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Nächst der Kirche war Tavis Geschäftshaus das festeste und widerstandsfähigste Gebäude auf der Insel, und die meisten Bewohner des westlichen Dorfendes hatten dort Zuflucht gesucht.
Am frühen Nachmittag ging ich mit Farani, Tavis Schwiegersohn, ins Regierungsgebäude, um Frau de Laage und Arai zu holen. Während sie die notwendigsten Kleidungsstücke zusammenpackten, warf ich nochmals einen Blick auf das Barometer. Es war so dunkel, daß ich die schwache Linie, die auf dem Papierstreifen die Bewegung des Luftdrucks wiedergab, kaum erkennen konnte. Zu meinem Schrecken bemerkte ich, daß das Instrument auf 28.01 stand. Das konnte in diesen Breiten kaum etwas anderes als das Ende der Welt bedeuten ...!
Über das, was uns bevorstand, war nun kein Zweifel mehr möglich.
Tavis Laden war eine Viertelmeile vom Haus des Gouverneurs entfernt. Daß es uns gelang, diesen Weg zurückzulegen, erscheint mir heute noch als ein Wunder, denn der Sturm blies jetzt mit unvorstellbarer Gewalt.
Tavi machte, unterstützt von vier anderen Männern, verzweifelte Anstrengungen, innerhalb der zur Verfügung stehenden kurzen Zeit alle erdenklichen Maßnahmen zum Schutze gegen die drohende Gefahr zu treffen. Als wir kamen, war er gerade damit beschäftigt, eine neue Sendung Taue aus Manilahanf auf ihre Haltbarkeit zu prüfen. Draußen wurden inzwischen in größter Eile Kokospalmen gefällt. Die Gewalt des Sturmes war so groß, daß die Baumstämme schon nach wenigen Axthieben krachend zu Boden stürzten. Vier oder fünf hohe Stümpfe blieben zurück, an denen Tavi nun die Taue befestigte. Er hatte den Plan gefaßt, gemeinsam mit jenen Nachbarn und Freunden, die sich ihm anschließen wollten, den Hurrikan in seinen Reffbooten zu erwarten, die in geringer Entfernung voneinander im seichten Wasser der Lagune lagen.
Es waren schwergebaute seetüchtige Kanus, deren jedes etwa ein Dutzend Menschen aufnehmen konnte. Die Baumstümpfe, an denen die Taue befestigt wurden, sollten gleichsam als Anker dienen, und es leuchtete mir ein, daß sie mit ihren zahllosen zähen, faserigen Wurzeln, die sich weit und tief im Korallenboden ausbreiteten, die denkbar beste Sicherung boten.
Innerhalb einer Stunde waren die Vorbereitungen beendet. Nun nahm Tavi Frau de Laage und mich beiseite. Tiefer Ernst war über seine Züge gebreitet, als er uns beschwor, während der zu erwartenden Katastrophe bei ihm und seiner Familie auszuharren und uns ihm völlig anzuvertrauen.
»Ein Unwetter wird kommen, wie Manukura es seit Menschengedenken nicht erlebt hat«, sagte er. »Bleiben Sie bei uns, Madame, und auch Sie, Doktor! Die See steigt noch immer. Heute abend wird sie das Land überschwemmen. Wir haben Platz für mindestens zwanzig Menschen in den Booten, aber nur wenige sind willens, mir dorthin zu folgen. Sie setzen ihr Vertrauen in die Palmen. Hören Sie nicht auf diese Leute! Kommt mit uns, ihr beiden!«
Frau de Laage schüttelte den Kopf. »Nein, Tavi! Sie mögen mit dem, was Sie sagen, recht haben, aber der Gedanke, mich während des Sturmes einem Boot anzuvertrauen, jagt mir Angst ein. Ich setze meine Zuversicht in Vater Pauls Kirche!«
Tavi legte beschwörend seine Hand auf ihren Arm. »Madame, ich habe den Hurrikan auf Manihiki im Jahre 1913 mitgemacht. Auch damals war das Land vom Abend bis zum Anbruch des Morgens verschwunden. Alle, die jene Nacht in den Booten verbrachten, sind am Leben geblieben. Alle, die an Land blieben, gingen zugrunde.«
Aber Frau de Laage war nicht zu überzeugen. Was mich anbetraf, so teilte ich vollkommen ihre Ansicht, daß die Kirche mit ihren dicken Steinmauern der sicherste Zufluchtsort auf der Insel war. Aber mein Platz war bei Tavi und seiner Familie, denn Hitias schwere Stunde konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Tavi war zu feinfühlig, um in einem solchen Augenblick über seine persönlichen Sorgen zu sprechen, aber ich wußte, daß er mich bei sich zu haben wünschte, für den Fall, daß die Wehen seiner Tochter während des Hurrikans beginnen sollten. Ich sagte ihm, daß ich zurückkehren werde, sobald ich Frau de Laage zur Kirche begleitet hatte.
