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Dreizehntes Kapitel

Und wir kamen durch!

Wir überlebten auch diesen Tag, aber vorher bekamen wir noch einmal zu spüren, was ein Hurrikan ist. Doch darüber will ich nur kurz berichten. Es war schlimmer als im Boot. Ich denke heute noch nicht gern daran zurück, obgleich seither doch wirklich schon einige Zeit vergangen ist ...

Wir bereiteten uns so gut es ging auf den Sturm aus dem Süden vor; so eng keilten wir uns zwischen die Korallenblöcke, daß uns war, als seien wir selbst ein Teil davon. Tavi saß rittlings auf einem Felsstück und klammerte sich mit den Armen an einem anderen fest; er hatte sich über Hitia gebeugt, um ihren Körper mit dem seinen zu schützen. Arai saß hinter Tavi auf dem gleichen Felsen und hielt seine Hüfte fest umfaßt. Marunga hatte sich unter einen überhängenden Korallenblock gezwängt, der sich dann später für sie und das Neugeborene als guter Schutz vor den schlimmsten Regengüssen erwies. Sie lag auf der Seite, sorgsam in einen Seemannsmantel gehüllt. Taio und ich hockten in der gleichen Felsspalte; Kauka und Farani hatten auf ähnliche Art rechts von uns Schutz gesucht. Wir hatten uns auf der Nordseite des Felshügels eingerichtet und konnten von dort aus die schwarze Wolkenwand, die sich am Himmel bildete, nicht sehen, aber die plötzlich eintretende unnatürliche Dunkelheit sagte uns, was wir zu erwarten hatten. Sturm und Regen drangen fast zu gleicher Zeit auf uns ein, und wir hatten jetzt das gleiche zu erdulden, das die Flüchtlinge auf den Bäumen kennengelernt hatten. Ich geriet bald in einen so entsetzlichen Zustand würgender Erschöpfung, daß ich nur den einen Wunsch hatte, diese Qual möge ein Ende nehmen ... so oder so ...

Eine Stunde verging sicherlich, ehe die Regengüsse ein wenig schwächer wurden. Mittlerweile entstand aus dem Zusammenstoß des von Süden her blasenden Hurrikans mit der von Norden her anstürmenden See ein Aufruhr der Gewässer, wie ich ihn auch in meiner kühnsten Phantasie niemals für möglich gehalten hätte. Gewaltige Wasserpyramiden schossen gen Himmel, stürzten brausend und zischend aufeinander los, sanken hinab, bäumten sich aufs neue steil empor. Einmal wurde unser Felshügel von einem solchen Wogengewirr völlig überschwemmt; Arai wäre fortgerissen worden, hätte Tavi sie nicht mit eisernem Griff an den Haaren festgehalten. Ich glaube nicht, daß wir einem zweiten Ansturm dieser Art hätten standhalten können. – Um die Mitte des Nachmittags wußten wir, daß wir das Ärgste überstanden hatten, und bei Einbruch der Dunkelheit trat aufs neue völlige Windstille ein. Der Hurrikan verließ uns, um weiter gegen Süden neue Länder und neue Opfer zu suchen.

Dann tauchte am wolkenlosen Nachthimmel glitzernd ein Stern nach dem andern auf, und als dann auch der Mond aufging, beleuchtete er ein Bild, wie es trostloser auf der ganzen Erde nicht zu finden gewesen wäre. Man konnte ruhig sagen, daß Manukura aufgehört hatte zu bestehen. Zumindest gehörte die Dorfinsel als Wohnstätte für Menschen der Vergangenheit an. Von unserer Korallenklippe aus blickten wir hinab auf ... auf ... wie soll ich diese vom bleichen Mondlicht übergossene Leiche einer Insel nennen ...? Sie hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Streifen Land, der uns Heimat gewesen war. Nichts ließ erkennen, an welcher Stelle das Dorf gestanden hatte. Auch das Land selbst hatte das Meer zum Teil verschlungen. Aus dem, was früher eine Insel gewesen war, waren jetzt zwei geworden, geteilt durch einen Wasserlauf, der an die vierzig Meter breit war und von Riff zu Riff ging.

Die wenigen sturmgekrümmten Kokospalmen, welche die Katastrophe überdauert hatten, konnten nicht zerzauster und erschöpfter sein als wir. Auf keinem der Bäume war ein Mensch zu sehen. So einsam und verlassen standen sie da, wie wir selbst es waren ...

Aber wir lebten! Und niemals ist mir das Geschenk des Lebens wertvoller erschienen als in dem Augenblick, da ich wußte, daß ich mich seiner noch erfreuen durfte ... daß das Wort »morgen« wieder einen Sinn für mich hatte ...

Und ich wußte, wo ich an einem baldigen »morgen«, dem ersten möglichen »morgen« sein würde: auf einem Schiff, das mich nach Tahiti bringen sollte, wo ich sogleich um die Versetzung auf einen anderen Posten ansuchen würde. Keine Koralleninsel würde es mehr für mich geben ... nie wieder!

Wie rasch man doch vergißt ...!

Alle Insassen von Tavis Boot blieben am Leben. Ein wirkliches Wunder aber war es, daß Hitias Kind erhalten blieb. Das war Marunga zu danken und Tavis Seemannsmantel, der Großmutter und Enkel bedeckt hatte.

