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Drittes Kapitel

Damals lebten vier Europäer in Manukura. De Laage, der Gouverneur, und seine Frau, Vater Paul und ich.

Der älteste Einwohner, seinen Jahren wie auch dem Zeitpunkt der Ankunft nach, war der Geistliche, Vater Paul. Er war als Jüngling geradewegs vom Seminar auf die Tuamotu-Inseln gekommen und lebte nun seit über fünfzig Jahren hier, ohne jemals nach Frankreich zurückgekehrt zu sein. Er war einer jener wahrhaft guten Diener der Kirche, von deren demütigem und aufopferndem Wirken die Welt nie etwas erfährt und die ihrer Gemeinde so viel bedeuten.

Vater Paul war ein Bauernsohn, stammte aus einem kleinen Gebirgsdorf nahe der spanischen Grenze, und seine Erziehung war überaus einfach gewesen. In seiner Kindheit hatte man ihn gelehrt, an alle möglichen Geister und Teufel zu glauben. Nun, daran fehlte es in Manukura nicht; die Eingeborenen waren über alle Maßen abergläubisch und bevölkerten ihre ganze kleine Welt mit Geistern und Dämonen. Die Leute waren zur Zeit, als Vater Paul zu ihnen kam, noch fast völlig heidnisch; niemals hatte ein Missionar unter ihnen gelebt. Vater Paul packte seine Aufgabe, die Eingeborenen zu bekehren, auf seine eigene, sehr persönliche Art an. Er lehrte sie ein Christentum, dem eine tüchtige Portion Heidentum beigemischt war. An den Grundsätzen der christlichen Lehre rüttelte er dabei selbstverständlich nicht. An denen hielt er fest, und er lehrte seine Gemeinde, das gleiche zu tun. Die Inselbewohner hegten die tiefste Liebe und Verehrung für ihn, und er verdiente sie auch. Man lächelt heute gern über so fromme und so einfältige Seelen. Mir persönlich sind sie lieber als Menschen, die an nichts glauben, nicht einmal an sich selbst ...

Seine Kirche, die er persönlich entworfen und zum großen Teil mit seinen eigenen Händen erbaut hatte, stand in der Mitte des Dorfes. Er hatte die ganze Schlichtheit seines eigenen Wesens und die Harmonie seines gläubigen Gemütes hineingelegt. Das Gotteshaus, nur aus Korallengestein und Lehm erbaut, war groß genug, um die ganze Bevölkerung von hundertfünfzig Seelen aufzunehmen, hatte schmale, gotische Fenster und einen kleinen Glockenturm. In Stil und Ausmaß war alles so wohl gelungen, daß – wie ich glaube – selbst der beste Kirchenbauer Europas nichts daran auszusetzen gehabt hätte. Es war in der Tat erstaunlich, daß ein alter Priester, der kaum mehr als ein Bauer war, ganz aus dem Gefühl heraus so vortreffliche Arbeit zu leisten vermochte. Obgleich Vater Paul um die Zeit, von der ich Ihnen erzählen will, bereits ein hoher Siebziger war, war er so stark und rüstig, als sei er um vieles jünger. Sein ganzes Leben lang war er nie richtig krank gewesen; seine vielfachen Pflichten – er war Seelsorger eines halben Dutzends kleinerer und größerer Inseln – hätten ihm dazu auch keine Zeit gelassen. Sein Mut, der ebenso bemerkenswert war wie sein Fleiß, war sicherlich zum Teil eine Folge seiner unerschütterlichen Gesundheit, beruhte aber wohl auch auf seinem unbedingten Gottvertrauen. Von den sechs Inseln, die er zu betreuen hatte, liegt die nächste, Amanu, fünfzig Meilen von Manukura entfernt, die am weitesten abgelegene, Puka Puka, nicht weniger als hundertfünfzig Meilen. Um seine weit verstreuten Schäflein zu besuchen, gab es für ihn keine andere Möglichkeit als die Fahrt in seinem kleinen, nur zum Teil gedeckten Kutter. Das war ein kräftig gezimmertes Boot, wohl imstande, allen Unbilden des Meeres Widerstand zu leisten – aber wenn ich Ihnen sage, daß er ganze sechzehn Fuß lang war, nicht mehr und nicht weniger, so werden Sie begreifen, daß Mut und Widerstandsfähigkeit dazu gehörten, so lange Seereisen in solch einer Nußschale zu machen. Die Bewohner der Niedrigen Inseln sind Seeleute durch und durch und wahrhaftig nicht feige, aber sogar sie schüttelten die Köpfe über Vater Pauls Tollkühnheit, wie sie es nannten.

