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Erstes Kapitel

Im östlichen Teil des Stillen Ozeans, nur wenige Breitengrade vom Äquator entfernt, liegt, über viele hundert Meilen verstreut, eine Unzahl von Inseln und Inselchen. Achtundsiebzig wogenumschäumte Korallendämme bilden die Schutzwehr, an der sich der unablässige Ansturm des Meeres an dieser Stelle bricht. Einige der Lagunen, die inmitten dieser Atolle liegen, sind kaum mehr als Salzwasserteiche, andere wieder, wie etwa die Lagunen von Rangiora und Fakarava, sind bis zu fünfzig Meilen lang und dreißig Meilen breit. Die kleinen Inseln – Motu genannt –, aus denen die Gruppe besteht, sind in weiten Zwischenräumen auf dem Riff, das die Lagunen umschließt, gleichsam aufgefädelt. Die kleinsten unter ihnen werden nur von Seevögeln bewohnt, die in den Pandanusbäumen und zwischen den Wedeln der nicht allzu zahlreichen Palmen nisten. Andere wieder, ein grünes Labsal für seemüde Augen, folgen der gebogenen Linie des Riffs viele Meilen weit, um allmählich dem Blick des Beschauers in verdämmernder Ferne zu entschwinden. Wie klein oder groß sie aber auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen allen, daß sie nur schmale Streifen Landes sind, selten breiter als eine Viertelmeile, daß sie sich nur wenige Fuß über den Meeresspiegel erheben und daß sie immer in Gefahr scheinen, von den andrängenden Wogen verschlungen zu werden.

Es gibt keine andere Inselgruppe der Erde, die so weit von einem Kontinent entfernt ist. Die Bewohner, gering an Zahl, sind Polynesier, denen die heitere Würde ihrer Rasse eigen ist. Die ständige Gefahr, in der sie leben, die immerwährende Bedrohung durch das Meer, hat diese Menschen widerstandsfähig und tapfer gemacht. Sie sind wohlgerüstet für ein Dasein, dessen Ernst ihnen auch in sorglosen Zeiten stets bewußt bleibt. Verwegen sind sie und doch immer von leiser Angst überschattet, wie alle Menschen, die dicht am Ufer des Meeres leben. Keiner kennt so gut wie sie den Frieden und die Schönheit der See an Tagen, an denen sie gutgelaunt ist; keiner aber auch die erbarmungslose, grausam wütende Wildheit des Meeres, wenn es dem Menschen in blindem Ansturm als unerbittlicher Feind gegenübertritt ...

Die Eingeborenen bezeichnen die halbüberschwemmten Stückchen Land, die ihre Heimat sind, mit dem gemeinsamen Namen Tuamotu: Inseln des fernen Meeres. Die Geographen und die wenigen Weißen, die diese Inselgruppe besuchen, nennen sie den Niedrigen oder Gefährlichen Archipel.

An einem Spätnachmittag im Oktober fuhr in den Durchlaß am westlichen Ende der Insel Manukura ein Zweimastschoner ein, ein breitgebautes Schiff von neunzig Tonnen, dessen Mannschaft aus Eingeborenen bestand. Die Art und Weise, in der es zwischen den Korallenbänken innerhalb der Lagune hindurchgelenkt wurde, bewies, daß der Kapitän, gleichfalls ein Polynesier, mit der Örtlichkeit wohlvertraut war. Die Segel hatte man beim Eintritt in die enge Durchfahrt eingeholt, und nun, da das Schiff auf ein etwa zwei Meilen langes Inselchen zusteuerte, war die Maschine auf halbe Geschwindigkeit gesetzt worden. Eine Viertelstunde später verlangsamte der Schoner seine Geschwindigkeit noch mehr und ging schließlich nahe dem Ende eines verfallenen, aus Korallenplatten bestehenden Piers vor Anker.