Unsere Unterredung wurde durch die Ankunft eines jungen Mannes unterbrochen, der, vom Regen völlig durchnäßt, hereinstürmte.
»Die See!« rief er. »An der tiefen Stelle ergießt sie sich schon über das Land. Alle, die in die Kirche wollen, mögen sich beeilen ... läßt Vater Paul euch sagen!«
In den Ecken der Veranda standen etwa zwanzig Leute, die noch unschlüssig waren, was sie tun sollten. Die Nachricht vom Herannahen der Flut trieb sie zum Handeln. Sie nahmen ihre Kinder auf die Arme, griffen nach den Bündeln mit ihren Habseligkeiten und machten sich auf den Weg zur Kirche.
Ich hatte mit Frau de Laage erst ein kurzes Stück Weges zurückgelegt, als uns Fakahau entgegenkam, der bereits auf der Suche nach uns war. Zahlreiche Eingeborene waren schon auf der Westseite der schluchtartigen Bodensenkung versammelt, die das Land von Norden nach Süden durchzog.
Die alte Brücke hatten die Fluten schon weggerissen; statt ihrer hatte man ein auf beiden Seiten an Baumstämmen befestigtes Seil zum Festhalten gespannt. Diesseits und jenseits waren junge Männer aufgestellt, um den Frauen und Kindern bei der Überschreitung behilflich zu sein. Unter denen, die auf der anderen Seite standen, befand sich Terangi. Frau de Laage blieb wie angewurzelt stehen, als sie ihn bemerkte; dann traf ihr Blick den meinen. Obgleich sie kein Wort sprach, erriet ich ihre Gedanken. Nicht nur Staunen lag in ihrem Blick, sondern auch Erleichterung. Aber als sie nun ein zweitesmal in die Richtung schaute, in der Terangi stand, verriet sie nicht einmal durch ein Zucken der Wimpern, daß sie ihn wiedererkannte. Sie war offenbar entschlossen, ihn nicht zu erkennen ...
Wir waren übrigens keine Minute zu früh an diese Stelle gekommen. Als wir gerade hinüberwaten wollten, brauste vom Meeresstrand wieder eine gewaltige Flut daher. Sie trug eine unbeschreibliche Menge von Trümmern mit sich und füllte die Schlucht fast in ihrer ganzen Breite und Höhe aus. Als sie vorüber war und sich schäumend in die Lagune ergossen hatte, nahm Fakahau Frau de Laage auf den Arm und eilte mit ihr hinüber; wir anderen folgten, so rasch wir konnten. Es gelang uns auch, durch das wieder seicht gewordene Wasser hindurchzuwaten und glücklich die andere Seite zu erreichen, ehe sich eine neue Sturzflut durch die Schlucht ergoß.