Sein einziger Begleiter bei diesen Fahrten war ein vierzehnjähriger Junge namens Mako, einer der Söhne Tavis, des Ladenbesitzers, und der hatte zu dem Priester das gleiche Vertrauen, das der zu Gott hatte. Bei jedem Wetter machten sie sich auf die Reise, und oft waren sie sechs Wochen, ja noch länger, unterwegs. Nach und nach gewannen die Eingeborenen die Überzeugung, daß Vater Paul tatsächlich ein Abgesandter Gottes sei und daß ihm unter solchem Schutz nichts und niemand etwas anhaben könne.

Eines Nachmittags im März – das war im Jahre 1925 befanden sich der Priester und Mako auf der Rückfahrt von Hao, einer etwa fünfundsiebzig Meilen südwestlich gelegenen Insel, nach Manukura. Sie hatten Hao am vorangegangenen Nachmittag verlassen und waren noch ungefähr dreißig Meilen von ihrer Heimatinsel entfernt. Ihre Kombüse bestand aus einer mit Blech ausgelegten und mit Sand gefüllten Kiste, die sie bei gutem Wetter auf ihr Halbdeck stellten. Mako hatte das Abendessen bereitet, und nach der Mahlzeit hatte sich der Greis hingelegt, um ein Stündchen zu schlafen.

Mako saß am Steuer, summte leise ein Liedchen vor sich hin, behielt dabei immer den Kompaß im Auge und suchte von Zeit zu Zeit den Horizont ab. Ich sehe alles ganz deutlich vor mir, wie es sich damals abgespielt haben muß. Hier und da erblickte er wohl einmal Seeschwalben, einzeln oder in Schwärmen, die von ihren ausgedehnten Fischzügen aufs Meer hinaus zurückkehrten und nun wieder dem Lande zuflogen. Die Vögel waren in Manukura zu Hause, das wußte Mako, und in einer Stunde würden sie auf Motu Atea oder Motu Tonga landen. Das Schiff hingegen konnte bei dieser leichten Brise kaum vor Einbruch der Morgendämmerung die Durchfahrt durch das heimatliche Riff erreichen. Aber immerhin kam der Kutter vorwärts. Dem kleinen Fahrzeug genügte der leiseste Lufthauch, um weitergetrieben zu werden.

Dann, stelle ich mir vor, ging die Sonne unter; das Meer glänzte hell von dem Widerschein der Lämmerwölkchen, die im sanften Licht der Abendröte schimmerten. Als Mako einmal nach links blickte, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen schwarzen Gegenstand erregt, der etwa eine halbe Meile abseits vom Kurs des Kutters auf dem Wasser trieb. Auf diese Entfernung sah der Gegenstand kaum größer aus als ein Zündholz und weniger scharfe Augen als die eines jungen Polynesiers hätten ihn wahrscheinlich überhaupt nicht wahrgenommen. Mako blickte voll Neugierde unausgesetzt in diese Richtung. Jetzt verlor er das Ding aus den Augen; nun tauchte es wieder auf, von den langen, weichen Wellen der ruhigen See getragen, dann wieder war es verschwunden, um ein paar Sekunden später aufs neue sichtbar zu werden. Es erschien Mako merkwürdig, dieses Ding. Es schwebte ein wenig zu hoch über dem Meeresspiegel, um ein Stück Holz zu sein, an welchem Muscheln festsaßen. Irgendeine Erhöhung war auf dem Gegenstand sichtbar; vielleicht war es ein nahe dem Stamm abgebrochener Baumast und die Erhöhung war ein Zweig ...

Plötzlich wurden die Augen des Jungen ganz weit vor Erstaunen. Er senkte den Kopf und blickte unter das Deck, wo Vater Paul, auf einer dünnen Matratze hingestreckt, schlafend lag.

»Vater! Vater Paul!«

Der alte Priester hob, noch halb von Schlaf umfangen, den Kopf. »Ja ... was ist? ...« Dann, ganz wach geworden: »Was gibt es, mein Sohn?«

»Dort drüben ... leewärts ... sehe ich etwas! Kommt rasch, Vater!«

Durch das aufgeregte Wesen des Jungen beunruhigt, kam Vater Paul auf Deck und blickte angestrengt in die Richtung, die Mako ihm wies. Es war schon ziemlich dunkel, und im Dämmerlicht dauerte es einige Sekunden, bis der Greis den Gegenstand erblickte.

