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Ich muß nun in meiner Erzählung ein wenig zurückgreifen. Als die Sonne am Morgen nach dem Hurrikan über Manukura aufging, enthüllte sie fern vom Land eine Szene, die wohl seltsamer und schrecklicher war als irgendeine, die sich an jenem Morgen auf dem weiten Erdenrund abspielte.
Nur eine kaum spürbare Brise kräuselte die Oberfläche des Meeres. Draußen im offenen Ozean, weit hinter den Riffen von Motu Atea, trieb das Wrack eines großen Purau-Baumes dahin. Das harte Holz schwamm keineswegs gut, und obgleich der Stamm in einem Winkel von fünfundvierzig Grad auf dem Wasser lag, waren die weitausgebreiteten mannsdicken Wurzeln in dem klaren Wasser volle zwei Faden unter dem Meeresspiegel sichtbar. Auch die niedrigsten Äste waren tief untergetaucht, und an ihnen hingen, mit Seilen festgebunden, die Leichen dreier Frauen, eines Kindes und eines Mannes; in ihren Mienen drückte sich noch deutlich die Qual des Todeskampfes aus. Aber der Baum trug nicht nur tote, sondern auch lebende Fracht.
Als die Sonne groß und klar am Morgenhimmel aufstieg, der einen stillen, heißen Tag versprach, begann der Mann, der auf einem der oberen Äste hockte, das Seil, das ihn am Stamm festhielt, zu lösen. Er brauchte lange zu dieser Arbeit. Seine Finger waren so steif, daß er sie kaum benutzen konnte. Sein Gesicht war beinahe unkenntlich, und seine Augen waren blutunterlaufen, verquollen und halberblindet.
Der Mann war Terangi. Neben sich sah er seine Frau und sein Kind, ganz dicht an einen dicken Ast gezwängt. An einem etwas tiefer liegenden Ast, der infolge der Neigung des Stammes jetzt beinahe senkrecht stand, hing völlig bewegungslos, mit herabhängendem Kopf, Frau de Laage. Sie wurde durch ein Seil festgehalten, das unter ihren Armen durchgezogen war und ihren Körper mit dem dicken Baumstamm verband.
Schwer atmend hatte sich Terangi endlich so weit befreit, daß er sich ein wenig umdrehen konnte, um die lebenspendende Sonnenwärme auf sich wirken zu lassen. Eine halbe Stunde verging, ehe er sich kräftig genug fühlte, um noch ein Stückchen weiterzurücken. Marama und Tita waren am Leben, das wußte er, aber er fürchtete, daß Frau de Laage während der Nacht gestorben sei. Sein erster Versuch zu sprechen war nicht mehr als ein heiseres Rasseln in seiner Kehle, aber endlich gelang es ihm, seine Frau anzurufen. Sie hob den Kopf, wandte sich mühsam um und starrte ihn mit Augen an, die ebenso blutunterlaufen waren wie die seinen. Mit äußerster Vorsicht kletterte Terangi zu den beiden hinab.
»Bist du stark genug, um dich anzuklammern?« fragte er. Marama nickte, und er begann, an den Knoten des Seiles zu zupfen, das sie festhielt. Tita, die in den Teermantel ihres Vaters eingehüllt und dicht an ihre Mutter geschmiegt war, hatte nicht so sehr gelitten wie ihre Eltern, aber auch sie zitterte vor Kälte. Marama entkleidete sie und streifte auch ihr Obergewand ab, um ihren Körper rascher von der Sonne erwärmen zu lassen. Mit den gleichen langsamen und vorsichtigen Bewegungen kletterte Terangi sodann zu Frau de Laage hinab. Er fühlte ihr den Puls, der noch schwach schlug. Während er versuchte, sie in eine etwas bequemere Lage zu bringen, öffnete sie die Augen, ohne ihn aber zu erkennen. Terangi schüttelte den Kopf, als er zu Marama aufblickte.
Sie befanden sich kaum zehn Fuß über der Oberfläche des Wassers. Die See unter ihnen war tiefblau; sie glänzte im Widerspiel des Sonnenlichtes und war so klar wie das Wasser eines Alpensees. Marama warf einen Blick auf den unteren Teil des Baumstammes und erschauerte.
