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Achtes Kapitel

Das Leben im Dorfe erwachte gerade, als de Laage das Haus des Häuptlings verließ. Er ging zum Strand und blickte über die Lagune. Sie lag leer und verlassen vor ihm, so weit sein Blick reichte, und schimmerte still im blassen Licht des frühen Morgens. Wenn Terangi sich auf dieser Insel versteckt hielt, so wollte de Laage dafür sorgen, daß er sie nicht unbemerkt verließ. Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, schrieb einen Bericht an seine Frau über das bisher Vorgefallene darauf und bat sie, ihm seinen Feldstecher zu senden. Er übergab das Notizblatt einem Knaben, der soeben vor einem in der Nähe gelegenen Haus auftauchte, und ging langsam auf und ab, bis der Junge zurückkehrte.

Unterdessen hatte Fakahau ohne Zögern die Weisungen des Gouverneurs befolgt. Boten waren nach beiden Richtungen ausgeschickt worden, und binnen einer Viertelstunde war die ganze Ansiedlung in lebhafter Bewegung. Erinnern Sie sich bitte, daß bis zu diesem Morgen niemand, außer Terangis nächsten Angehörigen, von der Anwesenheit des Flüchtlings auf Manukura wußte. Zur Zeit, als sich die Bevölkerung im Himiné-Haus versammelt hatte, wußte jedermann davon – das heißt, alle Erwachsenen und die heranwachsenden Kinder. Es bestand nun keine Notwendigkeit mehr, die Tatsache zu verheimlichen, übrigens auch keine Möglichkeit. Deshalb hatte Fakahau dafür zu sorgen, daß alle nicht nur über die Rückkehr seines Schwiegersohnes unterrichtet wurden, sondern auch über sein Versteck, eine Grotte, die den Namen Te Rua führte.

Die polynesische Methode, Neuigkeiten zu verbreiten, ist nicht nur erstaunlich rasch, sondern auch vollkommen geheim, wenn die Notwendigkeit dafür besteht. Trotz meines langjährigen Aufenthaltes in dieser Inselgruppe weiß ich bis heute nicht genau, wie sie das eigentlich bewerkstelligen. Nur wenig wird dabei gesprochen. Vielleicht wird durch die leichten kreisförmigen Handbewegungen, die Betonung, die jedem einzelnen Wort zuteil wird, alles Nötige ausgedrückt. Der Häuptling wußte, daß er auf die Verschwiegenheit und Treue seiner Leute vertrauen durfte. Kein einziger von ihnen würde bei der zweifellos beabsichtigten Suche das Versteck Terangis verraten.

Bald waren alle Kanus zur Stelle. Junge Männer und Knaben paddelten von beiden Seiten dem Teil des Strandes zu, der unmittelbar vor dem Himiné-Haus lag. In einer langen Reihe lagen die Boote dort, etwa fünfzig im ganzen, große und kleine. Es gab zwölf große Segelboote, deren jedes zwölf Mann aufnehmen konnte und die zur Beförderung der Kopra von den verschiedenen Inselchen zur Hauptinsel benutzt wurden.

De Laage ging noch immer am Strande auf und ab; er wachte sorgfältig darüber, daß seine Befehle ausgeführt wurden, sprach aber mit niemandem. Der Häuptling, nun sehr korrekt in einen blendend weißen Anzug gekleidet, mit der Schärpe, dem äußeren Kennzeichen seiner Würde, angetan, einen breitkrempigen Pandanushut auf dem Kopf, untersuchte jedes einzelne Boot.

Im Hintergrund, zwischen den Palmen, hatten sich die Frauen und Kinder und die älteren Leute versammelt. Sie können sich vorstellen, welches Staunen über die soeben verbreitete Nachricht unter ihnen herrschte; aber wenn Sie ihre Gesichter gesehen hätten, würden Sie keine Ahnung von dem gehabt haben, was in ihnen vorging. Ihren Mienen nach zu urteilen, hätten sie sich ebensogut für den Kirchgang an einem gewöhnlichen Sonntag versammelt haben können. Nur die Kinder zeigten Anzeichen von Erregung. Sie begriffen, daß sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte, wenn sie auch natürlich nicht wußten, um was es sich handelte.

