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Herr Léon Béranger war noch mehrmals auf das Gespräch zurückgekommen, das er damals mit Denise über ihre Zukunft gehabt hatte. Er deutete an, irgend etwas sei im Gange, er wolle sie überraschen. Was geschehen sollte, wußte sie nicht.
Da nahm er, als er eine seiner gewöhnlichen Fahrten nach Carmeaux antrat, bewegteren Abschied als sonst. Es war, als wollte er irgend etwas unterstreichen. Er sagte:
»Ich werde etwas länger fortbleiben, ich habe viel dort zu tun. Du wirst später von mir hören. Du sollst sehen, was geschieht!«
Dabei machte er ein verschmitztes Gesicht, indem er den Zeigefinger hob. Diese Art, die etwas Jugendliches haben sollte, stand dem alternden Manne nicht gut.
Denise ahnte, daß es mit seinen Zukunftsplänen zusammenhing. Sie antwortete nur:
»So, so.«
Herr Béranger war abgereist. Tage gingen hin, er kehrte nicht zurück. Denise durfte ihm nie dorthin schreiben, das war ausgemacht worden, aber sonst hatte sie täglich von ihm einen Brief bekommen, und die Briefe blieben diesmal aus. Das beunruhigte sie ein wenig, aber sie dachte: ›Er ist so mit Geschäften überladen, daß ihm zu nichts anderm Zeit übrig bleibt.‹ Und da sie ahnte, was drüben in ihrem Interesse vor sich ging, wartete sie ruhig. Ein Tag verstrich nach dem andern. Sie setzte ihren gleichmäßigen Lebenslauf fort. Täglich ging sie in die Kirche, und täglich kam sie ruhiger wieder zurück. Eins nur quälte sie: sie wollte zur Beichte gehen, aber sie wagte es nicht. Würde ihr Absolution zuteil? Sie mochte nicht daran denken.
Als sie allein beim Frühstück saß, klingelte es. Nach ein paar Augenblicken kam der Diener und brachte auf einem silbernen Tablett eine Karte. Denise nahm sie lässig auf, aber eilig legte sie das Kartonblättchen wieder hin, auf dem nur stand: ›François Duprez‹, in der Ecke darunter: ›Carmeaux‹. Denise kannte den Namen, es war Herrn Bérangers Schwiegersohn. Sie mußte mühsam ihre Fassung bewahren, als sie den Diener fragte:
»Ist der Herr selbst da?«
»Gewiß, gnädige Frau, er hat ja die Karte abgegeben.«
Sie strich sich die Stirn mit der Hand:
»Ach ja, ach ja, natürlich! Natürlich!«
Aber sie begriff doch nicht, was das bedeuten sollte, und fragte noch einmal, wie um Zeit zu gewinnen:
»Ja, will mich der Herr denn sprechen?«
»Jawohl, gnädige Frau.«
Endlich sagte sie:
»Ich lasse bitten in den kleinen Salon.«
Aber als der Diener schon bis zur Tür gegangen war, widerrief sie es:
»Nein, nein, sagen Sie, ich wäre bei Tisch!«
Und doch kam ihr die Überlegung, es mußte etwas Besonderes bedeuten. Plötzlich wußte sie, es hing mit Léon zusammen. Darum befahl sie abermals:
»Es bleibt dabei, in den kleinen Salon, ich komme sofort.«
Sie aß ein Stück Brot, während sie allein im Eßzimmer sitzen blieb, sie trank einen Schluck Eau de Vals. Sie horchte: man hört Türen gehen, Schritte, dann war alles still, und einen Augenblick darauf kam der Diener zurück, mit seiner gleichmütigen Miene, mit dem glatten Gesicht, in dem sich nie eine Gemütsbewegung, weder Erstaunen, Unwillen, Freude noch Schmerz spiegelten. Am Anrichtetisch blieb er in derselben ruhigen Haltung stehen wie sonst und wartete, daß seine Herrin weiter äße.
Aber sie war so erregt, daß sie keinen Bissen herunterbekam. Sie wollte hineingehen und den Besuch empfangen, und doch fürchtete sie sich davor. Léons Schwiegersohn? Wie kam der zu ihr? Was wußte er von ihr? Sie empfand eine Beklemmung. Alle Menschen hätten sie gleichgültig gelassen, nur dieser nicht!
Da fragte sie geistesabwesend den Diener:
»Ist der Herr schon drin?«
»Jawohl, gnädige Frau, ich habe gesagt, gnädige Frau sind bei Tisch, es würde noch einen Augenblick dauern.«
Sie antwortete mechanisch:
»Sehr gut.«
Und sie, die niemals mit ihren Leuten sich unterhielt, die Vertraulichkeiten und Klatsch fürchtete, fragte:
»Wie sieht denn der Herr aus?«
Der Diener trat ein paar Schritte näher an den Tisch heran:
»Nun, ein wenig stark und vielleicht ... ich weiß nicht ...«
Sie blickte den Diener an:
»Was wollen Sie sagen?«
Ein unmerkliches Lächeln legte sich um seine glattrasierten Lippen:
»Vielleicht nicht sehr vornehm.«
Dabei machte er eine leise, geringschätzende Bewegung, indem er die Hand hob und wieder sinken ließ, dabei fügte er hinzu:
»Der Herr ist wohl nicht aus Paris.«
Da entschloß sich Denise, stand auf, legte die Serviette fort; der Diener eilte voraus, öffnete ihr die Tür, sie trat in den großen Salon und blieb dort einen Augenblick stehen, um schnell einen Blick in den Spiegel über dem Kamin zu werfen. Sie war erregt, drückte das Taschentuch in der Hand zusammen und mußte einen Entschluß fassen, um weiterzugehen in den anstoßenden kleinern Raum. Was war nur geschehen? Sie war unruhig, es zu erfahren, und doch hatte sie alles darum gegeben, die Entscheidung noch hinauszuschieben. Endlich trat sie ein. Ein Herr, genau wie der Diener ihn beschrieben hatte, stand vor ihr. Klein, etwas dick, mit braunem Vollbart, nicht gut gehalten und Hals, Kragen und Krawatte völlig verdeckend. Herr Duprez hatte offenbar versucht, elegant zu sein, er trug einen schwarzen Gehrock und hielt den Zylinder in der Hand.
Wie Denisens Blick über seine Gestalt lief, und als sie leise nickte, während der andere sich verbeugte, sah sie seine schwarzen Handschuhe. Und mit einemmal kam ihr ein unbewußter Gedanke, eine Beängstigung und Beklemmung nur durch die Farbe dieser Handschuhe.