Noch mehrere Stunden nach dem Ende des Sturmes mußten wir auf unserem Korallenhügel ausharren, denn eine starke Brandung schäumte nach wie vor gegen das Riff. Wir konnten unsere verkrampften Glieder noch nicht ausstrecken; aber Hitia, Arai, Farani und Taio schliefen dennoch ein. Wenn junge Menschen müde sind, finden sie überall und in jeder Lage Schlaf.

Endlich wagten Tavi, Kauka und ich, langsam von unserem Zufluchtsort herabzuklettern. An manchen Stellen ging uns das Wasser noch bis zu den Knien, aber die See sank rasch, und das Land – das, was davon übriggeblieben war – tauchte allmählich wieder auf. Langsam, schweigend gingen wir längs des Lagunenufers dahin und überstiegen Barrikaden aus zu Boden gestreckten Baumstämmen, mit Wasser vollgesogenen Palmwedeln, Korallenblöcken und Trümmern aller Art. Zögernd blickten wir zu Boden, uns angstvoll fragend, was wir zwischen diesen Trümmern finden würden ...

Ich war zu müde, zu bedrückt von der entsetzlichen Stille und Öde ringsumher, um Hunger zu verspüren, obgleich wir seit dem frühen Morgen des Vortages keinen Bissen zu uns genommen hatten. Meinen Gefährten erging es nicht so. Der polynesische Standpunkt dem Essen gegenüber ist sehr gesund: seelische Erregungen dürfen die Speisegewohnheiten nicht stören. Tavi und Kauka durchsuchten die Stelle, wo Tavis Laden gewesen war, sehr sorgfältig und fanden schließlich, halb im Sand vergraben, eine Kiste Büchsenfleisch. Sie war aufgerissen, aber über zwei Dutzend Büchsen waren unversehrt geblieben. Mit dieser Beute beladen, machten wir uns auf den Rückweg zu den anderen.

Tavi hatte Streichhölzer in einer wasserdichten Schachtel bei sich, aber die umherliegenden Holztrümmer waren zu durchnäßt, um Feuer damit machen zu können. Wir legten eine Stelle frei, an der wir uns wenigstens im Sand ausstrecken konnten; dann erklommen wir aufs neue unseren Korallenhügel, auf dem wir nur Marunga wach fanden. Alle ihre Gedanken galten dem Enkelkind, das sie an ihrem Leibe barg. Als wir ihr herabgeholfen hatten, machten wir uns daran, die anderen zu wecken, aber das war keine leichte Arbeit. Tavi trug Hitia auf dem Rücken hinunter. Die junge Frau war bewundernswert tapfer. Während der ganzen Zeit war nicht ein einziges Mal ein Schmerzenslaut aus ihrem Munde gekommen, außer in dem Augenblick, als sie geglaubt hatte, ihr Kind sei tot.

Wir versammelten uns alle rund um Kauka, der die Konservenbüchsen mit einem Taschenmesser öffnete. Der Geruch des Fleisches machte nun auch mir Appetit. Wir aßen schweigend, heißhungrig wie Tiere – für jeden von uns gab es eine ganze Pfundbüchse. Sobald wir unsere Mahlzeit beendet hatten, streckten sich die jüngeren unter uns im Sand aus, und zwar, um sich zu erwärmen, ganz dicht beieinander; trotz ihrer nassen Kleidung schliefen sie sogleich ein. Marunga war todmüde, aber sie wollte nicht schlafen, weil sie fürchtete, das Kind zu verletzen; ebensowenig wollte sie das Kind einem anderen geben. Um sich wach zu halten, ging sie auf dem kleinen Platz, den wir freigemacht hatten, mit dem Neugeborenen auf dem Arm auf und ab.

Tavi, Kauka und ich saßen nebeneinander; wir sprachen wenig und mit leiser Stimme. Vor uns lag die vom Mond beschienene Lagune ausgebreitet, aber nicht als der friedliche, riffgeschützte See, den wir aus zahllosen glücklichen Nächten kannten. Die Lagune schien bis in ihre Tiefen aufgewühlt zu sein und noch immer die einander bekämpfenden Kräfte zu spüren, die so lange ihren Frieden gestört hatten; diese Kräfte aber vereinigten sich nun rasch zu einer einzigen: ein mächtiger, brausender Strom wälzte sich von Westen her durch den Durchlaß; er führte die Trümmer mit sich, die über die weite Oberfläche der Lagune verstreut waren. Bäume, Bretter, Palmwedel, zahllose Kokosnüsse trieben mit einer Geschwindigkeit, die uns schwindeln machte, an uns vorbei dem offenen Meere zu. Es blieb uns glücklicherweise erspart zu sehen, was der Strom sonst noch mit sich trug ...

Ich war gerade im Begriff, einzunicken, als ich durch einen Schrei aufgeschreckt wurde, der mir durch Mark und Bein ging. Er kam von Osten her, sehr schwach, wie aus weiter Ferne, aber ohne Zweifel war es der Schrei eines Menschen. Marunga hielt im Aufundabgehen inne und ließ sich mit einem Angstruf neben uns nieder. Der alte Kauka bebte wie Espenlaub und rückte näher zu Tavi hin, der den Kopf erhoben hatte und lauschend in die Richtung blickte, aus der der Laut zu kommen schien. Die Brandung donnerte fast ohne Unterlaß gegen die Küste, aber während einer sekundenlangen Stille zwischen dem langgezogenen Gebrüll der Wogen hörten wir wieder den schwachen, fast unwirklich klingenden Schrei. Es hätte die Stimme eines uralten Geistes dieses Landes sein können, der über die Verheerung seiner Insel wehklagte ...

