir Ihnen auch nichts werden bieten können.«

Er lachte wie ein guter, braver Junge:

»Aber, gnädige Frau, was denken Sie denn, glauben Sie, daß ich Ihnen meinen Besuch machen will, nur um bei Ihnen zu essen? O nein, ich dachte nur, wir könnten vielleicht sonst gute Nachbarschaft halten. Sie können sich doch auch unmöglich hier furchtbar amüsieren, und vielleicht könnten wir gemeinsam Trübsal blasen.«

Aber sie wollte nicht die Öde ihres Daseins aufdecken:

»Mein Mann geht viel auf die Jagd.«

»Sie vielleicht auch?«

»Nein, ich nicht.«

»Nun, man findet ja manchmal Damen, die ...«

»Ich bin in Paris groß geworden, ich habe nie Gelegenlegenheit gehabt.«

Er konnte sich noch immer nicht trennen. Er fragte, ob sie denn als Pariser Kind es hier aushielte, sie wäre doch anderes gewöhnt.

Da verstellte sie sich ein wenig:

»Ich liebe die Einsamkeit.«

Gedehnt antwortete er:

»So – so!«

Und in diesem Moment war sie entschlossen, wenn er weiter gefragt hätte, ihr Leben so darzustellen, als ob es sehr glücklich wäre; ihren Mann zu verteidigen durch dick und dünn.

Aber der junge Mann glaubte, sie genug aufgehalten zu haben, verabschiedete sich artig grüßend, stieg in sein Dogcart und fuhr nach dem Bahnhof davon.

Sie aber nahm den Brief mit der neuen Adresse; doch statt ihn in den Kasten zu stecken, lief sie, was sie konnte, die Chaussee wieder zurück, denn sie wollte ihren Nachbar nicht noch einmal treffen, in ihrem schlechten Anzug, mit ihren groben, schmutzigen Stiefeln. Auch fürchtete sie, wenn er sah, daß sie den Weg zurück zu Fuß machen mußte, würde er vielleicht galant sein und sie in seinem Wagen mitnehmen. Das wollte sie vermeiden.

Als sie zum Frühstück kam, saß ihr Mann schon bei Tisch. Er fragte sie, wo sie gewesen sei. Sie sagte, sie wäre spazieren gegangen. Er tat gar nicht, als ob er die Nacht nicht zu Hause geschlafen hätte.

Sie aber überlegte fortwährend, wie sie ihm den drohenden Besuch beibringen sollte. Und schließlich kam sie mit sich überein, es ihm gar nicht zu sagen. Wenn der Nachbar, Baron d'Hautecourt, wirklich kam, würde er es ja zeitig genug merken.


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