Sie bot ihm einen Stuhl an, er nahm Platz, und zwischen den auseinander sinkenden Knien begann er langsam den Zylinder zu drehen. Dann räusperte er sich:
»Ich bin ... ich habe mich entschlossen ... Ihnen einen Besuch zu machen. Aus einem ganz besondern Grunde, und es ist ... ich habe es für meine Pflicht gehalten ... Darf ich Sie auf etwas vorbereiten? Ich möchte Ihnen eine Mitteilung machen, die ... Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wer ich bin. Mein Schwiegervater ist Herr Léon Béranger, ich bin der Mann seiner Tochter.«
Dabei drehte er den Zylinder immer eifriger, und zwar nach der falschen Seite, so daß der Hut rechts und links das Beinkleid streifte und bei der Behandlung immer struppiger ward. Er fuhr fort:
»Also, ich habe mich entschlossen, Ihnen mitzuteilen, was geschehen ist. Vor einiger Zeit, wie Sie wissen werden, kam Herr Béranger zu uns. Er befand sich ganz wohl, wie überhaupt mein Schwiegervater ja doch noch ein Mann in den besten Jahren ist und ein äußerst rüstiger Mann, ein sehr tätiger Mann. Er ist nämlich, müssen Sie wissen, ein sehr tüchtiger Geschäftsmann. Und da kam es uns um so unerwarteter. Ich muß Ihnen nämlich erklären, daß ich Direktor seiner Bergwerke bin. Ich bin schon in jungen Jahren in die Stellung gekommen und habe dort erst meine Frau kennengelernt. Herr Béranger hat sonst keine Kinder. Ich möchte gleich sagen, wir haben Kinder. Drei. Zwei Söhne und eine Tochter. Auf Wunsch meines Schwiegervaters werden die Kinder später den Namen Béranger dem ihren hinzufügen. Ja, was ich sagen wollte, also er kam nämlich ganz frisch und gesund an. Er machte uns eine Eröffnung, sehr unerwartet für uns, und die wir im Interesse der geschäftlichen Entwicklung sehr bedauern mußten, denn er war ein wirklich hervorragender Geschäftsmann, und die ganze Blüte des Unternehmens ist nur sein Verdienst. Er erklärte uns nämlich, er würde von der Leitung zurücktreten ... Ich muß Ihnen sagen, gnädige Frau, ich bin natürlich nicht ohne Ehrgeiz, denn ich habe mich aus kleinen Verhältnissen, woraus ich übrigens nie ein Hehl mache, in die Höhe gearbeitet, aber, trotzdem würde ich es sehr schwer empfunden haben, nicht den erfahrenen Rat des Herrn Béranger noch weiter genießen zu dürfen. Und kurz ... kurz ... ja, und da sagte er ...«
Herr Duprez unterbrach sich, nahm ein Taschentuch, räusperte sich und begann sich zu schnauben, als schien er einen Entschluß fassen zu wollen. Er sah sich scheu nach allen Seiten um, es machte den Eindruck, als hätte er sich noch nie in einem solchen Raum, in einer solchen Lage befunden.
Denise war ruhiger geworden, sie ahnte, was da kommen sollte. Léon hatte den Plan seiner Tochter und seinem Schwiegersohn mitgeteilt, er war auf Widerstand gestoßen, und nun erschien wahrscheinlich Herr Duprez, sie zu bitten, edelmütig zu sein oder dergleichen. Aber der Besucher fuhr fort, indem er jetzt den Hut nach der andern Seite drehte, so daß das Haar des Zylinders sich notdürftig wieder zu glätten begann: »Ja, und denken Sie nur, was da geschehen ist! Ich sagte doch immer, er ist ein kräftiger Mann und in den besten Jahren; wir begreifen es nicht, und wir können uns wirklich keine Schuld zuschieben, wenn wir auch natürlich nicht gleich einverstanden gewesen sind. Denn er hat nämlich, gnädige Frau, von Ihnen gesprochen, und Sie werden es verstehen, Sie werden ja am besten wissen, was er gesagt hat ... Schließlich sind wir ja allerdings etwas aneinandergeraten. Ich wohl nicht so sehr, ich bin ein ruhiger Mann. Am Ende mich berührt es ja nicht so peinlich, aber meine Frau, die sehr leidenschaftlich ist – nun, sie muß natürlich die Erinnerung an ihre Mutter hochhalten und das Andenken ihrer Mutter – und da hat sie ... kurz, Herr Béranger wurde sehr böse, und der Arzt meint, es ist ihm das Blut zu Kopf gestiegen. Wir drohten beinahe auseinander zu kommen, ich habe wirklich versucht zu besänftigen, aber da wurde Herr Béranger plötzlich bleich, und er mußte sich setzen ... Ja, gnädige Frau, wir haben wahrhaftig alles versucht, wir haben sofort den Arzt geholt, aber, aber es war schon zu spät, Herr Béranger ist – –«
Denise sprang auf und sagte ganz ruhig, kalt, steinern, ohne eine Miene zu verziehen:
»Sie wollen sagen, Herr Béranger ist tot?«
Herr Duprez erhob sich gleichfalls:
»Ich wollte Sie doch nicht erschrecken, und wissen Sie, ich bin ja auch deshalb persönlich gekommen. Durch einen Brief wäre das auch möglich gewesen. Sie sehen, welche Rücksicht darin liegt. Ich hoffe, Sie werden das anerkennen.«
Denise meinte nur:
»Also bitte, sagen Sie mir einfach: Herr Béranger ist gestorben?«
Er antwortete kurz:
»Ja, es war ein Schlaganfall!« Denise war leichenblaß geworden; ihre Lippen zitterten, ihr war, als setze das Herz aus.
Sie wußte, es war nicht der Tod dieses Mannes, obgleich sie Léon gern gehabt hatte. Eine wilde Leidenschaft konnte es bei ihr nicht sein, aber er hatte mit der ruhigen Hand eines älteren Mannes, gewiß auch mit Selbstsucht und nicht um eine gute Tat zu tun, sie doch vielleicht vor einem Ende drüben in den schmutzigen Wassern der Seine bewahrt. Er hatte ihr geknicktes Leben wieder aufgerichtet, er hatte es zwar nicht vor der Menschheit wieder zu Ehren gebracht, das war nicht möglich, das fühlte sie selbst, aber es war ein guter, herzensguter Mann gewesen.
Denise dachte nicht an ihre Zukunft, sie dachte an nichts Schlimmes und nichts Gutes, an keinen Vorteil; sie war nur erschüttert von dem Schlage. Sie fand auch keine Tränen, nur zu sprechen vermochte sie nicht. Sie stammelte undeutlich, während sie immer dem Besucher gegenüber stand:
»Bitte, erzählen Sie!«
Dann machte sie eine Gebärde, er möchte Platz nehmen.
Wieder begann er seinen Zylinder zwischen den Knien zu drehen, und nun berichtete er die Einzelheiten, ohne daß Denise ihn unterbrach. Er sagte, sein Gefühl hätte ihn hierher getrieben. Das Schicksal hätte es nicht gewollt, daß sein Schwiegervater Denise zu seiner Frau machte, was, wie er allerdings gestehen müsse, die Beziehungen zwischen ihnen getrübt haben würde. Aber er wäre ein Mann, der mitten im Leben stände, er kenne die sozialen Verhältnisse, wenn auch nicht in Paris, so doch in den Bergwerksbezirken. Er hätte nicht über seinen Schwiegervater zu Gericht zu sitzen, er hätte nur in ihm einen gutmütigen und dabei doch sehr tüchtigen Mann gekannt. Und mit besonderer Betonung fügte er hinzu, seine Frau wäre nach Rücksprache mit ihm vollkommen mit seinem Besuche einverstanden. Sie wären Leute, die durchaus keinen Skandal wollten. Sie achteten die Gefühle anderer, und sie würden ihr, da nun einmal sein Schwiegervater die Absicht gehabt hätte, sie zu seiner Frau zu machen, in jeder Beziehung entgegenkommen.