»Vielleicht ein Gespenst«, wisperte Kauka mit zitternder Stimme. Wir warteten angestrengt lauschend, und wieder vernahmen wir den fernen Ruf. Tavi sprang auf. »Nein«, sagte er, »es ist ein Mensch. Kommt!«

Bis zu diesem Augenblick war uns der Gedanke gar nicht gekommen, daß es außer uns noch Überlebende auf der Insel geben könne. Niemand, so schien es uns, der sich nicht auf den Korallenhügel geflüchtet hatte, konnte den letzten Ansturm der See überlebt haben. Auf den wenigen übriggebliebenen Palmen, die wir von unserem Hügel aus sehen konnten, war keine Spur von Menschen zu entdecken gewesen, und ich brauche nicht erst zu erwähnen, daß wir seither auf dem uns zugänglichen Teil der Insel keinen Baum undurchsucht gelassen hatten. Es waren im ganzen nicht mehr als zwanzig.

Wir folgten Tavi im hellen Schein des Mondes und gingen auf den breiten Kanal zu, der die Insel nun in zwei Teile teilte. Er füllte das Bett bis zu den Ufern, und die Strömung wäre selbst für den besten Schwimmer zu stark gewesen. Wir gingen am Ufer entlang bis zum Meeresstrand, in der Hoffnung, eine Furt zu finden, fanden aber keine. So blieb uns nichts übrig als zu warten, bis das Meer noch weiter fiel.

Unterdessen riefen wir immer wieder und wieder, und endlich antwortete uns ein schwacher Ruf. Gleich darauf erspähten wir eine menschliche Gestalt mit einem Kind auf dem Arm. Aus dieser Entfernung konnten wir nicht erkennen, wer es war, und das Tosen der Brandung hinderte uns daran, uns mit dem einsam Umherirrenden zu verständigen. Ich eilte zurück, um meine kleine Arzneitasche zu holen, und verständigte Marunga von unserer Entdeckung. Dann lief ich zu Tavi und Kauka zurück, aber erst bei Tagesanbruch konnten wir es wagen, den neuentstandenen Wasserlauf zu durchqueren. Tavi ging als erster, meine Tasche mit einer Hand hoch über den Kopf haltend. Bis zur Mitte konnten wir waten, dann mußten wir schwimmen; Kauka und ich wären beinahe von der Strömung fortgerissen worden, aber schließlich erreichten wir doch alle glücklich das gegenüberliegende Ufer.

Dort fanden wir einen Mann mit seiner Frau und seinem fünfjährigen Sohn. Sein linker Arm war oberhalb des Ellbogens gebrochen; die Frau war durch umherfliegende Trümmer verletzt worden und nur halb bei Bewußtsein; allein das Kind hatte keinen Schaden genommen. Die Familie hatte während des Hurrikans auf einer Kokospalme, die der Vater uns zeigte, Zuflucht gesucht. Der Baum war so nahe daran gewesen, von den Fluten entwurzelt zu werden, daß er sich fast bis zum Boden gesenkt hatte.

Ich gab dem Mann und der Frau zunächst einmal einen kräftigen Schluck Branntwein und hätte ihnen sogleich erste Hilfe angedeihen lassen, wenn sie nicht von drei Leuten berichtet hätten, die sich noch auf den Palmen befanden. Zwei von ihnen seien sicher noch am Leben, aber zu entkräftet, um hinabzusteigen. »Wir können warten«, sagte der Mann mit schwacher Stimme. »Zuerst die anderen!«

Wir fanden sie bald, denn viele Palmen, die wir hätten durchsuchen können, gab es nicht mehr. Unter den Überlebenden war eine Frau mittleren Alters, die auf unsere Rufe mit leiser Stimme Antwort gab. Kauka klomm zu ihr hinauf und ließ sie an dem Seil, mit dem sie an den Baum gebunden war, herab. Sie war unverletzt, aber über alle Maßen erschöpft. Der zweite war ein junger Mann, der gräßliche Wunden erlitten hatte, als er vom Sturm gegen die Grundpfosten eines zerstörten Hauses geschleudert worden war. Dennoch war es ihm gelungen, sich bis zu einer Palme zu schleppen und sie zu ersteigen; er litt große Schmerzen, als wir ihn herabholten. Auf einer dritten Palme fanden wir eine Frau und ihren kleinen Sohn, die beide vor Erschöpfung gestorben waren. Den Knaben, der etwa drei Jahre alt war, hatte die Mutter an ihren langen Zöpfen festgebunden. Kauka ließ die beiden Toten langsam zu uns herab; dann hörten wir ihn einen Schreckensschrei ausstoßen. Er kletterte hinunter; mit der linken Hand hielt er sich an dem Seil der toten Mutter fest, mit seinen nackten Füßen umklammerte er den Baumstamm. In der rechten Hand hielt er ein aus Palmwedeln geflochtenes Körbchen, wir umstanden ihn alle, als er es öffnete. In ein sauberes Stück Baumwollstoff gehüllt, das wiederum in Segeltuch gewickelt war, lag ein vier oder fünf Monate altes Kind und schlief so friedlich wie in den Armen seiner Mutter ...

»Ich dachte, das Körbchen enthielte Lebensmittel«, sagte Kauka ganz gebrochen, »beinahe hätte ich es hinuntergeworfen!«

Diese sechs Überlebenden waren die einzigen, die wir fanden, so daß wir jetzt im ganzen fünfzehn waren. Manukura hatte hundertsechsundsechzig Einwohner gehabt. Etwa dreißig von ihnen hatten sich nach Motu Tonga geflüchtet; von denen aber, die auf der Dorfinsel blieben, waren nur wir fünfzehn dem Tode entronnen.