Auch Vater Paul war anwesend, aber der Gouverneur tat, als sähe er ihn nicht. Ich hätte gerne gewußt, was in de Laage vorging; aber in so enger Berührung ich auch während all der Jahre mit ihm war, niemals gelang es mir, in eine auch nur einigermaßen vertrauliche Beziehung zu ihm zu kommen. Ich glaube, daß er Vater Paul so weit zugetan war, wie es ihm seiner Natur nach überhaupt möglich war, und doch zweifle ich daran, ob ihn der Geistliche besser kannte als ich. De Laage war sicherlich kein sonderlich empfindsamer Mensch, aber manchmal, zum Beispiel bei dieser Gelegenheit, hatte ich das Gefühl, daß er selbst unbewußt darunter litt, den Menschen, deren Oberhaupt er war, so völlig fremd gegenüberzustehen. Er verstand sie nicht im mindesten. Sich selbst gegenüber muß er das wohl manchmal insgeheim eingestanden haben.

Als alle Kanus eingebracht waren, erstattete Fakahau dem Gouverneur Meldung. De Laage zählte und überprüfte die Boote aufs sorgfältigste. Das große Segelkanu des Häuptlings fehlte natürlich. Der Gouverneur bemerkte es wohl, aber er sprach kein Wort darüber. Das Himiné-Haus ist bei den Polynesiern die öffentliche Versammlungsstätte der Dorfbewohner. In Manukura war es ein schönes offenes, an beiden Enden abgerundetes Gebäude; das Dach aus Pandanusblättern ruhte auf Säulen aus Tohonu-Holz. Es war fünfzig Fuß lang und fünfundzwanzig Fuß breit, und der Fußboden aus Korallensand war mit Matten bedeckt.

Alle Erwachsenen hatten sich nun dort versammelt. De Laage bestieg das kleine Podium; an seiner Seite befand sich der Häuptling, der als Dolmetscher dienen sollte. Ich war an jenem Morgen nicht nur als Zuschauer anwesend, sondern auch – wenn auch wider Willen – als Teilnehmer an den kommenden Ereignissen. Als die Versammlung eröffnet wurde, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was vorging. Die Eingeborenen unterrichteten mich natürlich nicht von dem, was sie durch den Häuptling erfahren hatten, und wenn de Laage mich auch bei meiner Ankunft begrüßt hatte, so teilte er mir doch nicht mit, wozu er mich benötigte. Er ersuchte mich nur, an seiner Seite auf dem Podium Platz zu nehmen.

Jedenfalls bereitete mir das Vergnügen, denn ich wurde nie müde, die Gesichter der Leute von Manukura zu studieren. Hier hatte ich sie alle beieinander, ließ meine Blicke von einem zum anderen schweifen und verglich die Versammlung mit anderen, denen ich auf den verschiedenen Inseln der Gruppe beigewohnt hatte.

Zwischen den Bewohnern dieser Inseln bestehen oft so große Unterschiede, daß man glauben könnte, es handle sich um Angehörige verschiedener Rassen. Dieser Anschauung über die Polynesier neigen übrigens viele Forscher zu. Sie unterscheiden auf den einzelnen Inselgruppen zumindest vier verschiedene Rassentypen. Es spricht auch kein Grund dagegen. Die Inseln wurden nacheinander durch mehrere Einwanderungswellen bevölkert. Wenn man sich der ursprünglichen Heimat dieser Menschen, vermutlich Indien, erinnert und an die vielen Inselgruppen denkt, die als Zwischenstationen dienten, so ist die Mischung durchaus erklärlich.

Immer, wenn de Laage eine Ansprache an die versammelte Bevölkerung hielt, redete er sie direkt an, als ob sie Französisch verstünden. Fakahau stand neben ihm, und jedesmal, wenn der Gouverneur eine Pause machte, wußte der Häuptling, daß nunmehr für ihn der Augenblick gekommen war, das soeben Gesprochene zu übersetzen. De Laages Miene war ernst und streng, und seine Haltung recht eindrucksvoll. In kurzen Worten unterrichtete er die Versammlung davon, daß der entsprungene Sträfling Terangi sich irgendwo auf Manukura versteckt halten müsse. Er beschuldigte die Eingeborenen nicht, davon Kenntnis zu haben. Vielmehr sprach er nur von Terangis hartnäckiger Weigerung, sich der Gefängnisdisziplin zu unterwerfen, und von den zahlreichen Ausbrüchen, die ihm durch die Milde der Behörden von Tahiti ermöglicht worden waren.