Dies ›in jeder Beziehung‹ wiederholte er mehrere Male. Er sprach davon, wie reich Herr Béranger gewesen sei, es würde dadurch seiner Tochter und seinen Enkeln in keiner Weise etwas entzogen. Er machte Andeutungen, Herr Béranger habe in so großartiger Weise für seine Tochter gesorgt, daß es ihm wohl freistehen müßte, sonst sein Geld zu verwenden, wie er wolle. Sie würden ganz im Sinne des Verstorbenen handeln. Er, Herr Duprez, wolle nur Denise beruhigen über ihre Zukunft, das Weitere hätte alles durch den Notar zu geschehen.
Herr Duprez zeigte sich als guter, braver, einfacher Mann. Der Ton, in dem er sprach, wurde immer herzlicher, je länger er redete, und als er nun aufstand, sich zu empfehlen und Denise noch immer kein Wort der Entgegnung gefunden hatte, sagte er:
»Gnädige Frau, ich hoffe, Sie werden den Widerstand, den meine Frau zuerst gezeigt hat, der Tochter nicht nachtragen. Wir sind jedenfalls bestrebt, alles wieder gutzumachen. Wir möchten, daß Sie nicht hart über uns denken!«
Damit verbeugte er sich etwas förmlich und wollte hinausgehen. Er verfehlte die Tür und eilte, ehe Denise es hindern konnte, in den großen Salon. Dort blickte er sich erstaunt um, und dann hörte man ein:
»Ach so!«
Er ging weiter, platzte ins Eßzimmer, trat abermals zurück, machte die Tür zu und fand endlich den Ausgang. Denise hatte geklingelt, der Diener empfing ihn draußen. Sie blieb stehen und lauschte. Man hörte Herrn Duprez ein paarmal sich räuspern, dann ging wieder die Tür und alles war still. Denise trat ans Fenster, sie faßte mit der einen Hand den Wirbel, legte das Kinn darauf und schloß die Augen. Nun stand sie allein in der Welt, nun war alles wieder so, wie es gewesen war, nun konnte sie den Kampf von neuem beginnen.
Sie dachte nicht nach über die letzten, halb mystischen und doch halb klaren Worte, die Herr Duprez gebraucht hatte, sie überlegte nur, daß sie allein war, wiederum allein auf dieser Erde. Sie sagte sich: ›Es ist wieder alles aus!‹
Sie hatte das Gefühl: jetzt fange ich mein Leben von neuem an! Dieses ›von neuem beginnen‹, das sich durch ihr ganzes Dasein zog, als müsse sie jeden Tag dort wieder anfangen, wo sie den Tag vorher aufgehört hatte, empfand sie mit schmerzlicher Bitterkeit.
Ja, sie war allein, vollkommen allein, keinen Freund, keine Freundin hatte sie gewonnen wahrend der Jahre, die sie diesem alternden Manne geopfert hatte. Sie hatte sich ihm ganz allein gewidmet, und nun ließ er sie im Stich. Es war ihr, als hätte er Abschied nehmen müssen, als hätte er ihr sagen sollen, was bevorstand, der arme Schelm, der doch nichts geahnt, der so gern gelebt hatte. Die Ungerechtigkeit des Schicksals gegen sie empörte sie. Der Tod dieses Mannes erschien ihr wie eine Treulosigkeit.
Sie trat vom Fenster zurück und ging in ihr Schlafzimmer. Dort ließ sie sich auf dem Betschemel nieder. Sie betete für des Abgeschiedenen Seele. Eine Stunde blieb sie kauern, sank ganz in sich zusammen, stützte die Stirn auf und dachte nach über die Wirrsale ihres Lebens.
Sie war mutlos, schwach, sie fühlte, daß sie keine Kraft mehr besaß, abermals von neuem zu beginnen. Was sollte sie anfangen? Sollte sie als Witwe leben, sie, die keine Witwe war? Sollte sie ganz allein in diesem Dasein wieder ihre Wege gehen? Eine entsetzliche Angst überkam sie vor diesem Alleinsein. Wem sollte sie sich nähern? Wer würde mit ihr verkehren? Doch nicht der dicke brave Mann, der sie eben verlassen hatte? Doch nicht seine Frau? Doch nicht Léons Enkel? Nicht die Leute aus der Deputiertenkammer, doch nicht seine Kollegen?
Sie hatte niemand auf der ganzen Welt! Sollte sie sich anfreunden mit ehrbaren Frauen, die dann, wenn sie erführen, daß sie, die geschiedene Frau, jahrelang mit einem Manne zusammengelebt hatte, ihr eines Tages die Freundschaft kündigen würden? Sollte sie sich anreden lassen von Herren, die auf menschliche Beute ausgingen? Sollte sie Bekanntschaften machen im Theater? Sollte sie mit denen verkehren, die in gleicher Weise wie sie, ohne den Ring am Finger, ihre Liebe verschenkten, die sie verachtete, mit denen in einem Atem genannt zu werden ihr als eine Beleidigung erschien? Und doch, war sie denn nicht wie die?
Da ballte sie die Fäuste, stand auf und lief hin und her. Plötzlich kam ihr die Idee, sie mußte hinaus ins Freie, an die Luft. Sie ließ anspannen, band den dichtesten Schleier vor, und dann fuhr sie in dieser Nachmittagsstunde, an dem schönen, sonnigen Herbsttage die Champs Elysées hinauf, um den Triumphbogen herum, ins Bois hinein, am See hin und in die Alleen.
Es war noch nicht die gewohnte Stunde für die Spaziergänger, es war ziemlich still hier draußen. Einzelne Bäume trugen noch ihre Blätter, aber alle waren braun und welk, der Winter drohte einzubrechen.
Sie ließ sich unausgesetzt in der weichen federnden Viktoria hinfahren, sie lag regungslos in der Ecke, in den Kissen vergraben, die dicke Pelzdecke umgeschlagen, unerkennbar in ihrem dichten Schleier, das Gesicht geschützt vor dem frischen Luftzüge und vor dem Blicke der Menschen. Sie senkte den Kopf, sie dachte nach, immer in ihrem peinigenden Gedankengang. Sie erschien sich selbst wie ausgestoßen, kein Weg führte zu den übrigen Menschen zurück; die, von denen sie gekommen war, denen sie sich hätte nähern mögen, würden sie zurückgestoßen haben, und zu den andern, die sie aufgenommen hätten, wollte sie nicht den Weg hinuntersteigen.
Sie hatte das Bedürfnis, sich mit jemand auszusprechen, aber sie besaß keinen Menschen auf der Welt. Sie wollte über ihre Zukunft reden, von dem Toten sprechen, aber sollte sie dazu ihren Kutscher anrufen? Sollte sie halten lassen und einem von den Herren, die vorübergingen und der schönen Frau in dem eleganten Wagen nachschauten, sagen: ›Tröste mich, sprich mit mir, daß ich wenigstens eine Stimme höre! Kümmere dich um mich, ich will nicht allein sein! Ich kann nicht ewig allein sein!‹?