Wir betraten die Kirche durch die schmale Pforte an der Südseite, und die plötzliche Stille in diesem von starken Mauern umgebenen Zufluchtsort hatte für uns, die wir aus dem Toben der Elemente kamen, im ersten Augenblick beinahe etwas Unheimliches. Fast alle Frauen und Kinder der Insel waren hier versammelt, ebenso wie Vater Paul und einige alte Leute, die sich zu schwach fühlten, um sich draußen nützlich zu machen. Auf dem Altar brannten die Kerzen, und die kleinen Flammen warfen zuckende Schatten an die Wände. Das schwere Tor am Nordende des Gebäudes war geschlossen worden, und einige Männer waren jetzt damit beschäftigt, es mit Sandsäcken zu verrammeln. Die hohen gotischen Fenster ließen nur schwaches, düsteres Licht herein, und zwischen den Bänken, auf denen die alten Leute saßen, brannten einige Laternen.
Der Priester kam sogleich, als er uns erblickte, auf uns zu und nahm Frau de Laages Hand in die seine. »Gott sei Dank, daß Sie glücklich hier angelangt sind, mein Kind!« rief er bewegt aus. »Ich habe Angst um Sie gehabt. Wären Sie nicht gekommen, so hätte ich Sie selber geholt!«
Nachdem ich einige Worte mit Vater Paul gewechselt hatte, ging ich wieder ins Freie, denn es gab genug Arbeit für jeden arbeitsfähigen Mann. Die Eingeborenen sind von Natur optimistisch, und wie alle Optimisten schieben sie die nötigen Vorkehrungen gegen drohende Gefahren bis zum letzten Augenblick auf; aber auf ihre unbekümmerte Art gelingt es ihnen zumeist, dennoch bereit zu sein, wenn der entscheidende Moment kommt. Der Hurrikan hatte uns schon beinahe erreicht, und nun erst begannen die Männer von Manukura, die Palmen auszuwählen, die sie als Zufluchtsort während des Wirbelsturmes benutzen wollten.
Sowohl die allzualten als auch die ganz jungen Palmen wurden beiseitegelassen. Die Bäume, die man schließlich wählte, waren zwischen fünfunddreißig und fünfzig Fuß hoch, hatten gesunde, kräftige Wurzeln, und ihre Stämme wiesen keine verfaulten Stellen auf. Die Männer kletterten zu den Wipfeln empor, hackten die Wedel mit ihren Buschmessern ab und ließen nur kurze Stümpfe stehen, an die sie Seile befestigten, die ihnen beim Emporklettern behilflich sein sollten, wenn der Augenblick der Gefahr kam. In verschiedener Höhe wurden Taue zum Festhalten von Baum zu Baum gespannt, für den Fall, daß während des Emporklimmens zu den luftigen Sitzen gerade eine Woge das Land überschwemmte. Auch zwei nahe der Kirche stehende riesige Purau-Bäume wurden auf ähnliche Art hergerichtet.
Ich hatte hier und dort mit Hand angelegt, aber nun machte mich der Häuptling darauf aufmerksam, daß ich sogleich zu Tavis Haus zurückkehren müsse, falls ich überhaupt noch dorthin gelangen wollte. Ich gab ihm recht und muß gestehen, daß ich dem Weg, der mir bevorstand, nicht gerade mit Vergnügen entgegensah.
Ich eilte noch einmal in die Kirche, um mich von Frau de Laage und Vater Paul zu verabschieden. Der Priester ging unter den Mitgliedern seiner Gemeinde umher, sprach den Müttern und Kindern Trost zu und beaufsichtigte die Arbeit der Männer, die längs der Wände Bänke aufstellten, um den alten Leuten während der Nacht eine Liegestätte zu bieten. Er war so ruhig, als herrschte draußen das prächtigste Wetter. Gerade wies er mit einem kleinen Scherz eine junge Mutter zurecht, die in angstvolles Schluchzen ausgebrochen war.
»So, meine Tochter«, sagte er dann tröstend zu der jungen Frau. » Fakaoti ki te oti – Schluß mit den Todesahnungen! Hier seid ihr sicher. Gott wird uns nicht verlassen!«
Der ruhige, zuversichtliche Klang seiner Stimme gab auch mir neuen Mut und ich bedauerte tief, diese festen, schützenden Mauern verlassen zu müssen.