Terangi habe diese Güte aufs gröblichste mißbraucht. Ursprünglich sei er nur zu sechs Monaten verurteilt worden. Hätte er sich dieser Strafe ruhig unterworfen, so wäre er schon seit langem ein freier Mann. Durch seinen törichten Eigensinn habe er die Strafdauer um viele Jahre verlängert. Bei seiner letzten Flucht habe er einen Gefängnisaufseher getötet. Die Regierung sei fest entschlossen, den Flüchtling wieder einzufangen. Wenn nötig, würde sie das in Papeete stationierte Kanonenboot aussenden, um seiner wieder habhaft zu werden. Welche Haltung immer die Bevölkerung von Manukura dem Flüchtling gegenüber einnähme, jedenfalls sei es Pflicht jedes Mannes und jeder Frau auf dieser Insel, ihn, den Gouverneur, bei der Fahndung nach Terangi zu unterstützen. Er erwarte von jedem einzelnen, daß er diese seine Pflicht getreulich erfülle.

Die Leute lauschten in tiefstem Schweigen, und als de Laage geendet hatte, wurde weder eine Frage gestellt noch eine Bemerkung gemacht. Ich beobachtete insbesondere Tavi, der unmittelbar unter dem Podium saß, die riesigen Hände über dem mächtigen Bauch gefaltet. Er lauschte den Worten des Gouverneurs mit der gleichen ruhevollen Aufmerksamkeit, mit der er einer Predigt Vater Pauls zu lauschen pflegte. Die anderen hörten ebenso still und aufmerksam zu.

Sodann schloß de Laage die Versammlung und gab den Leuten die Weisung, außerhalb des Gebäudes seine weiteren Anordnungen zu erwarten. Und nun ersuchte er mich um meine Unterstützung bei der beabsichtigten Streife. Er selbst wollte die Expedition anführen, welche die eigentliche Insel Manukura durchsuchen sollte. Wenn Terangi dort nicht gefunden würde, sollte die Suche längs des nördlichen Riffs bis nach Motu Atea fortgesetzt werden. Mich hingegen bat er, eine zweite Expedition zu leiten, welche die entgegengesetzte Seite des Atolls, und zwar zunächst Motu Tonga, durchforschen sollte. Er drückte mir sein Bedauern darüber aus, daß er mich in Anspruch nehmen müsse, aber er könne keinem anderen vertrauen und zwei Expeditionen seien unbedingt notwendig, wenn man Terangi wirklich verhaften wolle.

Nie im Leben habe ich eine unangenehmere Aufgabe zu erfüllen gehabt. Sie lag vollkommen außerhalb meiner Pflichten als Amtsarzt, und außerdem stand ich mit meinen Sympathien ganz und gar auf Seiten Terangis. Aber ich konnte nicht ablehnen, das werden Sie begreifen. Sehen Sie, der Gouverneur war in einer schwierigen Lage. Die Streife mußte unternommen werden, und einem Eingeborenen konnte die Führung einer der beiden Expeditionen nicht anvertraut werden. Der Häuptling sollte im Dorf zurückbleiben. Meine Partie bestand aus fünfundzwanzig Leuten – Männern und jungen Burschen. Wir machten uns in den beiden Reffbooten auf den Weg nach Motu Tonga. Jedes Boot hatte sechs Ruder, aber es wehte eine frische Brise, so daß wir uns der Segel bedienen konnten.

Tavi war unter meinen Leuten und sein Schwiegersohn Farani, ein junger Mann von zwanzig Jahren. Da ich bereits fünf Jahre in Manukura lebte, kannte ich natürlich jeden einzelnen Bewohner. Ich war für sie alle Taoté – das ist der polynesische Name für einen Mann, der die Kranken heilt –, und mit der Zeit hatte ich es so weit gebracht, daß sie mir alle uneingeschränktes Vertrauen entgegenbrachten. Es ging mir gewaltig gegen den Strich, einer solchen Unternehmung vorstehen zu müssen. Ich wußte wohl, mit welchem Widerwillen die Leute sich daran beteiligten. Nichtsdestoweniger war es meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß der Streifzug mit aller Gründlichkeit durchgeführt werde.