Ihre freigewählte Abgeschiedenheit kam ihr jetzt unerträglich vor. Sie wäre am liebsten ausgestiegen, wäre drüben in das Café gegangen, hätte sich an einen beliebigen Tisch zu andern Menschen gesetzt, zu fröhlichen Leuten und zu ihnen gesprochen: ›Nehmt mich mit an eueren Tisch, redet mit mir!‹ Oder sie hätte mit dem Kellner geschwatzt, wäre zu den Zigeunern getreten, die dort ihre wilden Weisen tönen ließen zur Unterhaltung der Gäste, und hätte ihnen sagen mögen: ›Ich bitte euch, nur ein Wort redet mit mir!‹
Wenn sie heimkehrte, was fand sie dort? Sollte sie mit der Köchin sprechen? Sollte sie ihre Jungfer zur Vertrauten erheben und ihr die Qualen ihres Daseins ausschütten? Sollte sie dem Mädchen, dem ruhigen, anständigen, bescheidenen Mädchen sagen: ›Mein Freund ist gestorben, mein Freund, wie du selbst vielleicht auch einen Freund hast! Es ist wohl nur der Diener oder der Kutscher, aus einem Hause in der nächsten Straße, mit dem du Sonntags ausgehst. Und doch bist du tausendmal besser daran als ich, denn er lebt, er lebt, und meiner ist tot, und die andern Menschen reden mit dir, und mit mir spricht niemand!‹
Sie fand immer noch keine Tränen, aber sie hätte es allen zurufen mögen: ›Léon ist tot. Er hat mich ganz allein gelassen! Ich bin ganz vereinsamt! Sprecht mit mir, irgend etwas, vom Wetter, von der Politik, von allen euren kleinen Nichtigkeiten des Daseins, die ihr euch gegenseitig erzählt.‹
Sie wollte Musik hören, um sich zu betäuben, wollte irgendwo in ein Konzert gehen, aber sie wußte, sie konnte nicht ruhig sitzen, sie hätte sich zusammennehmen müssen, um nicht einfach laut aufzuschreien. Vielleicht ginge sie besser in ein Theater, daß man ihr etwas vorspielte! Aber lustig mußte es sein, lustig zum Totlachen! Oder sollte sie es machen wie die, zu denen sie doch einmal gehörte, die am Abend soupieren gingen? Sollte sie im Café de Paris mit ansehen, wie an Nebentischen irgendeine Tänzerin im Prunk ihrer Brillanten saß und die Herren neben ihr sich gegenseitig den Rang abzulaufen versuchten? Hätte sie dann nicht irgendeinen anreden müssen und sagen: ›Setze dich zu mir, ich kann nicht allein bleiben!‹ Und was hätte er dann getan? Wäre er nicht frech geworden?
Da rief sie dem Kutscher zu:
»Nach Haus!«
Aber mitten auf den Champs Elysées gab sie den Befehl, weiterzufahren auf die Boulevards. Sie wollte Leben und Treiben um sich haben, sie wollte abgezogen sein durch den Lärm der Straße. Und sie fuhr und fuhr, und immer kamen ihr die Gedanken, als wäre sie von einer fixen Idee besessen: ›Du willst mit jemand sprechen, du willst sprechen!‹
Sie dachte daran, dem Begräbnis Léons beizuwohnen. Sie mußte ihm die letzte Ehre erweisen. Man konnte ihr die Stelle am Sarge nicht verbieten. Aber dann schreckte sie wieder vor dem Skandal zurück, dem Skandal, der in die Zeitungen käme, wie sie schon einmal durch den Schmutz der Blätter gezogen worden war, damals, als sie nach Paris floh. Und sollte sie diesen Leuten, dem dicken Mann und seiner braven Frau, die letzten Augenblicke am Sarge des Vaters verbittern? Sollte sie den Kindern, die die Erbschaft des Namens antraten, ihre Zukunft verderben? Nein, sie durfte nicht in den Kreis treten, sie war verfemt und ausgestoßen! Sie durfte mit niemand sprechen, ihr war Schweigen auferlegt für ihr ganzes Leben.
Der Wagen war auf die äußern Boulevards gekommen. Das elegante Treiben wich mehr und mehr dem Geschäfts- und Verkehrsleben. Sie sah an einer Ecke zwei gewöhnliche Frauen stehen, Bürgerweiber, wie es deren Tausende gab, sah, wie sie predigten, wie sie sich Dinge zuflüsterten und Gesichter schnitten, wie sie die Achseln zuckten und die Hände hoben, die Nächste oder den Nächsten wahrscheinlich richteten, sich all den armseligen Klatsch ihrer dürftigen Existenz mitteilend. Aber es waren doch zwei, die zueinander gehörten, die sich aussprechen durften, Leute derselben Klasse. Und wenn sie dazwischengetreten wäre, sie, die elegante Frau mit den Brillanten in den Ohren und mit dem teuren Pelz: die beiden wären auseinandergefahren, wären augenblicklich verstummt.
Immer und überall sah sie Menschen beieinander. Zwei Männer, die einen Handwagen zogen. Während sie sich keuchend in die Stränge legten, die tief in ihre Schultern schnitten, sich mühten, ihr Brot zu verdienen, sah sie, wie sie miteinander schwatzten.
Radfahrer kamen vorüber, zu zweien, zu dreien, dann eine ganze Menge, auf einem Ausflug begriffen; es einte sie das Band gemeinsamer Interessen, das das Leben erst erträglich macht.
Dann kam eine Kompanie der republikanischen Garde in ihren schmucken Uniformen vorbei. Ein Offizier führte sie, und keiner sprach, denn sie waren im Dienst, aber eins einte sie, die Kameradschaft.
Denise fuhr vorüber an den Omnibussen, auf deren Decksitzen die Menschen gedrängt saßen. Sie hatten die Füße aufgestemmt und teilten sich ihre Eindrücke mit, sie redeten von ihren Geschäften, sie gingen beim nächsten Haltepunkt auseinander und sahen sich vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht wieder, aber sie sprachen doch, sie redeten doch.
Denise ließ umkehren, und wie sie wieder die Boulevards zurückfuhr, traf sie elegante Paare: der Herr dicht an seine etwas auffallend gekleidete Dame gedrängt. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Der Mensch fand sich zum Menschen.
Dann kamen Ehepaare vorüber in eleganten Equipagen, tief sitzend, hoch die Rücksitzlehnen, daß man kaum die Köpfe darüber erblicken konnte, blasierte Leute, aus einer blasierten Ehe, die den ganzen Weg vielleicht kein Wort miteinander wechselten. Aber sie saßen doch beieinander im Wagen, sie gehörten doch zusammen, wenn sie auch tagsüber auseinander liefen; was sie einte, waren Geldinteressen, waren ihre Kinder.
Léon hatte Denise einmal vorgeschlagen, ihr eine Gesellschafterin zu halten. Aber Denise hatte es abgelehnt. Sollte sie eine Begleiterin um sich dulden, die schlechter angezogen war als sie, der man es ansah, daß sie die abgelegten Kleider der Herrin trug? Gab sich ein ebenbürtiges Wesen dazu her? Nein, nein, lieber allein!
Wie Denise die Boulevards zurückfuhr, sah sie immer und überall, wohin sie blickte in dem gewaltigen Getriebe den großen Paris, die Menschen vereint zu Paaren, zu dreien, in ganzen Gesellschaften.
Ein Pensionat ging dahin; bei der Großen Oper bogen die Zöglinge einer Priesterschule um die Ecke, die ihren regelmäßigen Spaziergang machten. Die jungen Leute gingen zu zweien, immer unterhielten sie sich. Wohin Denise blickte, waren die Menschen vereint; nur sie war allein, allein in dem ganzen großen Paris. Es war ihr, als gäbe es keinen Menschen auf der ganzen Welt so einsam wie sie. Sie empfand, wie es möglich war, in dem größten Menschengetriebe der Weltstadt sich grenzenlos allein zu fühlen, mehr als auf einer wüsten Insel.