Rasch nahm ich Abschied. Bei der Pforte wandte ich mich um, um einen letzten Blick in die Kirche zu werfen. Das Sausen des Sturmes um den Kirchturm, die Gruppen der eng zusammengedrängten Frauen und Kinder im flackernden Kerzenlicht, der weißbärtige Priester, der in seiner verschlissenen Soutane tröstend von einem zum anderen ging, das alles zusammen machte einen tiefen Eindruck auf mich. Fakahau und Terangi erwarteten mich draußen. Es war eigentlich seltsam – Terangi und ich schienen einander so vertraut, als seien wir alte Bekannte.
Der Häuptling brüllte mir ins Ohr: »Terangi begleitet Sie, Doktor. Sagen Sie Tavi, er möge seine Familie hierherschicken ... mir zuliebe! Er ist verloren, wenn er sich den Booten anvertraut! Sie können den Hurrikan nicht überdauern! Und jetzt gehen Sie, Doktor, wenn Sie es nicht anders wollen!«
Wir warteten einen Augenblick und schauten auf die Wogen, die durch die Schlucht schäumten und Erde und Sand in die Lagune warfen. Dann berührte Terangi meinen Arm. Er wurde nun, da ihn die Kirchenmauern nicht mehr schützten, einige Meter fortgeschleudert, ehe er sich ducken und der Gewalt des Sturmes anpassen konnte. Ich folgte ihm und klammerte mich krampfhaft an die Stämme der Palmen, ohne die in der Luft umherfliegenden Trümmer zu beachten. Ich fürchtete in diesem Augenblick, selbst fortgeblasen zu werden wie ein Blatt im Herbstwind. Terangi hatte den Augenblick gut gewählt. Drei oder vier gewaltige Wogen hatten die Schlucht gerade durchströmt, und als wir hinkamen, ging uns das Wasser nur bis zur Hüfte. Aber auch so wäre ich von der Strömung in die Lagune geschwemmt worden, hätte Terangis starker Arm mich nicht gehalten.
Wir krochen mehr als wir gingen und hielten uns an allem fest, was irgendwelchen Halt bot, und so erreichten wir endlich Tavis Laden. Als ich die Straße hinuntersah, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß das Haus des Gouverneurs verschwunden war ... Nichts war von ihm übriggeblieben als die weißgestrichenen Steinstützen, auf denen das Gebäude geruht hatte.
Von Tavis Haus war der ganze der Wetterseite zugekehrte Teil des Daches weggerissen worden, und ich erwartete, daß der Rest im nächsten Augenblick denselben Weg nehmen werde.
Tavi hatte seine Familie auf der Veranda hinter dem Hause versammelt. Eines der Boote mit seiner armselig und verlassen aussehenden menschlichen Fracht tanzte schon auf den Wellen ... das andere war im seichten Wasser dicht beim Ufer befestigt.
Einen uns günstig erscheinenden Augenblick benutzend, lief ich mit Terangi dem Hause zu. Tavi packte mich beim Arm und zog mich hinein.
»Wir wollten gerade ohne euch gehen«, schrie er, »es ist höchste Zeit.« Ich brüllte ihm unter Aufwendung meiner letzten Lungenkraft die Botschaft des Häuptlings ins Ohr.
Er schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf. »In die Kirche? Niemals! Sie wird weggerissen werden, Doktor! Bei Einbruch der Nacht wird nichts mehr von ihr übrig sein!«
Einen Augenblick später war Terangi verschwunden. Nach ein paar Schritten hatte ihn der in Sturzbächen niederprasselnde Regen unseren Blicken entzogen.
Wir wagten nicht, noch länger hinter dem sturmgeschüttelten, wankenden Haus zu bleiben; die Wände drohten jeden Augenblick einzustürzen. Alle meine Gedanken galten jetzt Hitia. Sie können sich vorstellen, in welch entsetzlichem Zustand die arme Frau sich befand, aber ein Hurrikan nimmt nun einmal keine Rücksicht auf die Leiden der Kreatur ...