Am westlichen Ende von Motu Tonga, auf der Lagunenseite, war eine reizende Bucht, die für gewöhnlich als Landungsplatz diente. Wir erreichten sie in anderthalb Stunden. Ich muß jetzt noch lächeln, wenn ich an jenen Morgen zurückdenke und mich inmitten all dieser Leute sehe. Zeremonien spielen eine große Rolle im Leben der Polynesier, und alle gemeinsamen Unternehmungen müssen durch eine geziemende Rede eingeleitet werden. Ich war damals recht zufrieden mit mir ob der kernigen, geradlinigen Art, in der ich zu meinen Leuten sprach.

»Terangi wird gefangen werden, das ist sicher«, sagte ich, »er hat keine Möglichkeit, dem weitreichenden Arm der Behörden zu entrinnen. Wie immer wir auch persönlich über seine ungerechte Bestrafung denken mögen, durch den Versuch, ihn zu schützen, könnten wir ihm nur schaden. Wir haben eine unangenehme Pflicht zu erfüllen, aber wenn wir es nicht tun, so wird, wie der Gouverneur gesagt hat, die Behörde von Tahiti ein Kriegsschiff nach Manukura entsenden. Terangi können wir durch eine Weigerung nicht nützen, über unsere Gemeinschaft aber schweres Unheil heraufbeschwören.«

In dieser Tonart sprach ich immer weiter und weiter. Ich glaube, der Gouverneur hätte der Stimme der Pflicht, die sich da den Mund des Amtsarztes als Sprachrohr erwählt hatte, seine Anerkennung gezollt ...

Und dann schickten wir uns an, jener Pflicht Genüge zu tun. Ich entfaltete meine Schlachtlinie, indem ich die Leute in einer langen Reihe quer über das Motu von der Lagune bis zum offenen Meer formierte. Ich selbst hielt mich in der Mitte, um Abstecher nach beiden Richtungen machen zu können und auf diese Art die Männer unter ständiger Beobachtung zu haben. Mittels meines Feldstechers behielt ich auch die von mir entfernteren Leute ununterbrochen im Auge. Ich war überrascht über die Gründlichkeit, mit der sie an ihre Arbeit gingen, ganz besonders über Tavis eifrige Mitwirkung. Sie suchten wirklich und mit großer Sorgfalt. Selbst das kleinste Gebüsch wurde durchstöbert, ja sogar jeder einzelne alte Tou-, Pukatea- und Purau-Baum. Diese Bäume und die vereinzelten Kokospalmen kamen am ehesten als Verstecke in Betracht. Ich sorgte dafür, daß sie genau untersucht wurden, ebenso wie das dürftige Gestrüpp. Zum größten Teil aber war die Insel kahl und vom inneren bis zum äußeren Strand klar zu übersehen. Obgleich ich genau aufpaßte, sah ich keine anderen Fußspuren im Sand als jene, die ich mit Recht für unsere eigenen hielt. Wenn ich auch natürlich nicht überall zugleich sein konnte, so war ich doch, nachdem wir das östliche Ende von Motu Tonga erreicht hatten, davon überzeugt, daß Terangi nicht dort sei. Ich hatte vier junge Männer beauftragt, die Boote zum Ende des Inselchens zu bringen. Sie erwarteten uns schon, und sogleich machten wir uns auf die Weiterfahrt längs des Riffes nach Motu Atea. Atea ist ein Name, den ich liebe, er bedeutet »weit entfernt« und paßte gut für das Inselchen, welches das äußerste Westende der Lagune von Manukura vom Meer abschließt. Es liegt, wie ich bereits sagte, zwanzig Meilen vom Dorf entfernt und ist von Motu Tonga aus nicht sichtbar.