»Können wir sie nicht losbinden?« fragte sie.
Terangi schüttelte den Kopf. »Nein. Der Baum könnte sich umdrehen.«
Beide begriffen in diesem Augenblick erst so recht das Schreckliche ihrer Lage. Das Gleichgewicht des Baumes konnte in jedem Augenblick gestört werden. Wenn Haifische nach den Toten schnappten, so konnte es leicht geschehen, daß ihnen auch die Lebenden zur Beute fielen. Auch hatten sie weder Nahrung noch Wasser. Mittlerweile wurden sie von der Strömung langsam ostwärts getrieben. Das nächste Land in jener Richtung war die Insel Tatakoto, die etwa hundert Meilen entfernt war. Es war denkbar, daß der Baum an ein Riff dieses Eilands getrieben würde. Aber selbst dann würden sie vorher verdurstet sein – das wußte Terangi wohl.
Er klomm zum höchsten Ast, der stark genug war, um ihn zu tragen, und hielt Ausschau gegen Westen. Das Meer war mit Treibgut bedeckt, entwurzelten Bäumen, Palmwedeln und Trümmern aller Art. Auch Marama hatte sich erhoben und blickte in die gleiche Richtung.
»Siehst du das ... dort drüben?« fragte sie.
»Ich sehe etwas ... ich weiß nicht recht ...«
»Dort drüben liegt Motu Atea.«
»Wie weit?«
»Zwei Meilen vielleicht.«
Terangi bemerkte eine Planke, die nahe an dem Baum vorbeitrieb. Er ließ sich ins Wasser hinab, und als er bald darauf zurückschwamm, schob er die Planke vor sich her. Dann setzte er sich auf den Baumstamm, ein wenig unterhalb der Stelle, an der Frau de Laage angebunden war, lehnte sich an einen Ast und bemühte sich, dem Lande zuzusteuern. Die Planke war lang und schwer, und Terangi nahm seine ganzen langsam wiederkehrenden Kräfte zusammen, um dem Ziele näherzukommen. Nach einer Viertelstunde jedoch sah er ein, daß es zwecklos war; der Baum war dem Land keine zehn Meter näher.
Marama blickte auf Frau de Laage, die reglos in ihren Fesseln hing, und dann auf ihren Mann.
»Wird sie am Leben bleiben?«
Wer kann wissen, welcher Gedanke ihnen in diesem Augenblick durch den Kopf schoß? Sowohl Terangi als auch seine Frau waren ausgezeichnete Schwimmer. Unter normalen Umständen hätte es für sie nichts bedeutet, zwei Meilen schwimmend zurückzulegen, und Tita hätte sich an den Rücken des Vaters klammern können. Selbst in ihrem geschwächten Zustande wäre es ihnen nicht schwergefallen, das Land zu erreichen. Aber Frau de Laage hätten sie nicht mitnehmen können. Im Westen lag Motu Atea und die Rettung; im Osten das offene Meer und für sie alle ein schrecklicher Tod ... Mag sein, daß diese beiden Möglichkeiten ihnen in ihrer ganzen Bedeutung zum Bewußtsein kamen, aber sie sprachen nicht einmal davon. Sie blieben, wo sie waren.
Nach einer Weile sprach Terangi aufs neue. »Bleibt bei ihr, ihr beiden. Ich will ans Land schwimmen. Vielleicht finde ich ein Kanu oder einen Balken, um ein Floß daraus zu machen.«
»Geh rasch«, sagte Marama, aber ihre Stimme zitterte. Sie reichte Terangi den Teermantel in den das Kind gehüllt gewesen war. »Befestige ihn an der Planke. Auf diese Art hast du ein Steuer.«
Terangi tat es. Er legte seine Kleidung ab und reichte sie Marama hinunter. Jeder wußte, was der andere dachte. Die Wahrscheinlichkeit, am Ufer ein Kanu zu finden, war unendlich gering. Stunden würden vergehen, ehe Terangi auch nur das notdürftigste Floß zimmern und zurückkehren konnte; inzwischen würde es Nacht geworden sein. Wohin würde der Baum bis dahin abgetrieben worden sein? Wie sollte Terangi ihn wiederfinden?