Da kam ihr plötzlich ein Gedanke, und sie rief:
»Nach der Sainte Geneviève-Kirche.«
Sie wollte zu dem Priester. Er war der einzige, mit dem sie reden durfte. Er konnte es ihr nicht verweigern. In dem kleinen Stuhl, wo der Priester und der Gläubige vereint saßen, dort mußte er sie auch hören, das gebot sein Amt.
Die Pferde griffen aus, der Wagen schoß nur so hin, er hielt vor der kleinen Kirche. Sie schickte den Kutscher fort und trat ein.
Draußen strahlte die Herbstsonne und vergoldete alles mit ihrem Licht, drinnen war plötzlich Finsternis. Denise blieb am Eingang der Kirche stehen, netzte die Fingerspitzen mit dem Weihwasser, schlug das Kreuz und wartete einen Augenblick, um sich an das Dunkel zu gewöhnen.
Es war der Tag, wo der Pfarrer die Beichte entgegennahm. Sie näherte sich langsam dem Beichtstuhl, öffnete ganz die halb angelehnte, schwere geschnitzte Tür, und aus der Dämmerung des Gotteshauses huschte sie in das Dunkel der kleinen Zelle. Sie kniete nieder, legte ihren Mund an das Gitter und begann zu beichten.
Sie hörte die Stimme des Pfarrers, des Priesters mit dem feinen Gesicht und den glühend schwarzen Augen. Sie sagte die vorgeschriebenen Worte. Er stellte die Fragen. Dann ließ er sie reden. Sie schüttete ihr Herz aus, sie sprach mit ihm von ihrem ganzen Leben.
Sie holte weit aus. Sie bekannte sich schuldig, jahrelang dem Beichtstuhl ferngeblieben zu sein, sie beschönigte nichts, sie stieg in die Tiefe ihrer Seele hinab, sie gestand alles. Sie entwarf ein Bild ihres Daseins, woher sie gekommen, wer sie gewesen war, wie ihr Leben zerstört worden, wie sie, berufen, eine treue Gattin, eine liebende Mutter zu werden, verdorben worden war durch ihren Gatten. Sie verschwieg auch nicht, daß sie selbst schuldig geworden war. Sie beichtete ihre Liebe zu Henri, sie bekannte ihren Ehebruch, sie schonte sich nicht, sie legte dem Priester ein Bekenntnis der ganzen letzten Jahre ab, wie sie in einer Ehe gelebt hatte, ohne doch in der Ehe zu sein.
Während sie sprach, fühlte sie die Anwesenheit des andern Menschen, der schwieg, aber mit dem zu reden sie ein Recht besaß. Sie schüttete ihr Herz aus mit allen seinen Gedanken, mit dem trostlosen Gefühl der Einsamkeit und sagte dem, der hier an Gottes statt saß, was sie hergetrieben hatte: der eine Gedanke, daß sie allein wäre, grenzenlos allein auf dieser Erde.
Der Priester unterbrach sie nicht. Als sie geendet hatte, fand er kein Verdammungsurteil, vor dem sie in der Verzweiflung ihrer Seele vielleicht entflohen wäre. Er fand milde Worte, Worte des Mitleids mit ihr. Und er schloß:
»Mein Kind, Sie haben schwer gefehlt, aber Gott ist barmherzig und wird auch Ihnen barmherzig sein! Aber wenn Sie, wie Sie mir sagen, die Einsamkeit so voller Angst empfinden, so irren Sie, mein Kind. Kein Mensch ist einsam, denn allen steht Gott zur Seite. Und wer mit Gott und seinem Vermittler sprechen darf, kann nicht einsam sein. Sprechen Sie mit Ihrem Gott, legen Sie ihm im täglichen Gebet Ihr Herz zu Füßen. Denken Sie an die heilige Jungfrau, die da rein blieb und unangetastet. Demütigen Sie sich vor ihr, öffnen Sie ihr Ihre Seele, sprechen Sie, die Frau zur Frau, die Mutter zur Mutter, und Sie können nicht allein sein!«
Dann vergab er ihr, kraft seines Amtes, und erteilte die Absolution.
Als sie den Beichtstuhl verließ und langsam hinaustrat aus der tiefen Finsternis in die halbe Dämmerung der Kirche, war in ihr ein unsäglich glückliches Gefühl.
Sie trug den Jubel im Herzen, daß Gott ihr dennoch verziehen hatte, denn Gott war barmherzig.
Sie ging zwischen den Stuhlreihen hindurch, auf denen hier und da zu dieser Stunde eine Dame saß, die, zufällig vorübergehend, in die Kirche getreten war. Und vor dem Seitenaltar, wo die heilige Jungfrau thronte, setzte sie sich auf einen Strohstuhl, beugte das Haupt und fühlte süßen Frieden in ihre Seele ziehen.
Sie empfand, was der Priester gesagt hatte. Ja, sie war nicht allein; wenn auch verlassen von den Menschen, einte sie doch die Gemeinschaft mit ihrem Gott.
Lange blieb sie sitzen. Die erhabene Stille in der Kirche, in der nur ganz selten einmal ein schlürfender Schritt erklang oder ein Geräusch auf den Steinfliesen, das die hohe Wölbung der Kirche in dumpfem Echo wiedergab, tat ihr wohl.
Ein Weihrauchduft schwebte in diesen Räumen, der ihnen etwas gänzlich anderes verlieh als die übrige Welt dort draußen. Und Denise dachte, während sie ruhig da saß, das Haupt unter dem dichten Schleier tief gebeugt, an ihre Zukunft.
Sie malte sich aus, was bevorstand: das Begräbnis dort drüben in dem Minendistrikt, an dem sie nicht teilnehmen konnte. Sie empfand die Schmach, daß der Tote nun, wo er aus dem Leben geschieden war, wieder seiner Familie gehörte, daß er sie nichts anging, sie nicht an seiner Bahre knieen durfte, daß kein Gesetz die Verwandten hindern konnte, sie dort drüben vielleicht einfach aus dem Hause zu weisen. Sie hatte keinen Teil an ihm. Es war eine abgeschlossene Episode in ihrem Leben.
Dann wandten sich ihre Gedanken zu ihrer Tochter Lucy. Sie dachte an die Erbschaft, die ihr wahrscheinlich bevorstand, denn Léons Schwiegersohn hatte gesagt, er würde die Absichten des Vaters seiner Frau achten, da ja nur ein Zufall, sein jäher Tod, ihrer Ausführung zuvorgekommen sei. Sie sagte sich, da sie Bestimmtes nicht wußte: ›Vielleicht bin ich dann reich, und alles das wird meiner Lucy gehören.‹
Sie spann Gedanken, sie wollte sparen und vernünftig sein, wollte sich einschränken, wollte schwarze Kleidung anlegen und wie eine Witwe ihre Tage verbringen, nur mit dem einen Gedanken: ›Du wirst Geld häufen, und alles soll einmal Lucy zugute kommen!‹ Das schien ihr die Brücke zurückzuschlagen zu den Menschen. Sie besaß doch eines auf dieser Erde, ihr Kind! Sie wollte ihre Stunden teilen zwischen der Kirche und der Möglichkeit, für ihre Tochter zu sparen.
Mit diesem weltlichen Gedankengang erhob sie sich und schritt zum Hauptschiff, an dem Beichtstuhl vorüber, in dessen Schatten sie noch immer den Priester ahnte.