Zwischen den beiden Inseln erstreckt sich viele Meilen weit kahles Riff, gegen das die Wogen des Pazifik schäumend anstürmen, um dann, vom Wind verweht, sprühend zu zerstäuben. Es gibt so manchen unvergeßlichen Anblick auf dieser bunten und vielgestaltigen Erde, aber wohl keinen, der eindrucksvoller und auf fast furchteinflößende Art erhabener wäre als der Kampf der Brandung mit dem Riff einer Koralleninsel, von einem kleinen Boot aus gesehen. Am besten kann man dieses Schauspiel von der Lagune ganz dicht am Riff aus beobachten. Auf allen Inseln der Tuamotugruppe fällt das äußere Riff mit erstaunlicher Steilheit in die Tiefe des Meeres ab. Ganz nahe am Ufer schon muß man das Senkblei Hunderte von Faden tief hinablassen, ehe man auf Grund stößt. Daher hat man das Gefühl, als ob die Wogen mit ungeheurer Gewalt geradewegs auf einen losstürmen, und der schmale Streifen des Riffs – oft ist er nicht mehr als zehn Meter breit – scheint überhaupt keinen Schutz bieten zu können.

An dem Morgen, an dem wir Terangi suchten, war die Brandung längs des Riffs außerordentlich heftig. Mir zumindest schien das überraschend, denn trotz des bewegten Meeres war von einem Sturm nichts zu bemerken. Die Leute in meinem Boot waren geradeso froh darüber wie ich selbst, einen anderen Gesprächsstoff als Terangi zu haben; wir versuchten, einen Grund dafür zu finden, daß die See immer bewegter wurde.

»Es kommt nicht von Süden«, sagte Maunga, »das sehen Sie ja selbst, Doktor.«

Der alte Tauka, der neben mir am Steuer saß, nickte. »Am nördlichen Riff wird's noch ärger sein, denn es kommt von Nordosten. Da drüben muß böses Wetter gewesen sein.«

Tavi, der sich für einen großen Wetterpropheten hielt und auch wirklich mit seinen Voraussagen oft recht behielt, meinte:

»Gewesen sein, sagst du, Tauka? Ich glaube, daß das Unwetter erst kommt. Würde mich nicht wundern, wenn wir zwei oder drei Tage auf Motu Atea bleiben müßten, ehe wir ins Dorf zurückkehren können. Sieh nur, wie der Wind sich dreht. Er schlägt jetzt nach Westen um. Wenn's so weitergeht, werden wir auch in der Lagune schwere See bekommen.«

Tavi behielt recht, obgleich ich bis dahin die Änderung der Windrichtung nicht bemerkt hatte. Der Wind blies jetzt geradewegs von Westen her, und unser Boot segelte in rascher Fahrt vor ihm hin. Weit vor uns hob sich nun das winzige Motu, das die Eingeborenen Fregattenvogel-Insel nannten, unendlich einsam und weltverloren von dem gewaltigen Hintergrund des Meeres ab. Bei dem Tempo, in dem wir fuhren, dauerte es nicht lange, bis wir es erreicht hatten.

Das Inselchen war ungefähr zweihundertfünfzig Meter lang und achtzig Meter breit. Zwei alte Kokospalmen, ein paar verstreute Miki-Miki und Pandanusbäume und ein bißchen niedriges grünes Gebüsch bildeten die ganze Vegetation. Zu Anfang meines Aufenthalts in Manukura, als es mir nirgendwo einsam genug zu sein schien, fuhr ich manchmal ganz allein dorthin und blieb drei oder vier Tage auf dem winzigen Eiland, das etwa sechzehn Meilen vom Dorf entfernt liegt. In einem kleinen Segelkanu fuhr ich hinüber und nahm nichts mit als Proviant, Trinkwasser und ein kleines Zelt als Schutz gegen die Mittagssonne. Zwischen elf und vier war die Hitze entsetzlich, aber ich nahm sie in Kauf um der frühen Morgen und Abende, vor allem aber um der Nächte willen. In den einsamen Nächten pflegte ich ganz still auf dem kleinen Inselchen zu liegen; ringsumher breitete sich der Ozean aus, und über mir wölbte sich endlos und gewaltig das Himmelszelt. Ich blickte zu den funkelnden Sternen auf, bis ich halb blind war. Sollte mich nicht wundern, wenn ich durch jene Nächte auf der Fregattenvogel-Insel ein bißchen sonderbar geworden wäre. Und am Ende bin ich's seither bis zum heutigen Tage geblieben ... Vielleicht haben Sie während Ihrer Dienstjahre in Afrika diese Begegnung mit der Einsamkeit der Tropen, wie ich es nennen möchte, auch kennengelernt. Man wird irgendwie anders ... man wird abgeklärter dadurch ...