Die Brise, die gegen Abend nachgelassen hatte, erstarb völlig. Es war dunkel geworden, und die südlichen Sternbilder funkelten am wolkenlosen Himmel. Im Sternenschein glich das nahe Land einem schmalen, schwarzen Band, das zwei unendliche Weiten trennte. Kein Laut drang vom Ufer herüber, und weit und breit war kein Anzeichen zu bemerken, daß die Insel bewohnt war. Gegen Osten und Süden schien die Lagune von Manukura sich grenzenlos auszubreiten, und nur ein ganz leises Geräusch war vernehmbar, ein schwaches, unaufhörliches Donnern, ohne Anfang oder Ende, so, als ob in weiter Ferne der Strom der Zeit sich über den Rand eines Abgrundes ergösse. Unbeweglich lag das Fahrzeug da; nicht einmal das Knarren eines Ruders war zu hören. Zwei Männer saßen auf dem Achterdeck; das Licht einer an der Signalstange aufgehängten Laterne ließ ihre Gesichter klar hervortreten. Die tiefe, lastende Stille hatte auch sie schweigsam gemacht. Sie hatten das Abendessen beendet, blickten auf das im Sternenschein schimmernde Meer hinaus und hingen ihren Gedanken nach.

Doktor Kersaint war seit über fünfzehn Jahren Amtsarzt der Tuamotugruppe. Er war ein Bretone, der die Mitte des Lebens bereits überschritten hatte, klein, zur Fülle neigend, doch sehr beweglich und lebhaft; er trug einen kurzgeschnittenen grauen Bart. Seine Glatze schimmerte im Lampenlicht; die blauen Augen blickten freundlich und klug hinter der goldgeränderten Brille hervor. Sein Begleiter, Vernier, war ein junger, schlanker Mann, wohl wenig über dreißig Jahre alt; sein blasses Gesicht war mager und hatte einen empfindsamen und ein wenig melancholischen Ausdruck.

Plötzlich wurde die Stille durch das schrille Quietschen der Rudergabeln zerrissen. Ein Schiffsboot wurde hinabgelassen. Gleich darauf erschien der Kapitän, nur mit einem Lendentuch bekleidet, im Kreis des Lampenlichts und redete Doktor Kersaint in der Sprache der Eingeborenen an. Der Arzt wandte sich seinem Begleiter zu.

»Die Leute gehen nach Motu Tonga, drüben jenseits der Lagune, zum nächtlichen Fischfang«, erklärte er. »Sie werden gegen Morgen zurückkommen. Hätten Sie Lust, sie zu begleiten?«

Vernier schüttelte den Kopf. »Heute nacht nicht, Doktor. Danken sie ihm in meinem Namen. Ich sitze hier viel zu behaglich, um mich wegzurühren.«

Kersaint sprach einige Augenblicke lang mit dem Kapitän, der gleich darauf seinen Fahrgästen zunickte, ins Boot hinabkletterte und die lange Steuerstange ergriff, während vier seiner Leute die Ruder ins Wasser tauchten. Das Boot stieß vom Schiff ab und verschwand allmählich im Halbdunkel der Sternennacht. Die beiden Männer blickten ihm schweigend nach, bis das Knarren der Rudergabeln erstarb.

»Sieht famos aus, Ihr Kapitän da«, bemerkte Vernier endlich. »Der Mann muß von guter Rasse sein. Die Sicherheit, mit der er das Schiff führt, imponiert mir. Seine Leute hat er übrigens glänzend in der Hand. Sie scheinen nachgerade zu fühlen, was er von ihnen will!«

»Wenn Sie die Menschen hier einmal besser kennen, werden Sie entdecken, daß sie sich ganz ohne Worte verständigen können. Ein Blick, eine leichte Kopfbewegung, ein Heben oder Senken der Augenbrauen genügt ihnen, um einander ihre Gedanken mitzuteilen.«

»Kennen Sie ihn schon lang?«

»Den Kapitän, meinen Sie? Gewiß, schon viele Jahre.«

»Hat er Navigation studiert? Ich sah ihn nicht ein einziges Mal auf die Karte blicken, seit wir die Marquesas verlassen haben.«

»O ja! Er hat mit vorzüglichem Erfolg seine Kapitänsprüfung abgelegt. Haben Sie bemerkt, mit welcher Genauigkeit er auf das Land hier zusteuerte?«

Vernier nickte. »Sie mögen die Leute hier, Doktor; das spürt man«, meinte er.