Tavi hatte seine Tochter sorgsam in Ölzeug gehüllt. Jetzt nahm er sie auf die Arme und lief mit ihr zum Boot; wir anderen folgten. Wir wateten durch das seichte Wasser und schwangen uns, einer nach dem anderen, über den Bootsrand. Das Boot wurde vom Ufer losgemacht; und bald lag es draußen neben dem anderen.
Kaum waren wir dort, als mehrere Wellblechplatten vom Dach des Hauses ganz dicht über unseren Köpfen durch die Luft flogen. Solche Platten sind höchst gefährliche Geschosse; ich kenne Fälle, wo Menschen von ihnen buchstäblich entzweigeschnitten wurden. Tavi stieß einen warnenden Schrei aus, aber wir alle hatten im gleichen Augenblick die Gefahr bemerkt und uns zwischen den Ruderbänken flach zu Boden geworfen. Eine Sekunde später setzte ein neuer gewaltiger Regenguß ein, und das Land war im Nu wie hinter einem dichten Vorhang verschwunden.
Inmitten eines tropischen Wirbelsturmes hat man nicht nur mit haushohen Wellen und mit Winden, die eine Geschwindigkeit von hundert Meilen und mehr in der Stunde haben, zu kämpfen, sondern auch mit dem durch den verminderten Luftdruck hervorgerufenen Steigen des Meeres. Der Teil der Insel, auf dem die Kirche stand, war etwa einen Fuß höher als das übrige Land, aber es dauerte dennoch nicht lange, bis die großen Wassermassen, die über das Riff geschleudert wurden, auch diese höhergelegenen Stellen erreichten. Aus eigener Erfahrung weiß ich natürlich nicht, was um diese Zeit auf dem Lande geschah, aber die Berichte, die ich später darüber erhielt, ermöglichen es mir, Ihnen ein klares Bild davon zu geben, wie sich alles zutrug.
Terangi gelangte unversehrt zur Kirche zurück. Um diese Zeit hatten alle in ihrem Innern Zuflucht gesucht, mit Ausnahme von Fakahau und einigen anderen Männern, die vor dem südlichen Eingang am Boden kauerten. Keiner von ihnen kleidete seine Befürchtungen in Worte, aber alle hatten die gleichen Gedanken. Sie hatten getan, was sie konnten. Nun blieb ihnen nichts übrig, als abzuwarten, was das Meer mit ihnen vorhatte. Das Brüllen der Brandung, die nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt über das Riff donnerte, machte sie fast taub, und der Gischt, der bis über das Dach der Kirche sprühte, entzog ihnen gleich einer dichten Nebelschicht die Aussicht auf die Umgebung. Von Zeit zu Zeit spähte ein Mann um die Ecke der Kirche, aber nichts war zu sehen als die nächstgelegenen Palmen, die sich unter der Peitsche des Sturmes bogen und wanden.
Und dann kam der Augenblick, in dem die Körper dieser Männer, durch die drohende Gefahr zu höchstempfindlichen Instrumenten geworden, ein Zittern des Bodens spürten, das nur auf einen Ansturm der feindlichen Elemente von bisher noch nicht erlebter Stärke zurückgehen konnte. Gleich darauf beleckte eine niedrige Woge die Mauern der Kirche; kleine Wasserzungen bildeten sich, die in den Sand zu ihren Füßen einsickerten.
Terangi wandte den Kopf, um den Häuptling zu suchen, der starr vor sich hinblickte. Sie warteten ... noch wollten sie nicht glauben, was sie doch mit eigenen Augen gesehen hatten ... daß der große Feind, die See, endlich gekommen war ...
Eine neue Woge folgte; sie war kaum stärker als die erste, aber sie wurde weiter landeinwärts getrieben und ergoß sich schließlich in winzigen Rinnsalen in die Lagune. Dann kamen in rascher Folge solche Wellen, dampfend, zischend, im Wind zerstäubend; fächerartig breiteten sie sich aus und gruben kleine Kanäle in den Sand, ehe sie den Blicken der Männer entschwanden.