Aber ich komme ganz von Terangi ab ... Auf der Fregattenvogel-Insel fanden wir ihn auch nicht. Der verlassene Fleck Erde sah so aus, als habe ihn seit dem ersten Schöpfungstag kein Menschenfuß betreten. Das einzige, was wir dort fanden, waren die Spuren einer riesigen Schildkröte, die, wie die Eingeborenen feststellten, in der Nacht vorher die Insel aufgesucht hatte, um dort ihre Eier zu legen. Schade, daß wir das Tier nicht mehr erwischten! Für nichts haben die Bewohner der Tuamotu-Insel eine größere Schwäche als für Schildkrötenfleisch. Wenn auf Manukura eines dieser riesigen Tiere gefangen wurde, war das immer ein Festtag für das ganze Dorf; alle Arbeit ruhte, bis die einander folgenden feierlichen Gastmähler vorüber waren. Diese Feste sind ein Überbleibsel aus der heidnischen Zeit, da außer Seevögeln die Schildkröten das einzige Fleisch lieferten, das die Inselbewohner vom Beginn bis zum Ende des Jahres zu sehen bekamen. Meine Leute vergaßen für den Augenblick sogar Terangi, so bitter enttäuscht waren sie darüber, zu spät gekommen zu sein, um die Riesenschildkröte zu fangen. Hingegen nahmen sie die Eier in einer großen Blechdose mit.

Wir hatten noch eine andere kleine Insel zu durchsuchen, dann kamen wieder fünf Meilen von der Brandung gepeitschtes Riff, und endlich erreichten wir Motu Atea. Es war etwa halb vier Uhr nachmittags, als wir am südlichen Ende dieser verhältnismäßig großen Insel landeten. Der Gouverneur hatte mir die Weisung erteilt, an diesem Ende mit der Streife zu beginnen. Wenn er mit seinen Leuten Terangi auf der Dorfinsel nicht fände, wollte er sich geradewegs nach Motu Atea wenden und uns vom Nordende aus entgegenkommen. Im nördlichen Riff gab es nämlich zwischen der Ansiedlung und Motu Atea keine einzige Insel.

Langsam und methodisch gingen wir auf die gleiche Art wie auf Motu Tonga vor. Die Leute zeigten den gleichen eifrigen Willen zur Mitarbeit wie vorher. Ich hatte den Eindruck, daß entweder die Rede des Gouverneurs oder meine eigene oder aber beide zusammen ihre Wirkung nicht verfehlt hatten. Offenbar hatten die Eingeborenen inzwischen eingesehen, daß es für Terangi unmöglich wäre, zu entkommen. Bald erreichten wir einen aus Korallengestein erbauten Schuppen, in dem die Werkzeuge und die übrigen Bedarfsgegenstände aufbewahrt wurden, die bei der Kopraernte auf der Insel benötigt werden. Da gab es Fischspeere, Bretter und Balken zum Ausbessern beschädigter Boote, Kisten voll Büchsenfleisch, dann Segeltuch, Bindfaden, Schablonen zum Bezeichnen der Säcke, Teer, Farbe und ähnliches. Die Bewohner von Manukura verfügten über reichliche Vorräte dieser Art. Im Gegensatz zu vielen anderen polynesischen Stämmen wandten sie ihren Besitztümern große Sorgfalt zu, insbesondere jenen, die zur Ausrüstung der Boote, ihrer kostbarsten Habe, dienten. Mehrere hundert Koprasäcke waren in einer Ecke angehäuft. Nachdem wir uns davon überzeugt hatten, daß sich Terangi auch hier nicht verborgen hielt, setzten wir unsere Suche in nördlicher Richtung fort und stießen zwei Stunden später, ungefähr in der Mitte der Insel, auf de Laages Expedition.