»Da haben Sie recht, Herr Vernier, wenn ich auch für ihre Fehler nicht blind bin. In fünf Jahren werden Sie mir sagen, was Sie von ihnen halten. Aber ich kann Ihnen schon jetzt voraussagen, daß die Polynesier, wenn Sie sie mit allen Ihnen bekannten Rassen vergleichen, nicht schlecht abschneiden werden.«

»In fünf Jahren! Gott möge mich davor behüten, hier so lange begraben zu sein!«

Kersaint lächelte. »Vielleicht stellen Sie sich das schlimmer vor, als es ist.«

Der Eingeborene, dem die Bedienung der Gäste oblag, kam, um den Tisch abzuräumen; die beiden Männer standen auf, um wieder ihre Plätze in den Deckstühlen an der Reling einzunehmen und aufs neue ihre Pfeifen anzuzünden. Vernier blieb noch einen Augenblick stehen und blickte auf das nahe Land hinaus.

»Fünf Jahre ...«, wiederholte er. »Hoffentlich nicht ... Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, Doktor. Wohin mich die Regierung sendet, dahin gehe ich und bemühe mich, meine Pflicht zu tun. Bis jetzt habe ich zwei Posten gehabt, beide in elenden Nestern in Zentralafrika, tief im Innern des Landes. Aber ich versichere Ihnen, daß ich in keinem dieser Orte ein so tiefes Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit hatte wie heute nachmittag, da wir uns dieser Insel näherten. Diese kümmerliche Vegetation, diese riesigen Haufen zerklüfteter Korallen ... Wie gebleichte Knochen sehen sie aus ... Wenn man sich die paar verstreuten Palmen anschaut, dann wundert man sich nicht, daß die Insel unbewohnbar ist. Fünf Jahre in solcher Umgebung? Nein, wünschen Sie mir, daß ich bald wieder von hier fortkomme, Doktor!«

Vernier seufzte tief auf.

»Sie haben Ihr neues Reich durch die Hintertüre betreten«, meinte Doktor Kersaint. »Wären wir von Tahiti statt von den Marquesas gekommen, so hätten wir einige Inseln berührt, die ein richtigeres und günstigeres Bild der Tuamotugruppe geben. Ich begreife übrigens den Eindruck, den Sie von Manukura erhalten haben, vollkommen; und doch war es einmal eine reiche Insel, soweit man das von diesen Atollen überhaupt sagen kann, und hatte eine zahlreiche Bevölkerung. Es wird übrigens wieder bevölkert sein, wenn der Boden Zeit gehabt hat, sich zu erholen.«

»Und wann wird das sein?«

»So ungefähr in fünfhundert Jahren, denke ich.«

»Na, hören Sie, das ist aber ziemlich lang!«

»Einem Europäer mag es so erscheinen. Hier in dieser Weltgegend messen wir die Zeit auf andere Art ... nach Dutzenden von Generationen. Vielleicht haben Sie von de Laage gehört?«

»De Laage? Nein, kann mich nicht erinnern.«

»Einer Ihrer Vorgänger. Zu seiner Zeit war Manukura der Sitz der Verwaltung. Das Haus des Gouverneurs stand dort drüben am Strand, kaum eine Viertelmeile von unserem Ankerplatz entfernt. Damals gab es hier eine schöne Kirche und eine blühende Ortschaft, so reich und freundlich wie nur irgendeine in dieser Gruppe.«

»Das kommt einem geradezu unglaublich vor! Was ist denn geschehen – hat es einen Hurrikan gegeben?«