Tita stand auf dem Ast neben ihrer Mutter, das kräftige Körperchen der Sonne ausgesetzt. Als ihr Vater langsam hinabkletterte, um sich ins Wasser hinunterzulassen, rief sie leise: » A hio na! Sieh nur, Vater!« Sie wies gen Norden.
»Was gibt es dort?«
»Ein Kanu. Siehst du es jetzt?«
Während eine Welle sie emporhob, blickte Terangi angestrengt in die Richtung des ausgestreckten Armes seiner Tochter. Mit seinen entzündeten Augen konnte er zuerst nichts erkennen, aber Marama sah das Boot. Als die Strömung sie das nächstemal emporhob, überzeugte sich die Mutter davon, daß Tita recht gesehen hatte. Terangi schwamm mit kräftigen Stößen in die Richtung, die Marama ihm anzeigte; dann endlich sah auch er das im Wasser treibende Kanu. Wieder verlor er es aus den Augen; dann, als er das Boot, das kielaufwärts dahintrieb, aufs neue erblickte, war es keine fünfzig Meter mehr von ihm entfernt.
Als er ganz nahe an das Fahrzeug herangekommen war, sah er, daß es unbeschädigt war und Platz genug für alle vier enthielt. Es mußte weggetrieben worden sein, als die Wellen begonnen hatten, das Land zu überfluten, und dann war es offenbar durch den Durchlaß im Riff gefegt worden. Nach langen Bemühungen gelang es ihm, das Boot umzudrehen. Dann zog er sich hinein und erreichte in kurzer Zeit den schwimmenden Baum.
Kein Wort wurde gesprochen. Mutter und Kind kletterten hinunter und stiegen in das Kanu, das Terangi festhielt. Dann entknotete er behutsam das Seil, mit dem Frau de Laage angebunden war, und ließ die bewußtlose Frau zu Marama in das Boot hinab. Sie betteten Frau de Laage in die Mitte des Kanus, stießen vom Baum ab und fuhren auf das Land zu. Als sie etwa den halben Weg zurückgelegt hatten, griff Marama ins Wasser, fischte einen umhertreibenden Palmwedel auf und benutzte den kräftigen Stengel als Ruder.
Nun waren sie bereits nahe der Brandung, die weißschäumend über das Riff donnerte. Terangi wartete einen günstigen Augenblick ab; dann gab er seiner Frau eine rasche Weisung und tauchte blitzschnell seine Planke ins Wasser. Beide ruderten mit aller Kraft. Das Kanu wurde von der Brandung hoch emporgehoben und schoß auf dem Kamm einer Woge durch den schäumenden Strudel über das Riff hinweg in einen Tümpel am Strande. Sie waren gerettet ...
Terangi sprang in das Wasser, das ihm bis zur Hüfte ging, packte das Kanu, ehe es kentern konnte, und zog es ans Ufer. Er trug Frau de Laage zu einer schattigen Stelle und bettete sie in den Sand.
Inzwischen war es beinahe Mittag geworden. Sie sammelten einige Palmwedel, flochten sie, banden sie mit einigen Streifen Rinde zusammen und errichteten auf diese Art ein kleines Schutzdach gegen die Sonne. Nachdem sie Frau de Laage dorthingetragen hatten, kniete Marama neben der noch immer bewußtlosen Frau nieder und rieb ihre Hände und Gelenke. Endlich tat die weiße Frau die Augen auf und blickte verwirrt vor sich hin. Sie stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, als Marama sie ein wenig hob, während Terangi ein Kissen aus kleinen Blättern, um die er sein Hemd gewickelt hatte, unter ihren Kopf legte. Einige Minuten später lagen Marama und Tita schlafend neben Frau de Laage. Terangi saß neben ihnen, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte auf das weite Meer hinaus. Viel später erst streckte er sich neben seiner Frau zum Schlummer aus.