Ich hatte während der nächsten Stunden genug zu tun. Wir betteten die Verwundeten nahe dem Ufer in den Sand, und nach langen Bemühungen gelang es uns, ein Feuer anzuzünden. Ich machte mich an die Arbeit, verband, bandagierte und richtete Brüche ein, von Tavi aufs geschickteste unterstützt. Wir waren gerade damit fertig, als Kauka uns auf einen Seevogel aufmerksam machte, der über der Lagune kreiste, so hoch, daß wir ihn kaum erkennen konnten. Es war der erste, den wir seit dem Unwetter erblickt hatten, und wir sahen ihm zu, wie er nun seine Kreise zog, als suche er das grüne Land, das einmal seine Heimat gewesen war.

»Sollte mich nicht wundern, wenn es einer von meinen zahmen Vögeln wäre«, sagte Tavi, angestrengt in die Höhe blickend. Dann stellte er sich dicht an den Strand, stieß einen eigenartigen, hohen Schrei aus und schwang die Hände in gleichmäßiger Bewegung über dem Kopf. Der Vogel schoß steil herab, und bald konnten wir erkennen, daß es ein Fregattenvogel war. »Ja, es ist einer von meinen«, nickte Tavi, und als er ein buntes Band erblickte, das vom Flügel des Vogels herabflatterte, fügte er hinzu, »und zwar ist es der, der an Bord der Katopua war.«

Der große Vogel flog nun quer über die Lagune auf uns zu und ließ sich schließlich auf Tavis ausgestrecktem Arm nieder.

»Wahrhaftig!« rief Tavi. »Er hat eine Botschaft mitgebracht. Es ist etwas an seinem Fuß befestigt.«

Es war eine winzige zylindrische Hülse, die von einer wasserdichten Hülle umgeben war. Tavi zog ein Stückchen Papier heraus und reichte es mir. Die Nachricht war von de Laage geschrieben und an seine Frau gerichtet. Am Kopf des Blattes stand: »Vor Hao. 2 Uhr nachts, 21. März.«

»Ein Hurrikan ist im Anzug«, schrieb de Laage. »Kapitän Nagle glaubt, daß sein Zentrum Manukura berühren wird. Der Sturm wird euch vielleicht heute abend erreichen, benachrichtige sogleich den Häuptling. Er wird wissen, welche Maßnahmen zu treffen sind. Folge seinen Ratschlägen. Gib, um meinetwillen, gut auf dich acht. Sei unseretwegen nicht beunruhigt. Wir liegen auf der Leeseite von Hao sicher vor Anker.«

Tavi übersetzte Kauka die Botschaft.

»Er ist ein schlechter Bote, dein Vogel«, meinte der Alte, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Er hat Besseres zu tun gewußt, als geradewegs nach Hause zu fliegen und dabei dem Hurrikan in die Hände zu fallen«, sagte Tavi. »Es würde mich nicht wundern, wenn er bis Tahiti geflogen wäre, seit er die Katopua verlassen hat. Seevögel pflegen nach gebirgigen Inseln zu fliegen, wenn sie einem Hurrikan nicht ausweichen können.«

»Auf der Leeseite von Hao«, wiederholte Kauka nachdenklich. »Warum Kapitän Nagle wohl dort vor Anker gegangen sein mag?«

Ich hatte den gleichen Gedanken wie Kauka gehabt. Hao besaß eine bequeme Einfahrt in die Lagune, und das natürlichste wäre gewesen, innerhalb der Lagune Anker zu werfen.

»Ich kann mir vorstellen, wie es gewesen ist«, sagte Tavi. »Sie sind vermutlich von Amanu nach Hao gefahren und zu spät hingekommen, um noch die Durchfahrt zu wagen. Offenbar war auch dort das Meer schon sehr stürmisch. Deshalb hat der Kapitän wohl Hao umfahren und an der ruhigen Südseite Schutz vor dem aufsteigenden Sturm gesucht ... Wo aber mögen sie jetzt sein?« Er schüttelte besorgt den Kopf. »Nachdem der Sturm sich gedreht hat, muß er auch auf der Leeseite von Hao furchtbar gewütet haben.«

»Sie sind bestimmt zugrunde gegangen«, meinte Kauka. »Sicherlich ist die Katopua ein gutes Schiff, aber so einem Sturm kann kein Schoner Widerstand leisten. Ja, sie ist untergegangen mit Mann und Maus ... wir werden es erfahren, früher oder später.«

Diese Befürchtung hegte auch ich, aber Tavi wollte die Hoffnung nicht aufgeben. »Kapitän Nagle ist kein gewöhnlicher Seemann«, sagte er. »Er hat zwei Hurrikane mitgemacht, und ist beidemal davongekommen. Die Stürme waren nicht so schlimm wie der hier, aber schlimm genug! Nein, wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Wenn es auf der ganzen Welt einen Kapitän gibt, der mit einem Hurrikan fertig wird, dann ist er es!«