»Jawohl, und zwar einen der schlimmsten, die je in dieser Gegend gewütet haben.«

Die beiden Männer rauchten schweigend ihre Pfeifen; die Stille ringsumher schien noch verstärkt durch einen kaum merklichen, aber unaufhörlichen, zitternden Laut, der mehr eine ins Unterbewußtsein dringende Luftschwingung als eine Wahrnehmung der Sinne war: das Geräusch der Wogen, die in der Ferne über meilenweite, einsame Korallenriffe donnerten. Kersaint blickte zum Himmel empor, an dem Sterne schimmerten, von denen er nur die polynesischen Namen kannte. Er erkannte die Gestirne Matariki, Tangio-Rio, Aitu und Pipiri-Ma, die Zwillinge. Sie hatten auf Manukura herabgeschienen, ehe noch ein menschlicher Fuß den Inselsand betreten hatte, und sie hatten vor fünfzehnhundert Jahren den polynesischen Entdeckern dieser Inselgruppe den Weg gewiesen. Sie hatten die Erforschung und Besiedlung der Insel mitangesehen, Jahrhunderte, ehe weiße Männer sie in Besitz nahmen, und auch ihre Vernichtung innerhalb einer einzigen Nacht. Eines Tages, in ferner Zukunft, würde ihr sanftes Licht wieder durch dichte Palmenhaine sickern und die Dächer menschlicher Behausungen aufglänzen lassen – an den gleichen Stellen, an denen jetzt nichts anderes zu sehen war als bleiche Korallen und armseliges, verdorrtes Gras.

Einen Augenblick lang hatte der Arzt das Gefühl, als sei die Zeit etwas Unwirkliches, etwas von Menschen Gemachtes und Widernatürliches. Er wendete den Kopf.

»Sie werden glauben, daß ich ein sehr schlechter Arzt oder ein sehr großer Narr sein muß, um seit fünfzehn Jahren hier zu hausen«, sagte er zu seinem Reisegefährten.

»Das gewiß nicht«, widersprach Vernier höflich, »aber Sie werden mir erlauben, mich darüber zu wundern, daß ein Europäer es so lange hier aushalten, sich so lange mit dem primitiven Leben in dieser Weltgegend begnügen kann. Ich muß gestehen, daß ich den Grund dafür gerne erführe.«

»Das finde ich durchaus begreiflich«, meinte der Arzt mit einem besinnlichen Lächeln. »Und doch ist der Grund eigentlich einfach genug: ich liebe diese Inseln. Verglichen mit den gebirgigen, vulkanischen Inseln, die westlich von hier liegen, sind sie öde und ungastlich, wenn Sie wollen, und doch ... man wird nicht bald solche Schönheit und solchen Frieden finden, solche Entrücktheit von der Welt unserer Tage! Das sind Vorteile, die mich von jeher angezogen haben und auch jetzt noch unvermindert anziehen. Es gibt über sechzig bewohnte Inseln in dieser Gruppe, mit einer Gesamtbevölkerung von über fünftausend Menschen. Da ich der einzige Arzt weit und breit bin, werden Sie mir zugeben, daß ich kein ganz unnützes Leben führe und wahrscheinlich auch mein Fach verstehe. Ich hätte oft genug Gelegenheit gehabt, mich anderswohin versetzen zu lassen. Ein paarmal habe ich auch mit dem Gedanken gespielt, aber wenn es ernst wurde, ist es mir jedesmal klar geworden, daß ich nichts Besseres wünschte, als hierzubleiben. Ohne Zweifel hält mich die Behörde für ziemlich verrückt.«

»Hatten Sie den Krieg hinter sich, als Sie herkamen?«

»Diese Frage macht fast den Eindruck, daß Sie die Ansicht der Behörde über mich teilen«, lächelte der Arzt.

»Mißverstehen Sie mich nicht, Doktor«, widersprach Vernier. »So war meine Frage nicht gemeint.«

»Ich meinte es ja auch nicht ernst. Ja, ich hatte schon meinen fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert, als der Friede geschlossen wurde. Sie können damals noch nicht zwanzig gewesen sein, aber ohne Zweifel erinnern Sie sich genau so lebhaft daran wie ich.«

»Ich erinnere mich, wie enttäuscht ich darüber war, daß gerade, als ich hätte einrücken können, alles vorüber war. Als junger Mensch ist man eben so!«