Sie trat auf die Straße, schloß die geblendeten Augen und ging ganz langsam nachdenklich hin. Sie betrat ihr Haus, setzte den Hut ab, dann ließ sie sich nieder in dem kleinen Salon, wo Léon immer an ihrer Seite gesessen, wo er seine Probereden für die Kammer gehalten hatte, wo sie zwar kein heißes Glück genossen, aber Heilung für ihr vom Leben zerstücktes Herz und stillen Frieden gefunden hatte.
Nichts regte sich, nur die Uhr tickte auf dem Kamin.
Sie saß noch da, als die Dämmerung einbrach, sie ließ nicht das elektrische Licht aufflammen, sie starrte vor sich hin. Dann stellte sie sich wieder, als es ganz dunkel geworden war, ans Fenster, umfaßte den Wirbel, lehnte das Kinn darauf und sah hinaus auf den Park Monceau, den rings die Laternen in langen Reihen umstanden, auf den die Paläste der Reichen niederschauten, in ganzen Fronten erleuchtet. Elegantes Leben, Luxus und Pracht! Darüber erhob sich in stiller Größe mit den von Minute zu Minute in ihrem Licht wachsenden Sternen der Nachthimmel.
Sie hatte ihn nie aufmerksam betrachtet, jetzt blickte sie empor, wie bei der zunehmenden Finsternis die Lichter dort oben stärker flimmerten, und sah einzelne Sterne zucken und beben, wie ein menschliches Herz, wie eine schwer atmende Brust.
Da dachte sie daran, daß dieses Licht – sie hatte das einmal irgendwo gelesen oder gehört – vielleicht seit Milliarden Jahren schon erloschen war und nur noch herunterleuchtete auf die Erde, weil das Licht so lange Zeit brauchte, um so unermeßliche Wege zurückzulegen. Es war also totes Leben. Es schien ihr wie ihr eigenes Herz, ein Zucken, ein Beben, nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Vergangenheit her, denn ihr Dasein lag längst hinter ihr, obwohl sie noch atmete.
Sie fühlte, auf dieser Welt hatte sie nichts mehr zu suchen. Sie vergaß in diesem Augenblick sogar ihr Kind, das sie sich nur noch vorstellte, wie es vor sieben Jahren als kleines schwarzäugiges Mädchen gewesen war, mit dunkeln langen Locken, und das heute wohl ganz anders aussah, das sie vielleicht gar nicht mehr wiedererkannt hätte.
Alle ihre Gedanken, die vorhin noch, sogar vor dem Altar, ihr Herz durchzuckt hatten: für Lucy zu sparen, waren wieder versunken, als wäre die Tochter für sie bedeutungslos. Liebte sie das Kind? War es nur dumpfe Einbildung? Ihr schien es fast wie etwas, das nur zu ihrem frühern Dasein in Beziehung stand, sie heute aber nichts mehr anging, etwas, das sie einmal zur Welt gebracht, einen Körper, den sie von sich gestoßen hatte, der zur Hälfte dem gehörte, der an dem Bruch in ihrem Dasein die Schuld trug.
Um die Kleine zu sehen, hätte sie betteln gehen müssen bei ihren Eltern oder bei Robert, hätte die Hände zusammenfügen und sagen müssen: ›Seid gut, laßt mich zu meinem Kinde!‹ Dann hätten sie vielleicht geantwortet: ›Eine Unreine, wie du bist, soll nicht die reinen Wege dieser Kleinen stören!‹
Es kam ihr vor, als wäre ihre ganze Liebe zu dem Kinde, die jahrelang geschlafen, nur eine Einbildung. Warum konnte die Kleine nicht tot für sie sein? Wenn sie nun wirklich gestorben wäre? Vielleicht war es so, und sie wußte es nicht einmal. Wenn sie nun dahingegangen wäre, wie jener Henri, von dem sie – seltsames Spiel des Herzens – kaum noch eine genaue Erinnerung bewahrte, jener Mann, der doch so tief eingegriffen hatte in ihr Leben, aber von dem sie jetzt nicht einmal mit Bestimmtheit hätte sagen können, wie er gesprochen, wie er ausgesehen hatte.
Und hatte sich Lucy denn um sie gekümmert? Hatte irgendeiner von all denen, die in ihr armes Dasein gegriffen, je wieder eine Hand nach ihr ausgestreckt? Auch nur einen Finger gerührt? Nein, sie war den Menschen nichts schuldig, keinem auf dieser Erde.
Da wehte sie ein Gedanke an: ›Wozu noch in diesem Dasein bleiben?‹ Sie wollte dieses Leben vergessen dadurch, daß sie Sorge traf, daß man sie vergaß.
Sie zog sich wieder an, setzte den Hut auf, band den dichten Schleier um, und abermals ging sie zur Kirche.
Sie glaubte, sie würde den Pfarrer noch im Beichtstuhl treffen. Vorsichtig schlich sie in dem Dunkel hin, aber der Stuhl war leer. Die Kirche lag verlassen da, kein Laut war zu hören, nichts rührte sich, nur die ewige Lampe zuckte in ihrem roten Gefäß. Da vernahm sie Tritte. Der Kirchendiener, ein alter Mann mit schlürfendem Gang, kam mit einem Stock daher, an dem sich ein Wachslicht befand, um die Kerzen anzuzünden. Denise trat an ihn heran:
»Ist der Herr Pfarrer zu sprechen?«
Der Mann sah sie erstaunt an. Dann sagte er, wie etwas Eingelerntes, etwas, das er vielen Besucherinnen seit Jahren so gesagt hatte, vielleicht nur einmal die Stunden abändernd:
»Der Herr Pfarrer nimmt die heilige Beichte entgegen von fünf bis sieben Uhr.«
Sie sagte dringend:
»Aber ich muß ihn sprechen!«
Der alte Mann, dem im Gleichmaß der Tage nichts dringend und eilig zu sein schien, meinte:
»Der Herr Pfarrer ist nicht mehr zu sprechen.«
Sie rief erregt:
»Aber wenn es nun einer wichtigen Sache gilt? Der Herr Pfarrer muß doch zu sprechen sein, er ist doch in seiner Wohnung?«
Der Alte ließ das Ende des Stockes auf die Marmorplatten sinken, daß es einen gellenden Ton in der Kirche gab, der sich mehrmals an den Wänden brach und zu den beiden im Echo wiederkehrte, und sagte ruhig:
»Ja, der Herr Pfarrer ist in seiner Wohnung.«
Sie befahl kurz:
»Führen Sie mich dorthin!«
Da meinte der Alte, holte dabei ein buntes Taschentuch hervor und schnaubte sich, trompetend, daß es abermals in der Kirche widerklang:
»Der Herr Pfarrer wird beim Essen sein und kann jetzt nicht.«
Sie flehte: »Aber wenn es nun eine dringende Sache ist, die keinen Aufschub erleidet!«
Der Alte war unerbittlich:
»Vielleicht morgen früh, nachdem der Herr Pfarrer die heilige Messe gelesen hat.«
Da antwortete sie so kurz, daß der Alte doch seinen Widerstand aufgab:
»Nein, hören Sie, jetzt, sogleich, es ist seine Pflicht!«
Der Alte blickte sie erschrocken an, wischte sich das rasierte Gesicht, auf dem die Stoppeln knisterten, steckte das Taschentuch zu sich und brummte nur:
»So, na, dann kommen Sie mit. Aber der Herr Pfarrer wird böse sein!«
Er ging voraus, und Denise folgte ihm mit zitternder Ungeduld. Er schlug nicht den geraden Weg ein, erst setzte er in der Sakristei, in die sie durch eine Tür vom Chor traten, den Stock mit dem Licht aus der Hand. Dann führte er sie durch einen Raum, in dem ein paar Schränke standen, worin man Priestergewänder und die heiligen Geräte aufbewahrte und eine Anzahl Bücher und Schriften in Reihen standen. Sie kamen in einen zwischen den hohen Mauern der Nebenhäuser gelegenen schmalen Hof.