»Du hast scharfe Augen, mein Junge! Jetzt sehe ich es auch. Was ist es – ein Stück Holz?« – »Nein, Vater.«

» Eaha nei! Was kann es denn sonst sein?«

»Ein Kanu – ein gekentertes Kanu. Ich glaube ... ein Mensch klammert sich daran fest.« – »Ein Mensch? Unmöglich!«

»Ich habe gesehen, wie er sich bewegt hat. Ganz sicher ... Vater Paul ... Er hat den Arm bewegt!«

Der Priester eilte zum Steuer, während der Junge das Segel ein wenig lockerte. Sie nahmen geraden Kurs auf das Ding zu, das da auf dem Wasser trieb.

»Wahrhaftig, du hast recht, Junge!« rief Vater Paul, der sich von seinem Erstaunen kaum erholen konnte. »Ich glaube, er sieht uns! Halte dich bereit, ihm Hilfe zu leisten!«

Immer näher kamen sie an das Boot heran. Beide, der Greis und der Knabe, starrten wie gebannt auf das gekenterte Kanu, noch immer kaum ihren Augen trauend. Kielaufwärts trieb das Boot dahin. Den Ausleger hatte es verloren, und der Mann, der sich an seinem Rumpf anklammerte, hockte in halb sitzender, halb liegender Stellung darauf. In der rasch zunehmenden Dunkelheit konnten sie nur erkennen, daß er barhaupt und beinahe nackt war.

Als sie nur mehr einige Meter entfernt waren, rief der Priester den Schiffbrüchigen an, aber es kam keine Antwort. Jetzt lag der Kutter unmittelbar neben dem Kanu ... Mako war ein starker Bursche; er packte den ausgestreckten Arm des Mannes, als der vom Boot herabglitt, und zog ihn an die Flanke des Kutters heran. Als er bemerkte, daß der Schiffbrüchige so erschöpft war, daß er sich nicht einmal festhalten konnte, beugte er sich hinab und zog ihn an Bord.

Vater Paul verließ das Steuer und kniete neben dem Manne nieder. Während der nächsten halben Stunde bemühten sie sich um ihn und flößten ihm Kokosmilch ein, doch immer nur ein paar Schluck auf einmal. Der Schiffbrüchige war vor Durst und Erschöpfung in einem erbarmungswürdigen Zustand. Seine Haare waren lang und verfilzt und seine Wangen von dichtem Bartwuchs bedeckt. Erst nachdem Mako die Laterne angezündet hatte, erkannten sie ihn. Es war Terangi.

Die Stelle, an der sie ihn aufgefischt hatten, war beinahe sechshundert Meilen von Tahiti entfernt. Diese Entfernung hatte er in einem kleinen Auslegerkanu zurückgelegt, wie die Fischer es zum Fischen innerhalb der Lagunen benutzen! Wenn es mir bisher nicht gelungen sein sollte, Ihnen ein richtiges Bild von diesem Burschen zu geben, so habe ich wohl jetzt das Versäumte nachgeholt.

Allerdings war Terangi in dem Augenblick, als ihn seine Retter fanden, mit seinen Kräften vollkommen zu Ende. Ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben, sank er in tiefen Schlaf. Gemeinsam gelang es den beiden, ihn unter Deck zu tragen. Mako blieb die ganze Nacht an seiner Seite, während der Priester das Steuer bediente.

Kurz nach Sonnenaufgang erklomm der Junge den Mast und erblickte die Palmen von Motu Atea, dem Inselchen, das, zwanzig Meilen vom Dorf, dem östlichen Ende der Lagune von Manukura im Halbkreis vorgelagert ist. Die Küste war in der Ferne kaum erst sichtbar; nur die unregelmäßige Linie der höchsten Bäume hob sich verschwommen vom Horizont ab. Der Priester gab Mako die Weisung, die Segel einzuholen.