»Die Männer meiner Generation hatten damals genug davon. Die Welt unserer Jugend lag in Trümmern. Wir fühlten uns zu alt, um an dem Aufbau einer neuen Welt tätig mitzuwirken, und andererseits doch noch zu jung, um die Hände in den Schoß zu legen und gar nichts zu tun. Irgendwie mußten wir versuchen, weiterzuleben. Wenn ich auf jene Zeit zurückblicke, so scheint es mir, als ob die meisten von uns nur den Wunsch gehabt hätten, dem allgemeinen Chaos zu entkommen. Wir konnten wenigstens hoffen, aus unserem eigenen Leben noch etwas Ordentliches und Anständiges zu machen. Mir jedenfalls ging es so, und es war mir vollkommen gleichgültig, wie weit ich gehen mußte, um eine solche Gelegenheit zu finden. Ich hatte vier Jahre in Etappenspitälern, Frontlazaretten und Verbandplätzen der vordersten Linie verbracht. Als der Krieg zu Ende war, hatte ich in vielerlei Dingen meines Handwerks Erfahrungen gesammelt, die ich hoffte, nie wieder verwerten zu müssen.«

»Das kann ich begreifen.«

»Nichts hielt mich infolgedessen davon ab, mein künftiges Leben ganz nach meinem eigenen Geschmack einzurichten. Der einzige nahe Verwandte, den ich hatte, war ein Onkel im Kolonialministerium. Er war ein sehr gütiger Mensch, schon über sechzig um jene Zeit, und er hatte im Ministerium eine ganz unpolitische Verwaltungsstellung inne. Regierungen kamen zur Macht und wurden wieder gestürzt; mein Onkel aber blieb ruhig auf seinem Posten, um die Neuankömmlinge in ihre Pflichten einzuführen. Obgleich er die Grenzen Frankreichs niemals überschritten hatte, kannte er unseren Kolonialbesitz aufs genaueste. Ich ging zu ihm, um seinen Rat zu erbitten: Ich sagte ihm, daß ich eine Stelle als Amtsarzt in irgendeiner weltabgeschiedenen Kolonie anstrebte, nur möglichst weit weg von Europa. Mein Onkel hatte volles Verständnis für meine Wünsche, aber er besaß ein sehr hochentwickeltes Pflichtgefühl. Er wollte keinen Finger rühren, um mir Protektion zu verschaffen. Immerhin versprach er mir, es mich wissen zu lassen, wenn irgendwo eine Stelle frei würde, von der er annähme, daß sie für mich passe.«

Doktor Kersaint hielt inne. »Entschuldigen Sie bitte!« sagte er. »Ich hatte wirklich nicht die Absicht, Ihnen einen Vortrag über unsere Familiengeschichte zu halten. Das kann Sie wahrhaftig nicht interessieren.«

»Im Gegenteil«, widersprach Vernier. »Fahren Sie bitte fort! Also Ihr Onkel hielt sein Versprechen, nehme ich an?« – »Nun gut, wenn es Sie nicht langweilt, will ich weiter erzählen ... Jawohl, er hielt sein Versprechen, obgleich er es lange hinausschob, wohl um nicht einmal den Schein zu erwecken, daß er mich um unserer verwandtschaftlichen Beziehungen willen fördere. Ein Jahr verging, und ich wartete noch immer. Endlich kam eine ganz kurze Mitteilung, die, wie ich wußte, von meinem Onkel diktiert worden war. Ich erinnere mich noch genau des Wortlautes: ›Wenn der Arzt, der sich in der abgelegensten aller Kolonien vergraben wollte, seine Absicht noch nicht geändert hat, so sei ihm hiermit kundgetan, daß sich augenblicklich auf der entgegengesetzten Seite des Erdballs die Gelegenheit für ein solches Begräbnis bietet.‹ Und darunter stand eine Nachschrift, von meinem Onkel persönlich geschrieben, in der er mich einlud, ihn am nächsten Vormittag um zehn Uhr im Ministerium zu besuchen. Mit dem Glockenschlag zehn war ich bei ihm. Eine riesige Karte des Stillen Ozeans hing an einer der Wände seines Büros. Er wies auf die Tuamotugruppe – von der ich bis zu jenem Augenblick noch nie etwas gehört hatte – und schickte sich dann an, mir die denkbar abschreckendste Beschreibung der Lebensverhältnisse auf diesen Inseln zu geben. Die Bewohner, erzählte er mir, lebten ausschließlich von Kokosnüssen und Fischen. Die Inseln erhöben sich nur ein paar Fuß über dem Meeresspiegel und würden häufig von Hurrikanen verwüstet. Die wenigen weißen Menschen, die man als Beamte dorthin schickte, seien während ihrer Dienstdauer tatsächlich lebendig begraben. Seien sie einmal dort, so seien sie so gut wie vergessen und verlören alle Beförderungsmöglichkeiten, die sich in bedeutenderen Kolonien von selbst ergäben.