Sie überschritten ihn, und hinten sah Denise erleuchtete Fenster. Als der Kirchner die Tür öffnete, ertönte eine Glocke. Sie standen in einem gewölbten Vorraum, in dem eine gotische Treppe emporführte. Der Alte drehte sich halb herum und sagte bedächtig:
»Warten Sie!«
Schlürfend stieg er die Treppe hinauf, sehr langsam einen Fuß vor den andern setzend; er hatte Zeit. Es dauerte eine Weile, man hörte Türen gehen, eine heftige Stimme klang, und Denise, die angestrengt lauschte, glaubte die des Pfarrers zu erkennen. Dann hörte man wieder schlürfen, und der Alte, der die Treppe sich sparen wollte, rief von oben herab:
»Kommen Sie!«
Denise stieg die Stufen empor. Der Gang war oben nicht erhellt, ihre Augen mußten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, und der Alte brummte:
»Rechts, rechts!«
Dann öffnete er eine Tür zu einem erleuchteten Zimmer, Denise trat ein.
Es war ein modernes Gemach, eine Bibliothek, rings von Büchern umbanden. Nichts verriet den Bewohner. Mittelalterliche Kunstwerke, ein paar Bronzen und Büsten waren aufgestellt, ein schöner flämischer Schrank zog das Auge auf sich. Der Kamin war mit einem Puttenfries umgeben, darauf standen allerlei Skulpturen. An den Wänden hingen Teller von Pallissy. Von der Decke schwebte ein wunderbarer altvenezianischer Kronleuchter herab. Man hätte nicht auf das Zimmer eines Priesters, sondern eines feinen Kunstkenners geschlossen.
Denise befand sich allein in dem Raum. Sie blieb an der Tür stehen. Einen Augenblick darauf klangen Schritte, und der Pfarrer erschien. Wie immer in seiner tadellosen Soutane. Die seidene Schärpe rauschte, die feine weiße Wäsche bildete einen Saum zwischen dem Dunkel des Kleides und dem dunkeln Gesicht. Der Pfarrer machte eine leichte Verbeugung und fragte:
»Gnädige Frau, was steht zu Diensten?«
Er lächelte dabei freundlich und rieb sich die Hände. Seine Augen zeigten nichts von dem düstern Feuer, das die tiefsten Geheimnisse der Seele entlockte. Er war ganz Weltmann, bot ihr einen Stuhl an, wartete, bis sie sich selbst gesetzt hatte, um dann erst Platz zu nehmen. Lächelnd wies er die Zähne, indem seine Lippen sich auseinandertaten. Als sie sagte, sie hätte ihn um einen Rat zu bitten, wurde er ernst und antwortete artig:
»Gnädige Frau, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
Da entschuldigte sie sich, daß sie ihn beim Essen gestört habe.
»Aber, bitte, das tut nichts, es ist ja kein Diner. Ob ich die paar Bissen schneller oder langsamer zu mir nehme ... Aber, gnädige Frau, wir wollen zurückkehren. Womit kann ich Ihnen dienen?«
Denise senkte die Augen. Sie begann langsam zu erzählen, knüpfte an die Beichte an, sagte, sie stände so allein in der Welt, hätte keinen Sinn mehr für die Freuden des Daseins, und in ihrer Verlassenheit wäre ihr der Gedanke gekommen, ob sie sich nicht von diesem ganzen Treiben, das sie anwiderte, zurückziehen könnte in die Stille eines Klosters.
Der Pfarrer nahm jetzt eine ernste Miene an. Indem er sich die Hände rieb und dabei auf seine wohlgepflegten Nägel sah, sagte er:
»Nun, das ist ein Wunsch, der verständlich ist; nur müssen die Beweggründe derart sein, daß sie den Ernst des Schrittes rechtfertigen.«
Sie nahm es wie einen Zweifel an ihr auf, aber er unterbrach sie und meinte, an ihrer guten Absicht zweifle er nicht im geringsten, nur genügte an und für sich der Gedanke des Sich-verlassen-fühlens nicht, um die Loslösung von der Welt zu rechtfertigen. Die frommen Schwestern verlangten anderes. Sie wollten nicht in einem Augenblick des moralischen Weltekels aufgesucht werden, sie verlangten ein tiefes Bedürfnis nach dem, was die Stille ihres erbaulichen Lebens einer armen Seele böte.
Er sprach über die Tragweite des Schrittes, er ermahnte sie, Herz und Nieren zu prüfen. Er sagte, indem sein Ton immer feierlicher ward, immer mehr der Priester aus ihm wuchs, indem seine Augen in seltsamem Feuer zu leuchten begannen:
»Es gehört eine große Überwindung dazu, ein tiefer Ernst, um alles hinter sich zu lassen, was die Welt geboten hat.«
Er redete davon, Gott wäre nicht damit gedient, wenn man den Kampf nur aus Verzweiflung aufgäbe, wenn man vor der Welt mit ihren Versuchungen fliehe, vielmehr müsse ein wirklich gläubiges Gemüt zu diesem Schritte treiben. Er schloß:
»Gnädige Frau, Sie müssen es sich überlegen. Wenn die Reue nachher kommt, ist es zu spät. Eine Reue darf aber gar nicht kommen! Wir haben Zeit, wir wollen die Sache noch einmal miteinander besprechen.«
Damit glitt er darüber hinweg. Es schien, als wolle er dem Gegenstand nicht näher treten, es war beinahe, als lehnte er ab. Er änderte wieder den Ton. Er sagte, er müsse erst in längerm Verkehr mit ihr stehen, den sie ja bisher – und dabei klang ein leiser Vorwurf heraus, und sein Mund spitzte sich spöttisch – mit der Kirche nicht gesucht hätte. Sie wäre ihm stets willkommen, sie möchte ihm nur die Bedrängnis ihrer Seele ausschütten. Er müsse alles wissen, er müsse sie ganz genau kennen. Um aber einen Menschen kennenzulernen – und dabei durchbohrten sie seine Augen, als wollten sie in tiefsten Gründen lesen – bedürfe es einer ganzen Zeit des Verkehrs, vieler Tage und Monate, vielleicht sogar Jahre.
Doch bald schien er einen Teil dessen wieder zurückzunehmen. Er meinte, einem sichern Blick bliebe es nicht verborgen, ob die Reue, ob der Gedanke an einer Abwendung von dieser Welt ernst sei.