Tavi verlor keinen Augenblick die Zuversicht und ermutigte auch uns nach besten Kräften. Mit seinen zwei starken Beinen stand er fest auf dem bißchen Boden, das uns geblieben war. Ich weiß wirklich nicht, was wir an den ersten Tagen nach dem Unwetter ohne ihn angefangen hätten. Und dabei hätte er wahrhaftig genug Grund gehabt, den Kopf hängen zu lassen. Nicht nur sein Sohn Mako, der sich in dem zweiten Boot befunden hatte, sondern auch fast alle seine anderen Verwandten waren dem Hurrikan zum Opfer gefallen; ein jüngerer Bruder, zwei verheiratete Schwestern mit ihren Familien – Kusinen, Neffen, Nichten ... Aber er hielt seinen Kummer im Innersten seines Herzens verschlossen. Mako war der Augapfel seines Vaters gewesen, aber Tavi sprach nie von ihm. Wenn er seinen Gefühlen jemals freien Lauf ließ, so geschah es jedenfalls nicht in Gegenwart der anderen. Marunga war ebenso tapfer wie ihr Mann. Auch sie war durch Blutsbande oder Verschwägerung mit vielen Familien von Manukura verwandt, und im geheimen hat sie um alle sicherlich tief getrauert. Aber niemand sah ihren Kummer. Es war ein Glück für sie, daß sie ihre Tochter und ihr winziges Enkelkind hatte; die hielten sie in diesen Tagen aufrecht. Arai war unter den Überlebenden die Bedauernswerteste. Eine halbe Woche lang war die Arme fast wahnsinnig; ganz verstört ging sie umher und suchte überall die Leichen ihrer Eltern, Frau de Laages, Maramas und ihrer kleinen Nichte Tita ...

Nachdem das Meer wieder auf seinen früheren Stand zurückgesunken war, errichteten wir ein Lager jenseits der Schlucht, und zwar unweit der Stelle, an der sich Vater Pauls Garten befunden hatte.

Dieser grüne, schattige Garten, die Frucht eines halben Jahrhunderts liebevoller Mühe, war vollkommen zerstört worden; nicht ein einziger der Obstbäume des alten Priesters war erhalten geblieben. Aber infolge der Mauer, die ihn umgeben hatte, war an dieser Stelle die Erde nicht in solchem Maß weggeschwemmt worden wie anderswo.

Unter den Leichen, die wir bargen, war auch die Vater Pauls. Sie lag halb im Sand vergraben bei der Nordostecke der Kirche oder vielmehr des wenigen, das davon übriggeblieben war. Ein bißchen zerbrochenes Mauerwerk, kaum ein paar Fuß hoch, das war alles ... Wir begruben ihn möglichst nahe der Stelle, die er selbst als letzte Ruhestätte erwählt hatte. Alle, die dazu imstande waren, nahmen an dem einfachen Trauergottesdienst teil.

Damals sah ich Marunga zum erstenmal weinen. Sie saß auf der Erde, ihren Enkel auf dem Arm, und ließ ihren Tränen freien Lauf. Der alte Kauka sprach das Totengebet, und niemals habe ich ein schlichteres und würdigeres gehört oder eines, das mich mehr ergriffen hätte.

Ich wußte, was kein anderer der Anwesenden wußte: daß der Hurrikan neben all dem entsetzlichen Unglück, das er über uns gebracht hatte, auch ein klein wenig Gutes getan hatte. Wenigstens würde Vater Paul nun nie erfahren, was der Bischof ihm in seinem Brief mitgeteilt hatte. Sein Leben hatte geendet, wie er es sich gewünscht hatte, auf der Insel, die er über alles liebte ...

Am nächsten Tag fanden wir die Kirchenglocke; ihr Rand ragte teilweise aus dem Sand hervor. Sie war vor vielen Jahren von einer berühmten Glockengießerei in Belgien geliefert worden und war der Stolz des alten Priesters gewesen. Ihr Anblick ließ mich erschauern. Ich konnte mich nicht mehr genau ihres melodischen Klanges erinnern, wie ich ihn an so manchem Morgen oder Abend der Vergangenheit gehört hatte, als die Glocke die Bewohner von Manukura zum Gottesdienst rief. Nur das schwache, klagende Läuten klang mir im Ohr, das wir im Boot vernommen hatten, durch das Heulen des Windes und das Brüllen der Brandung hindurch. Tavi und Farani schienen sich ebensosehr wie ich davor zu fürchten, diesen Laut noch einmal zu hören. Sie schütteten mit sorgsamer Hand den Sand heraus, immer darauf bedacht, daß der Klöppel die Glocke nicht berühre. Als sie gereinigt war, befestigten wir sie an einer Stange und mit vereinten Kräften trugen wir sie zu Vater Pauls Grab.

Es war Tavis Idee, sie dort aufzuhängen. Ein Gestell aus schweren Balken wurde errichtet, um sie zu tragen, mit einem kleinen Schutzdach aus Wellblech darüber; Stroh wäre nicht haltbar genug gewesen. Es war wirklich ärmlich, dieses Dach aus zerbeultem Metall, aber es war das beste, das wir hatten, und es sollte ein Zeichen der dankbaren Erinnerung an unseren alten Seelsorger sein.

Endlich war die Glocke an ihrem Platz, und während der ganzen schweren Arbeit, sie dorthin zu schaffen, sorgten wir dafür, daß sie nicht den leisesten Ton erklingen ließe; am Abend aber schlug der Klöppel durch eine Unachtsamkeit Taios, des Sohnes Tavis, an die Glocke an. Der leise Klang erregte in mir ein Gefühl, das ich kaum ertragen konnte, und Tavi warf den Kopf zurück, als habe er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Er sprang auf und wies Taio mit strengen Worten weg. Der Klöppel wurde dann mit einer Hülle versehen, damit sich dieser Ton, der uns so schrecklich erschien, nicht wiederholen konnte.