Terangi lehnte sich zur Seite und brüllte dem Häuptling ins Ohr: »Hast du gesehen, Fakahau ...? Und noch ist das Auge des Sturmes weit entfernt! Die Kirche wird nicht standhalten ...«
Der Häuptling nickte. Die beiden Männer erhoben sich und betraten die Kirche; die anderen folgten. Schon waren schmale Bäche durch die beiden Eingänge des Gebäudes gedrungen; rasch bedeckte sich der Fußboden mit Wasser, in dem sich das Licht der Lampen und Kerzen spiegelte. Mütter, von ihren sich an sie festklammernden Kindern umringt, blickten mit schreckerstarrten Augen auf dies erste Anzeichen unmittelbarer Gefahr. Mit dicht an den Körper gezogenen Beinen saßen sie auf den Bänken, als glaubten sie in Sicherheit zu sein, solange das Wasser sie nicht berührte.
Vater Paul stand vor dem Altar, ein schluchzendes Kind auf dem Arm. Der Häuptling berührte seine Schulter.
»Vater, die Kirche bietet keinen Schutz mehr«, sagte er. »Wir müssen uns den Palmen anvertrauen.«
»Nein, mein Sohn«, entgegnete der Priester ruhig. »Ich habe diese Kirche mit Gottes Hilfe gebaut, auf daß sie dem Wind und dem Meere widerstehe. Sie wird uns schützen!«
»Kommt, Vater«, fügte Terangi in eindringlichem Tone hinzu. »Ich habe einen Platz auf einem der Purau-Bäume für euch bereit. Die Flut bedeckt bereits das Land, und noch immer steigt sie. Bald wird es keine Möglichkeit zur Rettung mehr geben. Alle, die hierbleiben, müssen ein Opfer der Wellen werden!«
Stellen Sie sich die Szene nur vor! Das Heulen des Sturmes, das sich mit dem Brausen des Meeres mischt, das Wasser, das unablässig steigt und jetzt schon bis zu Knöchelhöhe den Boden bedeckt ... Und stellen Sie sich auch, wenn Sie es vermögen, das unerschütterliche Vertrauen des alten Priesters zu Gott und seiner Kirche vor ...!
Vater Paul war nicht dazu zu bewegen, die Kirche zu verlassen, so ernst die beiden Männer, die seine Zuversicht nicht teilten, auch in ihn drangen. Aber er wollte auch niemanden dazu überreden, bei ihm auszuharren. Er stieg auf eine der Bänke, um zu den Anwesenden zu sprechen; sie drängten sich um ihn, um seinen Worten zu lauschen.
»Meine Kinder, der Häuptling glaubt, daß unsere Kirche uns nicht länger Sicherheit gewährt. Ich teile seine Ansicht nicht. Gott sieht uns. Er kennt unsere Not. Er wird nicht zugeben, daß wir zugrundegehen. Aber ein jeder von euch soll tun, was er für das Beste hält. Jene unter euch, die auf den Bäumen Zuflucht suchen wollen, müssen jetzt gehen. Gott segne und beschütze euch alle!«
So groß war das Vertrauen der Leute zu Vater Paul, daß viele beschlossen, in der Kirche zu bleiben. Einigen der älteren Leute blieb auch keine andere Wahl, denn sie waren zu schwach, um sich der Gewalt des Sturmes und des Regens auszusetzen. Der Abschied in jenem Augenblick, der mir später geschildert wurde, muß wahrhaft herzzerreißend gewesen sein, ebenso ergreifend für jene, die in das Unwetter hinausgingen, wie für die Zurückbleibenden, denn die einen wie die anderen wußten, wie gering die Hoffnung auf Rettung war ...!