So sagte mein Onkel. Aber Beförderung war damals meine geringste Sorge, und je mehr mein Onkel versuchte, mich abzuschrecken, um so fester war ich überzeugt davon, daß die Tuamotus gerade das waren, was ich brauchte. Ich erhielt den Posten als Amtsarzt mit der größten Leichtigkeit. Offenbar wollte ihn sonst niemand.«

»Und Sie sind vollkommen zufrieden? Sie haben nie bedauert ...« Vernier sprach den Satz nicht zu Ende. Doktor Kersaint erhob sich, klopfte seine Pfeife an der Reling aus und machte es sich dann wieder in seinem Deckstuhl bequem.

»Niemals«, entgegnete er endlich. »Ich habe nie den leisesten Wunsch verspürt, nach Europa zurückzukehren. Das ist nicht ganz leicht zu erklären ... Nun, Sie werden mir vielleicht zugeben, daß ein Leben, das einen befriedigt, auf Wirklichkeit aufgebaut sein muß. Und, sehen Sie, diese Wirklichkeit fand ich hier.«

»Wirklichkeit!« rief der jüngere der beiden Männer. »Wenn wir von hier abdampfen, so wird es mir schwer fallen, zu glauben, daß diese Insel überhaupt existiert, davon bin ich schon jetzt überzeugt! Ich weiß eigentlich selbst nicht genau, warum, aber noch viel mehr als Afrika beunruhigt mich das alles hier; es versetzt mich – wie soll ich es nur ausdrücken – in einen seelischen Verteidigungszustand. Auf solchen Landfetzen erscheint mir der Mensch so hilflos, so hoffnungslos klein, so mikroskopisch winzig! Die Urwälder am Äquator sind schlimm genug, aber die Natur, versinnbildlicht durch einen so unermeßlich großen Ozean ... das überwältigt ... das erdrückt mich vollkommen!«

»Aber die Natur ist nun einmal etwas Gewaltiges, mein lieber Herr Vernier! Ich weiß: wir versuchen, es zu vergessen, und zu Hause, wenn wir uns dicht aneinanderdrängen, zu Tausenden auf einer Quadratmeile, dann gelingt es uns auch beinahe, es zu vergessen. Aber alle unsere Bemühungen, die Natur zu unterdrücken, sie an die Kette zu legen, müssen schließlich immer wieder scheitern.«

»Sie glauben also, daß all unsere Wissenschaft uns an kein Ziel führt, Doktor? Daß wir uns niemals selbständig machen werden, kurz, daß der Fortschritt letzten Endes eine Täuschung ist?«

»Aller Fortschritt hat als Ziel eine immer größere Sicherheit. Ich will nicht leugnen, daß es sich lohnt, nach diesem Ziel zu streben; aber bedenken Sie doch auch, was wir dabei verlieren! Und Sicherheit gibt es nicht ... gibt es ganz und gar nicht. Die Menschen dieser Inseln lernen das immer wieder von neuem. Sie leben in der Gegenwart, freuen sich über jedes kleine Erlebnis, das der Tag ihnen bringt. Sie verlieren wenig Zeit damit, Pläne für die Zukunft zu schmieden, denn jeden Augenblick kann die Natur einen Strich durch alle ihre Hoffnungen machen. Und trotzdem ... oder vielleicht gerade deshalb sind sie glücklich, wie ich glaube.«

»Ich will es hoffen«, sagte Vernier mit einem etwas ungläubigen Lächeln. »Jedenfalls sollten Sie das gut beurteilen können. Sie müssen diese Menschen kennen, wie nur wenige Fremde es vermögen.«