Es war am Nachmittag des vierten Tages nach dem Wirbelsturm; Tavi und ich kehrten vom äußeren Strand zu unserem Lager zurück. Böse Tage waren es für uns alle gewesen, hauptsächlich mit der Suche nach den Toten ausgefüllt. Glücklicherweise waren die meisten von der See fortgetragen worden, aber zwanzig oder dreißig Leichen fanden wir doch zwischen den Trümmern; Tavi, Kauka, Farani und ich mußten sie begraben. Nicht nur Menschen fanden wir, auch Kadaver von Schweinen, Hunden, Katzen und Hühnern hatten wir im Sand zu verscharren, um sie den Blicken der Lebenden zu entziehen. Schließlich war die traurige Arbeit beendet.

Frau de Laages Leiche hatten wir nicht geborgen, und an dem Nachmittag, von dem ich sprach, sagte mir Tavi, daß wir sie wohl nie finden würden.

»Es ist besser, ich sage es Ihnen, Doktor«, begann er. »Ich wollte es Ihnen ersparen, aber Sie werden sicher darüber befragt werden, wenn Sie nach Tahiti kommen.«

Ich warf ihm einen raschen Blick zu. Er setzte sich auf den Stamm einer entwurzelten Palme und bat mich, neben ihm Platz zu nehmen. »Die anderen brauchen es nicht zu wissen«, fuhr er bekümmert fort. »Insbesondere meiner Nichte möchte ich es ersparen. Sie wissen, wie sie an Frau de Laage hing. Ich glaube, sie würde den Verstand verlieren, wenn sie erführe, was ich Ihnen jetzt sagen will.

Während Sie und Marunga im Bug des Reffbootes waren ... Sie wissen, als Hitias Kind kam, wurde der zweite der beiden alten Purau-Bäume nächst der Kirche weggeschwemmt. Eine große Welle riß ihn los und trug ihn mit sich in die Lagune. Dann verhüllte ihn der Regen und ich sah ihn nicht mehr, bis er keine zehn Meter vom hinteren Teil des Bootes entfernt wieder auftauchte. Die Strömung trieb ihn geradewegs auf den Durchlaß zu. Und mit ihm ... Frau de Laage.«

»Frau de Laage! Großer Gott!« rief ich erschüttert. »Nein, Tavi, das ist unmöglich. Sie war in der Kirche; dort ließ ich sie zurück!«

Tavi schüttelte den Kopf. »Das mag sein, und doch sah ich sie mit dem Baum dahintreiben. Ich sah es ganz deutlich, als er an unserem Boot vorbeischoß. Sie hatte ein rotes Kleid an ... erinnern Sie sich? Daran erkannte ich sie. Terangi, seine Frau und sein Kind hingen gleichfalls an diesem Baum. Ich weiß es sicher; es ist unmöglich, daß ich mich geirrt habe. Ich kenne Terangi. Er war nicht töricht genug, um in der Kirche zu bleiben. Sicherlich brachte er sein Weib und sein Kind dort unter, wo sie am ehesten gerettet werden konnten. Und er muß Frau de Laage mitgenommen haben.« – »Hingen noch andere Menschen an dem Baum?« fragte ich.

»Ja, mindestens fünf oder sechs. Einige Äste ragten über die Oberfläche des Wassers hervor, und Menschen klammerten sich daran ... Marungas Bruder Pietro war einer von ihnen, aber sie darf es nicht erfahren. Sie wurden ins offene Meer hinausgetragen, das ist gewiß, und dort sind sie ertrunken«, fuhr er fort, »und nun wollen wir nicht mehr davon sprechen ...«

Ich lag in jener Nacht noch lange wach, nachdem die anderen eingeschlafen waren. Sie werden begreifen, welches Grauen ich damals vor der Insel empfand, wie ernst es mir mit meiner Absicht war, die Tuamotus für immer zu verlassen. Kauka hatte recht, grübelte ich weiter – es bestand nur eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit, daß die Katopua einem solchen Sturm getrotzt haben konnte. Wann konnten wir die Ankunft eines anderen Schiffes erwarten? Die Regierung würde bald die Nachricht von dem Hurrikan erhalten und ein Schiff aussenden, um Nachforschungen anzustellen. Aber vor zwei oder drei Monaten würde es wohl kaum eintreffen – und diese Zeit erschien mir wie eine Ewigkeit.

Tavis Haltung überraschte mich; er war entschlossen, auf Manukura zu bleiben, und der alte Kauka hatte die gleiche Absicht. Der Polynesier klammert sich an seine Heimat, was immer auch geschehen möge. Solange noch eine Palme übrig ist und ein bißchen Sandboden unter seinen Füßen, verläßt er sie nicht. Nur der Tod kann ihn von der Heimat seiner Vorfahren losreißen.

Ich war überzeugt davon, daß die Insassen unserer drei Nothütten die einzigen Überlebenden der Katastrophe waren. Wir hatten weder Kanus noch die Hilfsmittel, um uns neue Boote zu bauen. Damit war uns die Möglichkeit genommen, die anderen Inselchen zu durchforschen. Übrigens waren die Rauchsignale, die wir in Richtung Motu Tonga ausgesandt hatten, unbeantwortet geblieben. Vor dem Hurrikan waren die Wipfel der Palmen von Motu Tonga von unserem Dorfe aus sichtbar gewesen, nun aber war am fernen Horizont nichts von ihnen zu sehen. Selbst wenn die Segelkanus ihr Ziel erreicht hatten, war anzunehmen, daß alle, die dorthin gelangten, ums Leben gekommen waren. An das noch weiter entfernte Motu Atea, wo damals niemand lebte, dachte ich überhaupt nicht ...