Dann begann er von allerlei anderen Dingen zu reden, die ableiteten. Er sprach von den Verhältnissen in der Gemeinde, er redete von den schönen Nadelbäumen im Park Monceau. Es stellte sich heraus, daß er wußte, wo ihr Hotel lag. Er sagte, der Blick auf die Rasenflächen, auf die spielenden Kinder müsse heiter und hübsch sein. Er wußte von ihrem Kunstverständnis, und er schloß mit einem Lächeln und, indem er eine halbe Verbeugung machte, nicht als trüge er das Kleid des Priesters, sondern als wäre er ein weltlicher Mann:
»Ich habe auch großes Interesse für Kunst.«
Dabei stand er auf und rief, indem er auf eine Reihe von Fayence-Tellern an der Wand deutete, auf denen in naturalistischer Weise allerlei Amphibien dargestellt waren, Eidechsen, Frösche, Schlangen:
»Sehen Sie, auf diese Sammlung bin ich stolz! Ich habe eine ganze Anzahl Stücke zusammengebracht.«
Denise erhob sich. Ihr eigener Sammeleifer erwachte. Sie stellte sich neben den Priester, und sie sprachen über alles, was es hier Schönes gab. Er zeigte ihr ein geschnitztes Relief, etwa aus dem zwölften Jahrhundert. Auf einen Christus machte er sie aufmerksam, den er in Konstantinopel gekauft hatte.
»Denken Sie, nach Konstantinopel muß man kommen, unter die Heiden muß man geraten, um ein solches Stück zu finden! Ist das nicht sonderbar?«
Dann erklärte er ihr mit peinlicher Genauigkeit, wie er den Gegenstand aufgetrieben hatte. Er hob das Kreuz von der Wand, sie betasteten es beide, er zeigte mit malenden Gebärden, wie ein Künstler, was er daran schön fände, er sprach von dem Meister, von dem es vielleicht herrührte, ja dem es sogar sicher zuzuschreiben wäre. Er wußte Namen und Daten, er war ganz Sammler.
Endlich ging Denise. Der Pfarrer hatte ein Licht angesteckt und führte sie artig die Treppe hinab über den Hof bis an die Straße. Dort machte er eine Verbeugung. Denise stand draußen, von ihrer ersten Glut abgekühlt, in einem seltsamen Zwiespalt, sie begriff sich selbst nicht.
Die halbe Ablehnung des Priester, es habe Zeit, sie solle ihr Herz prüfen, das Hinüberspielen auf Dinge, die scheinbar gar nicht damit zusammenhingen, stachelte doppelt ihren Wunsch an. Und als sie ihr Herz prüfte, in ihrem Gebetbuch las, auf dem Schemel, die Hände ineinandergeschlungen, an ihr verlorenes Leben dachte und nun ihre Gedanken hinüberflogen nach Carmeaux, wo der Tote eben zu Grabe getragen wurde, kehrte ihr Gefühl immer brünstiger zu dem Gedanken zurück, diese Welt zu verlassen.––
Sie suchte Erbauung in der kleinen Kirche, sie kam früh, sie kam nachmittags, immer spähte sie nach dem Priester aus. An Sonntagen hörte sie von der Kanzel seine Worte, in die er jetzt oft Gedanken über Weltflucht einwob. Es war ihr, wenn seine dunkeln Augen die Zuhörermenge überflogen, als predigte er für sie, und sie nahm alles auf, was er sagte.
Sie suchte ihn wieder auf, diesmal am Morgen. Er sprach von ihrem Entschluß, er billigte ihn, aber er meinte wieder, es hätte Zeit, sie sollte die erste Trauer vorübergehen lassen, die sie eben so schwer betroffen hatte. In der Verzweiflung solcher Minuten dächte man manchmal anders als im Gleichmaß der Tage. Immer wieder sprach er von andern Dingen, und immer redete er ihr zu, sie möchte warten und ihr Herz prüfen. Eigentlich lockte er sie doch wieder und ließ sie nicht los.
Sie besuchte ihn oft, sprach über die Predigt, die er am Sonntag gehalten hatte, erzählte aus ihrer Vergangenheit, schüttete ihm ihr Herz aus, ohne etwas zu verbergen. Er hörte sie ruhig an, machte sie nicht schlecht, meinte, alles im Leben ließe sich büßen, der Trieb dazu schlösse schon drei Viertel der Verzeihung in sich.
Der Pfarrer gewann ihr ganzes Zutrauen, indem er beiläufig etwas erwähnte, in dunkeln Worten nur, als sei es ihm ähnlich ergangen. Er sagte, die Freuden dieser Welt wären ihm nicht fern gewesen, bekannte sich als Glied einer alten Adelsfamilie aus der Dauphiné und gestand, er hätte volles Verständnis für alles, was sie ihm erzählte. Aber immer wieder lenkte er ab und sprach über Kunstwerke. Er zeigte Radierungen, die er besaß, und der Schluß war jedesmal: ›Prüfe noch dein Herz und geh erst den Weg, der dir der rechte dünkt, wenn du weißt: ich bin stark und entschlossen.‹
Unter diesen regelmäßigen Besuchen verging die Zeit, der Winter neigte sich dem Ende zu.
Herr Duprez hatte Denise mitteilen lassen, für das laufende Jahr würde die Summe, die sein Schwiegervater zur Bestreitung ihres Aufwandes ausgeworfen hatte, weiter gezahlt werden. Dann trete etwas anderes an ihre Stelle. Es läge eine schriftliche Äußerung Herrn Bérangers vor, wonach er ein Kapital für Denise hatte bestimmen wollen, ein Kapital, über dessen Höhe sie selbst erstaunt war, dessen Zinsen ihr gestatteten, das bisherige Dasein fortzuführen.
Sie sprach davon mit dem Pfarrer, dem sie jetzt alles und jedes sagte. Sie äußerte die Absicht, diese Summe nicht anzunehmen. Das war das erstemal, daß sie von Geld und Geschäften sprachen.
Er war nicht ihrer Ansicht. Er meinte, es gäbe viele Bedürftige auf der Welt, Bedürftigere als die Familie eines reichen Minenbesitzers, und schlug ihr vor, die Summe für gute Zwecke zu verwenden. Er schloß, und dabei glänzten seine Augen in dem fast fanatischen Feuer, das aus ihnen loderte, sobald etwas die Kirche betraf:
»Betrachten Sie es als eine Buße, daß die Summe, die der Lust, dem Prunk, dem Vergnügen, die dem Bösen zugesagt war, gute Früchte tragen soll!«
Da kam er eines Tages, als sie ihn bat, ihr Scheiden aus dieser Welt zu veranlassen, zum erstenmal mit einem Vorschlag.
Denise war nachmittags zu ihm gegangen; sie hatte die Briefe des Notars mitgebracht. Eine Vollmacht sollte ausgestellt werden, die dem Pfarrer die Verfügung über ihren Nachlaß übertrug. Sie mußte eine Summe einzahlen bei den Dames de la Retraite, um ihren Unterhalt sicherzustellen und ihrerseits etwas zu tun, daß ihr dort auch der Frieden würde, den sie suchte.
Dann empfahl er ihr noch einmal dringend, sie möchte, ehe sie sich endgültig entschlösse, Herz und Nieren prüfen, ob sie dem wirklich gewachsen sei, dem sie entgegenging. Acht Tage müsse sie bei den frommen Schwestern in dem stillen Kloster zubringen, um zu sehen, ob sie, das Weltkind, sich würde hineinfinden können.
Sie fragte nur:
»Herr Pfarrer, wann?«
Er dachte nach, dann antwortete er langsam:
»Ich will heute noch hingehen und alles vorbereiten.«
Sie griff nach seiner Hand, sie wollte sie an die Lippen ziehen, doch der hagere, große Mann richtete sich hoch auf, zog seine Hand zurück und sprach mit seiner tiefen Stimme und dem feierlichen Ernst als Stellvertreter eines Höhern, wie im dunkeln Beichtstuhl:
»Mein Kind, ich erfülle nur die mir von Gott auferlegte Pflicht!«