Auch die hatte Terangi nicht gefunden. Der Gouverneur ging mit mir auf und ab, während die Mitglieder der beiden Expeditionen es sich nach Eingeborenenart am Strande bequem machten, um weitere Weisungen zu erwarten. Ich war verschwitzt und schmutzig, de Laage hingegen sah beinahe ebenso ordentlich und tadellos aus wie am frühen Morgen dieses Tages.

Er war, ohne äußerlich seine gewohnte Ruhe zu verlieren, sehr bestürzt über das Mißlingen unserer Unternehmungen und befragte mich auf das genaueste über die Methode, die ich bei der Durchsuchung der Inseln angewendet hatte. Er vertraute mir vollkommen, das wußte ich, aber er fürchtete offenbar, daß mich meine Leute bei der Streife nicht genügend unterstützt hätten. Ich beruhigte ihn darüber. Übrigens war auch er erstaunt über die zumindest scheinbare Bereitwilligkeit der Einwohner, Terangi zu finden, wenn er überhaupt zu finden wäre.

»Es gibt nur eine Erklärung dafür«, meinte er mißtrauisch, »die Leute wissen, daß er entkommen ist ... daß er die Insel verlassen hat.«

»Sind Sie überzeugt davon, daß er sich wirklich nicht auf der Dorfinsel aufhält?« fragte ich.

»Vollkommen überzeugt«, antwortete er. »Sogar die Kirche haben wir durchsucht. Das hätte ich übrigens nicht tun können, wenn der Priester es nicht selbst vorgeschlagen hätte.«

Noch nie hatte ich ihn von Vater Paul anders als mit Nennung seines Namens sprechen gehört. Daß er ihn jetzt ganz einfach »der Priester« nannte, bewies, wie tief der Geistliche bei ihm in Ungnade gefallen war. »Nicht nur Terangi selbst ist weg, auch seine Frau und sein Kind hat er mitgenommen«, fuhr der Gouverneur fort. »Das große Boot des Häuptlings fehlt. Alle drei sind sie darin entwischt. Höchstwahrscheinlich war der Bursche ganz in der Nähe, als ich Mako dabei überraschte, wie er das Kanu mit Vorräten belud. Während ich den Jungen in meinem Haus verhörte, muß Terangi Weib und Kind zu sich genommen und unter dem Schutze der Dunkelheit aufs offene Meer hinausgesegelt sein.«

De Laages ganze Art zu sprechen ließ klar erkennen, welch bittere Vorwürfe er sich darüber machte, diese Möglichkeit nicht vorausgesehen zu haben.

»Wir müssen sogleich zum Dorf zurückkehren«, sagte er, »denn für mich gibt es jetzt nur eins zu tun. Ich muß die Katopua requirieren und die Suche anderswo fortsetzen.«

»Wo wollen Sie suchen?« fragte ich.

»Zuerst will ich mich nach Amanu wenden. Ich bin beinahe überzeugt davon, daß ich ihn dort finden werde. Sicherlich hat er die nächstgelegene Insel aufgesucht. Bei dem heraufziehenden Unwetter wird er es nicht wagen, seine Fahrt weiter auszudehnen. Wahrscheinlich wird er gezwungen sein, mehrere Tage in Amanu zu bleiben, ehe er weitersegeln kann. Auf jeden Fall bin ich gewiß, ihn auf einer der folgenden vier Inseln zu finden: Amanu, Hao, Aki Aki oder Vahitahi.«

Ich muß gestehen, daß ich ebensowenig Lust verspürte wie die Eingeborenen, ohne ausgiebige Rast zum Dorf zurückzukehren. Wir hatten einen schweren Tag hinter uns und sehr wenig zu essen gehabt; der Gedanke, jetzt die zweiundzwanzig Meilen gegen den Wind über die Lagune zu paddeln, erschien mir keineswegs verlockend. Ich erkannte nämlich sogleich, daß wir nicht genug Seitenwind hatten, um uns der Segel zu bedienen. Aber der Gouverneur wollte von den Vorschlägen Tavis und Kaukas, die Abfahrt ein wenig hinauszuschieben, nichts hören. Auch meinen Rat, eines meiner beiden Reffboote zu besteigen, in denen es sich bei schwerer See viel bequemer fährt, nahm de Laage nicht an. Er blieb dabei, die Leute seiner eigenen Expedition zu begleiten.