Dann muß ich eingeschlummert sein, und es dämmerte schon, als ich erwachte. Tavi stand über mich gebeugt und berührte meine Schulter. Ich erhob mich und rieb mir die Augen; ohne ein Wort zu sprechen, forderte er mich durch eine Geste auf, ihm zum Strand zu folgen.

Die anderen waren schon dort versammelt. In der Mitte des Durchlasses sah ich die Katopua!

Von einem ihrer mit sechs Ruderern bemannten Boote geschleppt, näherte sie sich uns in langsamem Tempo. Ihr Hauptmast war verschwunden; nur ein zersplitterter Stumpf ragte in Mannshöhe empor. Ganze Teile des Schoners waren weggerissen worden; er sah wie ein schwimmendes Wrack aus und er war auch eines ...

Als es allmählich heller wurde, sah ich Kapitän Nagle am Steuerrad stehen, und neben ihm den Gouverneur, den weißen Tropenhelm auf dem Kopf.

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, ehe der Schoner in der Nähe unserer drei Hütten vor Anker ging. Nicht ein Wort wurde während dieser Zeit gesprochen. Wir starrten die beiden Männer auf dem Achterdeck der Katopua an, und sie starrten auf uns und auf das Land hinter uns. Was in ihnen vorging, als es völlig Tag wurde und sie im erbarmungslosen Sonnenlicht den Zustand der Insel sahen und die wenigen schweigenden Menschen, die sie erwarteten – sich das auszumalen, überlasse ich Ihnen ...

Das Boot legte sich neben den Schoner, und Nagle und de Laage kletterten zu ihm hinab. Auch während sie an Land gerudert wurden, sprach keiner ein Wort. Der Gouverneur schien um zehn Jahre gealtert, aber es entging mir nicht, daß er frisch rasiert war. Ich trat vor, um ihn zu begrüßen. Mit einem seltsam leblosen Ausdruck im Gesicht, aber in seiner gewohnten strammen Haltung ging er mir entgegen. Er griff an seinen Helm, als er sich leicht gegen die anderen verneigte, dann reichte er mir die Hand.

»Alle?« fragte er mit heiserer Stimme.

Ich nickte, unfähig, ein Wort hervorzubringen.

»Frau de Laage ...?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er bat mich stumm, ihm an eine Stelle zu folgen, die außer Hörweite der anderen war. Mir war, als verlöre er während der wenigen Schritte, die wir zu gehen hatten, die Fassung, aber als er sich dann umwandte, um mich zu befragen, war keine Spur mehr davon zu bemerken.

Ich gab ihm einen kurzen Bericht über alles, was sich ereignet hatte, auch darüber, daß Frau de Laage der Aussage Tavis zufolge mit Terangi und den anderen auf einem Purau-Baum fortgeschwemmt worden sei. Sie werden begreifen, daß ich diese Mitteilung nur mit größter Anstrengung über die Lippen brachte, aber er befragte mich auf das eingehendste, und so war ich denn genötigt, ihm alles genau so, wie ich es von Tavi wußte, zu berichten. Er zeigte weder Erstaunen noch Interesse, als ich Terangis Namen erwähnte. Nach einem kurzen Schweigen fragte er mich, welche Vorkehrungen ich für das Wohlergehen der Überlebenden getroffen habe, und ob irgendetwas von Wert unter den Trümmern gefunden worden sei. Als ich ihm mitteilte, daß sein Kassenschrank geborgen worden sei, sah ich ein fast unmerkliches Aufflackern von Interesse in seinem hageren Gesicht.

Wir kehrten zum Strand zurück, wo ich mit Kapitän Nagle schweigend einen Händedruck tauschte. Er trug den Arm in der Schlinge, und obgleich er nicht viel Aufhebens von der Verletzung machte, fand ich, daß er eine böse Quetschung an der einen Hand hatte. Auf der Katopua war kein Todesopfer zu beklagen. Nagle schien keine Lust zu verspüren, über seine Erlebnisse zu sprechen, und ich stellte in jenem Augenblick auch keine Fragen an ihn.

Als ich die verletzte Hand des Kapitäns verbunden hatte, folgte ich ihm auf den Schoner. Der Kassenschrank des Gouverneurs war inzwischen an Bord gebracht worden. Aus einer kleinen Schublade, in der er amtliche Papiere verwahrte, zog de Laage eine Liste der Bewohner von Manukura heraus, die vor einigen Monaten für die Volkszählung angelegt worden war. Er saß am Tisch der Kapitänskajüte, einen Federhalter in der Hand, ein wohlgefülltes Tintenfaß vor sich, und war offenbar bereit, seine dienstlichen Pflichten wieder aufzunehmen. Er kam mir sehr rührend vor, wie er da saß, entschlossen, sich inmitten dieses Ozeans von Unglück an den Strohhalm der Statistik zu klammern.

»Die Namen aller Überlebenden, wenn ich bitten darf, Doktor«, sagte er mit dumpfer Stimme. Ich gab ihm die wenigen Namen bekannt – auch meinen eigenen vergaß ich nicht –, und hinter jeden schrieb er in seiner sauberen Handschrift das Wort vivant.