Die Leute, die sich entschlossen hatten, die Kirche zu verlassen, drängten sich nahe dem südlichen Ausgang zusammen; sie waren zunächst nicht dazu zu bringen, weiterzugehen und damit den letzten Trost, der ihnen blieb – das Gefühl der Gemeinsamkeit –, aufzugeben. Erst den vereinten Bemühungen Terangis und des Häuptlings gelang es, sie zum Handeln zu bewegen.
Terangi nahm sein Kind auf den einen Arm, faßte mit dem anderen Marama und lief auf das nächste der Seile zu, die zwischen zwei Palmen neben der Kirchenpforte und den etwa dreißig Meter entfernten Purau-Bäumen gespannt waren. Sogleich verloren sie alles um sich her, mit Ausnahme der Seile, an die sie sich anklammerten, aus den Augen. Die Wellen, die das Land überschwemmten, gingen ihnen nun schon bis zu den Knien. Mühsam kämpften sie gegen den Sturm an, der ihnen wilde Sturzbäche von Regen ins Gesicht peitschte. Den Baum, der ihr Ziel bildete, sahen sie nicht, ehe sie ihn erreicht hatten.
Marama erklomm den untersten der dicken, knorrigen Äste; unmittelbar hinter ihr folgte Terangi mit Tita. Sie kletterten bis zu einer Stelle, die fünfzehn Fuß über dem Boden lag. Tita war in einen alten schwarzen Seemannsmantel gehüllt, der sie bis auf eine kleine Öffnung, durch die sie atmen konnte, völlig bedeckte. Stricke zum Festhalten waren vorbereitet; Terangi sicherte seine Tochter aber außerdem noch durch ein kräftiges Tau. Marama wurde auf die gleiche Art dicht hinter Tita angebunden, so daß sie das Kind in den Armen halten konnte. Einen Augenblick lang machte sie einen Arm frei, zog den Kopf ihres Mannes dicht an den ihren und schrie ihm ins Ohr: »Frau de Laage!«
Terangi nickte, kletterte rasch hinab und verschwand in der Richtung der Kirche.
In dem Gotteshaus herrschte im Augenblick seiner Ankunft wildeste Verwirrung. Das Blechdach war an mehreren Stellen geborsten, und gerade, als Terangi das Gebäude durch die kleine Pforte auf der Lagunenseite betrat, brach das hohe Fenster in der Nordwand; krachend ergoß sich ein Regen von zersplitterndem Holz und Glas. Die Kerzen waren ausgeblasen worden, als das Dach nachzugeben begann, und das einzige Licht, das noch brannte, war die Windlaterne, die Vater Paul an einen geschützten Platz unter den Altar gestellt hatte.
Auch der Häuptling war in die Kirche zurückgekehrt, um Hilfe zu leisten, nachdem er Mata, seine Frau, und seine jüngsten Kinder auf einem der Purau-Bäume untergebracht hatte. Terangi sah sich in dem halbdunklen Raum um, endlich erblickte er Frau de Laage, die auf einer Bank an der Wand saß. Er bemerkte sogleich, daß sie sich nur mit eiserner Willenskraft aufrecht hielt. Einige Frauen schrien und jammerten in grenzenloser Verzweiflung, andere bargen in stumpfer Ergebung den Kopf in den Händen. »Sie müssen mitkommen, Madame«, brüllte Terangi Frau de Laage zu. »Ihr Platz ist auf dem Purau-Baum bei meiner Frau und meinem Kind. Nur so können Sie sich retten!«
Sie blickte zu ihm auf, außerstande zu sprechen. Er ergriff ihren Arm und zog sie empor. »Kommen Sie«, wiederholte er und führte sie rasch zur Türe. Sie folgte ihm widerstandslos wie eine Nachtwandlerin. Als sie sah, was sie draußen erwartete, schreckte sie unwillkürlich zurück, aber er umfaßte ihre Hüfte mit starkem Griff. »Keine Angst«, schrie er. »Das Wasser ist nicht tief! Beugen Sie sich vor! ... So!«
Sie liefen auf die Seile zu, aber kaum hatten sie sie erreicht, als Terangi erkannte, daß er einen falschen Augenblick gewählt hatte. Eine Wasserwand, verhüllt von Gischt, wälzte sich von Norden her auf sie zu und spritzte hoch an den Stämmen der Palmen empor. Terangi packte Frau de Laages Hände, drückte sie auf das Seil nieder und bohrte sich förmlich in den Boden, um den Ansturm der heranbrausenden Wassermassen zu erwarten. Frau de Laages Haar, das in einer einzigen dichten Flechte um ihren Kopf lag, hatte sich während des Laufens gelöst. Terangi packte es gerade in dem Augenblick, als die Woge sich auf sie stürzte, und umklammerte mit der linken Hand, alle Kraft zusammennehmend, das Seil.