Als wir abfuhren, ging gerade die Sonne unter. Der Himmel sah ziemlich unheimlich aus; durch einen schmutziggelben Nebel drang schwach das letzte Licht des Tages. Nur langsam kamen wir vorwärts. Die Segelkanus mit ihren hohen Flanken sind durch Paddeln schwer fortzubewegen, und bald hatten wir sie hinter uns gelassen. Als wir aber kaum eine Stunde lang unterwegs waren, schlug der Wind plötzlich um und blies kräftig von Südwesten her. Er wurde von den müden Ruderern mit Freude begrüßt. Wir waren glücklich und hißten die Segel, aber gleich darauf flaute der Wind ebenso plötzlich wieder ab und verwandelte sich in eine kaum spürbare Brise. Wir mußten die Segel wieder Segel sein lassen und waren erneut auf unsere Ruder angewiesen. Die Männer ruderten schweigend; man sah ihren Mienen und Bewegungen an, wie müde sie waren. Die Stille wurde nur durch den regelmäßigen Anprall der Wogen gegen den Bug unseres Bootes unterbrochen. » Hoé! Hoé!« rief Tavi. »Legt euch ordentlich hinein! Es dauert nicht mehr lange.«

» Eahahoia!« rief einer der Ruderer. Ich habe diesen volltönenden Ausdruck immer besonders gern gehabt; er drückt die verschiedensten Dinge aus, je nach dem Ton, in dem er gesprochen wird. Erstaunen, Kummer, Ungläubigkeit, Ärger, beinahe jede Gemütsbewegung kann durch diesen einen Ausdruck wiedergegeben werden. Bei dieser Gelegenheit bedeutete er: »Du hast leicht Hoé sagen, du feister Krämer! Warum ruderst du nicht einmal selbst ein bißchen? Und was meinst du mit ›nicht mehr lang‹? Nur bis morgen früh ... Uns ist das lang genug!«

Aber Tavi genoß nicht ohne Grund den Ruf, ein ausgezeichneter Wetterprophet zu sein. Bald erhob sich wieder Wind, diesmal von Osten her, und blies immer kräftiger und kräftiger. Tavi sagte nichts, aber es machte mir Spaß, den Ausdruck seines Gesichts zu beobachten. Stolz lag darin und tiefste Verachtung für den Mann, der den Ausruf » Eahahoia!« nicht hatte unterdrücken können. Zu mir gewandt, meinte er: »Aus dem Wind wird noch ein mächtiger Sturm werden, Doktor, soviel ist sicher, aber glücklicherweise werden wir das Dorf lange vorher erreicht haben. Jedenfalls – der Himmel will mir gar nicht gefallen.«

In einem Höllentempo jagten wir hinter dem zweiten Reffboot her, das gerade vor uns lag, und die Mannschaften der beiden Kanus tauschten Ausdrücke gutmütigen Spottes aus, wenn einmal das eine, dann wieder das andere einen kleinen Vorteil gewann. Und dann kamen auch schon die Kanus, die wir so weit hinter uns gelassen hatten, in voller Fahrt daher, mit geblähten Segeln; schneeweiß schäumte das Kielwasser hinter ihnen, und ihr scharfer Bug ließ den Gischt hoch in die Luft sprühen. Unser Boot machte gut sieben Knoten, aber die vier Segelboote schossen, eines nach dem anderen, an uns vorbei, als ob wir stillstünden. In einer steifen Brise kann ein polynesisches Kanu zwölf bis fünfzehn Knoten in der Stunde machen. Es war ein prachtvoller Anblick, als die Boote uns passierten. Die Mannschaften hatten alle Hände voll zu tun, die Segel genau nach den von Sekunde zu Sekunde wechselnden Windstößen umzulegen, aber sie fanden doch noch Zeit, den Leuten unseres scheinbar dahinkriechenden Bootes spöttische Bemerkungen zuzubrüllen. Zehn Minuten später waren sie in der rasch zunehmenden Dämmerung verschwunden.


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