Dann las ich von der Liste, die ich tags zuvor mit Tavi auf irgendeinem vergilbten Blatt Papier angelegt hatte, die lange Reihe derer vor, die der Katastrophe zum Opfer gefallen waren. Hinter jedem Namen machte er die Bemerkung disparu, und seine Hand zitterte nicht einmal, als er schrieb: »De Laage, Germaine, Annemarie«.

Es hatte drei Mitglieder der Familie Matokia auf der Insel gegeben, und de Laage fügte zwischen die beiden anderen den Namen »Terangi« ein und notierte ihn als vermißt.

Als die traurige Arbeit beendet war, sagte de Laage: »Die Leute, die nach Motu Tonga fuhren, kann ich noch nicht endgültig einteilen. Wir müssen hinüber, sobald Kapitän Nagle seine Maschine wieder in Gang gebracht hat.«

»Ich fürchte, daß wir niemanden am Leben finden werden«, entgegnete ich. »Auf unsere Rauchsignale haben wir keine Antwort bekommen.«

»Immerhin können wir noch hoffen. Wenn die Maschine bis heute nachmittag noch nicht gebrauchsfähig ist, werde ich im Reffboot fahren.« De Laage räusperte sich, ehe er weitersprach.

»Ich sandte meiner Frau eine Botschaft, als wir wußten, daß der Sturm kommen werde. Können Sie ... können Sie mir sagen, ob sie angekommen ist?«

Ich berichtete ihm über die Rückkehr des Fregattenvogels nach dem Hurrikan. De Laage hörte ruhig zu; er hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte vor sich hin auf den Tisch. Obgleich er es durch kein äußeres Anzeichen erkennen ließ, wußte ich, daß es ein Mann mit gebrochenem Herzen war, der da vor mir saß ...

Ich war gerade im Begriff, mich von ihm zu verabschieden, als Tavi auf der Schwelle der Kajüte erschien. Er stellte einen prall gefüllten, durch Regen und Meerwasser völlig durchnäßten Koprasack auf den Boden. De Laage hob den Kopf und blickte den Händler fragend an.

»Ich wollte Ihnen das sogleich bringen«, erklärte Tavi. »Mein Sohn Taio hat den Sack gefunden. Ah Fongs Geld ist darin.«

»Sie haben vollkommen recht gehandelt«, nickte der Gouverneur. »Ah Fongs Geld, sagten Sie?« Den weitgereisten Tavi redete de Laage niemals mit dem landesüblichen »du« an.

»Ja, Herr Gouverneur. Er pflegte den Sack in einer Kiste unter seinem Bett aufzubewahren. Taio fand ihn in einer Wasserlache. Ich glaube nicht, daß irgend etwas erhalten geblieben ist außer dem Hartgeld.«

Auf de Laages Aufforderung hin leerte Tavi den Inhalt des Sacks auf den Fußboden aus. Unwillkürlich trat mir das Bild Ah Fongs vor Augen, wie er sich mit den anderen an das zur Hälfte weggeschwemmte Ankertau klammerte, kurz bevor das zweite Reffboot unterging und alle seine Insassen ertranken. Er war der einzige Chinese auf Manukura gewesen und hatte dort schon zu einer Zeit gelebt, an die sich nur die ältesten Leute erinnern konnten, zu einer Zeit, als man auf der Insel noch kein Brot aß. Ah Fong hatte, soviel man wußte, keine Verwandten, aber wie alle seine Landsleute im Exil hatte er davon geträumt, in die Heimat zurückzukehren, um seine alten Tage in Ruhe und Behagen zu verbringen und nach seinem Tode in der Erde seiner heimatlichen Provinz zu ruhen. Der Traum war nahe daran gewesen, Wirklichkeit zu werden, als der Hurrikan kam; der alte Mann hatte die Absicht gehabt, bei der nächsten Ausfahrt der Katopua Manukura zu verlassen.

Man hätte sich kein kläglicheres Erinnerungszeichen an ein Leben voll Mühe und Arbeit vorstellen können als den Haufen durchnäßten Geldes, der da vor uns lag. Es wäre verlorengegangen, wenn nicht ein Mehlsack voll kleiner Kupfer- und Silbermünzen den Schatz davor bewahrt hätte, in die Lagune geschwemmt zu werden. Sorgfältig in andere Säckchen eingebunden, fanden sich viele Bündel Noten der Banque de L'Indo-Chine, auf Beträge von fünf, zwanzig und hundert Francs. Das alles sah jetzt jämmerlich aus; von allem geborgenen Gut, das seit der Katastrophe zusammengetragen worden war, schien mir dies hier das nutzloseste und unverwendbarste zu sein. Der Gouverneur jedoch hatte große Achtung vor dem Geld, besonders vor dem der anderen, das ihm anvertraut war. Er ließ die einzelnen Banknoten vorsichtig voneinander trennen und trocknen und die zerrissenen zusammenkleben und lieferte den ganzen Betrag später bei der Staatskasse in Papeete ab. Ah Fongs Vermögen bezifferte sich auf mehr als achtzehntausend Francs. Was schließlich damit geschah, ist mir nicht bekannt. Am Nachmittag des Tages, an dem dieses Geld gefunden wurde, fuhr de Laage, da die Maschine der Katopua noch immer nicht in Ordnung war, im Reffboot nach Motu Tonga. Er nahm nur Kauka und vier Matrosen des Schoners mit. Ich mußte mich meinen Verletzten widmen, und Tavi hatte der Gouverneur während seiner Abwesenheit die Aufsicht über unsere verwüstete Insel anvertraut.

Wir blickten dem Boot nach, bis es nur noch ein kleiner Punkt war.


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