Beide verloren unter der Gewalt der Wassermengen, die über sie hinwegbrausten, den Boden unter den Füßen. Frau de Laage konnte dem ungeheuren Druck nicht standhalten. Sie spürte, wie sich ihre Hände vom Seil lösten, und gleich darauf wurde sie mit solcher Kraft an den Haaren emporgerissen, daß sie eine Sekunde lang glaubte, die Haut löse sich von ihrem Kopf. Aber Terangi lockerte den eisernen Griff erst, als die Flut über sie hinweggebraust war; dann nahm er die Frau auf den Arm, hielt sich mit der anderen Hand an dem Seil fest und erreichte so den schützenden Baum.
Als Terangi Frau de Laage an einen Ast, etwa zwölf Fuß über dem Boden, angebunden hatte, nahm er wieder seinen Platz neben seinem Weib und seinem Kind ein. Er hatte getan, was er konnte; nun mußte er sich denen widmen, die seiner Obhut anvertraut waren. Einen Augenblick lang ließ der Regen nach, und im trüben Licht der Abenddämmerung konnten sie nach beiden Richtungen ein Stück weit sehen. Etwa zehn Menschen hatten auf demselben Baum Zuflucht gesucht, und etwa ebenso viele befanden sich auf dem anderen Purau, der westlich von ihm lag. Es wäre noch Platz für einige andere gewesen, aber die meisten, welche die Kirche verlassen hatten, setzten größeres Vertrauen in die Kokospalmen. Durch den Wassernebel, der die Luft erfüllte, konnte Frau de Laage hier und da einen Blick auf die nächstgelegenen Palmen werfen. Zwischen den Stümpfen der Wedel sah sie eng zusammengepferchte Menschen hocken, während andere erst jetzt die Stämme hinaufkletterten.
Einige Eingeborene glaubten offenbar, daß der Hurrikan seinen Höhepunkt überschritten habe und das Schlimmste bereits überstanden sei. Übrigens sind die Gedankengänge dieser Menschen zuweilen für unsere Begriffe höchst absonderlich. Vielleicht fürchteten sie, daß es die Elemente zu noch größerer Wut reizen werde, wenn sie in den Wipfeln der Palmen Zuflucht suchten. Tatsache ist jedenfalls, daß viele der jüngsten und kräftigsten Männer sogar jetzt noch unten blieben und sich eng zusammengedrängt an den Seilen festhielten, während die Flut das Land überschwemmte. Die weiter oben Hockenden starrten im ungewissen Abendlicht auf sie hinab; ihre Warnungsrufe verhallten ungehört im Tumult des Orkans.
Beinahe gegen ihren Willen blieb Frau de Laages Blick auf fünf kleinen dunklen Gestalten haften, denen es bisher gelungen war, sich am Fuße der Palmen aufrecht zu halten, obgleich Woge auf Woge über sie hinwegrollte. Sie konnten oder wollten anscheinend nicht auf den Bäumen Schutz suchen. Entsetzt über den Anblick, schloß sie eine Sekunde lang die Augen.
Als sie wieder hinüberblickte, waren die fünf dunklen Gestalten verschwunden.
Und dann senkte sich Nacht über Manukura, eine Stunde sturmdurchtobter Finsternis, ehe der Mond aufging.