»Zumindest habe ich sie gern und spreche ihre Sprache. Wenn man so lebt wie ich – fast ohne Verbindung mit der Außenwelt –, gewöhnt man sich daran, den kleinsten Ereignissen Bedeutung beizumessen und sie wichtig zu nehmen: die täglichen Begebenheiten im Dorfe, die kleinen Trauer- und Lustspiele, die sich hier genau so abspielen wie überall, wo Menschen wohnen. In Polynesien ist der Arzt eine wichtige Persönlichkeit, eine viel wichtigere als in der Heimat; jeder, von den Kindern bis zu den Greisen, eröffnet ihm sein Herz. Ich unterhalte mich damit, allem zuzusehen und allem, was sie mir sagen, zuzuhören, bis ich schließlich jedes ihrer kleinen Dramen aus den einzelnen Teilen zusammenfügen und vom Anfang bis zum Ende verstehen kann.«

»Der Ablauf des Lebens dieser Menschen muß doch denkbar einfach sein«, sagte Vernier nachdenklich.

»Da haben Sie vollkommen recht, und von uns Franzosen glaubt man ja im allgemeinen, daß wir einem Leben wenig abgewinnen können, das all der hübschen kleinen Dinge, die es bunt machen, entkleidet ist. Ich mag vielleicht in dieser Hinsicht eine Ausnahme sein, aber ich persönlich finde ein solches auf die einfachste Formel gebrachtes Leben immer wieder erfrischend reizvoll. Ich bin kein Anhänger des edlen Wilden Jean-Jacques Rousseau, und doch liegt für mich eine elementare Schönheit in einem Dasein, dem all die kleinen zermürbenden Sorgen, die hundert nichtigen Ziele fehlen, die uns Europäer niederdrücken und herabziehen. Habsucht und Geiz zum Beispiel gibt es hier kaum. Die Sparsamkeit, die wir für eine große Tugend halten, gilt bei den Menschen dieser Inseln als etwas Lächerliches. Das Zusammenraffen und Aufhäufen von Schätzen für die Zukunft, das der Bauer mit dem Eichhörnchen gemeinsam hat, das soll eine Tugend sein?«

»Geben Sie acht, Doktor!« rief Vernier gutmütig lachend. »Sonst werde ich bald daran zweifeln, daß Sie ein Landsmann von mir sind!«

»Nehmen Sie einen alten Sonderling nicht zu ernst, Herr Vernier! Ich habe merkwürdige Ansichten, ich gebe es zu, aber ich glaube, der Krieg hat größere Schuld daran, als der Aufenthalt auf diesen Koralleninseln«, lächelte Doktor Kersaint.

Er machte eine Pause. »Sind Sie müde?« fragte er dann.

»Nicht im mindesten.«

»Ich hätte Lust, Ihnen sozusagen im voraus einen Einblick in das Gebiet zu geben, dem vorzustehen Sie berufen sind. In meiner Post, die ich in Atuona erhielt, befand sich die Nachricht, daß Madame de Laage gestorben ist. Sie war eine außergewöhnliche Frau; ich schätzte sie ungemein hoch. Sie und ich – wir waren die letzten Überlebenden unter den Europäern, die eine Rolle in den Ereignissen spielten, von denen ich Ihnen erzählen möchte. Hätten Sie Lust, die Geschichte zu hören?« – »Ich wäre Ihnen von Herzen dankbar dafür, wenn Sie sich die Mühe nähmen!«

»Es handelt sich um den Hurrikan, der Manukura verwüstete, aber im Zusammenhang damit spielte sich ein Drama ab, das ich ganz persönlich zu beobachten Gelegenheit hatte. Sie werden verstehen, daß ich die Bedeutung der einzelnen Vorgänge nicht sogleich in allen Einzelheiten erfaßte. Aber als der Vorhang über dem letzten Akt fiel, hatte ich die Zusammenhänge begriffen. Heute kann ich Ihnen, glaube ich, alles so berichten, wie es sich tatsächlich ereignet hat. Es ist eine sehr menschliche Geschichte, aber die Lösung brachte zum Schluß doch die Natur. Also, wenn es Sie wirklich nicht langweilt, so will ich beginnen ...«


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