Während des ganzen Vormittags ließen sie den Kutter treiben; ein großer Teil des Tages war schon vergangen, als Terangi erwachte. Mako bereitete ihm eine Mahlzeit, und er aß mit Heißhunger, sprach aber vorerst nur wenig. Vater Pauls einzige Leidenschaft war seine Meerschaumpfeife mit dem absonderlich geschnitzten Kopf am Ende des langen Rohres. Er zündete sie umständlich an, während Terangi aß, beobachtete ihn mit tiefem Mitgefühl und wartete ruhig, bis der Bursche von selbst zu sprechen anfinge. Mako bediente Terangi mit fast scheuer Ergebenheit, die sich nur wenig von der Ehrfurcht unterschied, mit der er Vater Paul bei der Messe ministrierte. Wenn Terangi schon der Held der Buben von Tahiti war, so können Sie sich vorstellen, welchen Ruf er bei der Jugend seiner Heimatinsel genoß! Die hatten selbstverständlich seit langem von seinen zahlreichen Ausbrüchen aus dem Gefängnis und von seinen Scharmützeln mit der Polizei gehört. Mako empfand ein unsägliches Glücksgefühl darüber, seinen Helden vom sicheren Tode errettet zu haben. So nahe bei ihm zu sein, ihm die Speisen reichen zu dürfen, von ihm bemerkt zu werden, war ein Vorzug, der ihm nicht um alle Kostbarkeiten der Erde feil gewesen wäre. Ebensowenig wie der Priester hatte er sich von dem Staunen erholt, das er am vorangegangenen Abend empfunden hatte, aber er besaß die angeborene Höflichkeit seiner Rasse. Es lag ganz bei Terangi, ob er ihre Neugierde befriedigen oder schweigen würde! Als Terangi die Mahlzeit beendet hatte, rollte der Junge ihm eine Zigarette. Der junge Mann rauchte, ebenso wie er gegessen hatte, schweigend, doch mit höchstem Genuß. Dann endlich wandte er sich an den Priester.

»Das Leben ist gut, Vater«, sagte er. »Gestern nacht hätte ich wohl kaum geglaubt, daß ich die Sonne noch einmal sehen würde.«

Der Priester nickte.

»Mako war es, der dich erspähte.«

Ohne den Kopf zu wenden, legte Terangi eine Hand auf die Knie des Knaben. »Ich sah euch schon aus einer Entfernung von zwei ... vielleicht sogar schon von drei Meilen. Ich fürchtete aber, daß ihr auf der Luvseite an mir vorbeisteuern würdet, ohne mich zu bemerken. Ich konnte nichts tun, um eure Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, ich war zu sehr entkräftet, um euch ein Zeichen zu geben. Zwei Tage und zwei Nächte hatte ich mich an dem Kanu festgeklammert. Der Ausleger war schwer beschädigt. Ich hatte ihn so gut zusammengeflickt, als ich konnte; aber dann geriet ich wieder in einen schweren Sturm. Diesmal konnte der Ausleger nicht mehr ausgebessert werden. Ich konnte nichts mehr tun, als auf das Ende warten ...«

» Nojea mai oé?«

»Von Tahiti.«

»Von Tahiti bist du gekommen? Allein in diesem winzigen Kanu? ...«

»Ja, Vater.«

» Terangi Tané«, rief Mako leise aus. Alle Empfindungen, die den Jungen beherrschten, Erstaunen, Furcht, Bewunderung, Ergebenheit, drängten sich in diesem einen Ausruf zusammen.

»Ich kam an Mehetia, Anaa, Haraiki, Reitoru, Tahéré vorbei. Ich hatte keinen Kompaß; nach der Sonne richtete ich mich und nach den Sternen. Aus Kopra-Segeltuch habe ich mir ein kleines Segel gemacht. Es ist sechs Wochen her, seit ich Tahiti verließ. Auf keiner der Inseln hat mich ein Mensch gesehen. Ich landete stets auf einem Motu, weit weg von den Inseln, auf denen die Dörfer liegen. Wenn das Wetter günstig war, setzte ich meine Fahrt fort. Es war eine einsame Reise und sie hat mich müde gemacht.«

Das ist alles, was Terangi jemals über die Reise berichtet hat, die ich für eine der wunderbarsten Fahrten halte, die je ein Mensch in einem so winzigen, schwachen Fahrzeug zurückgelegt hat. Mehetia, die erste Insel, die er berührte, ist etwa sechzig Meilen von der Küste von Tahiti entfernt. Anaa, die zweite, liegt wiederum zweihundert Meilen weiter, und Haraiki abermals so weit von Anaa. Natürlich hatte er auch Glück – wenigstens bis zu seinem letzten Mißgeschick. Terangi war ein zu guter Seemann, um unnötige Gefahren auf sich zu nehmen, aber man braucht wohl mehr als Glück, um eine solche Fahrt erfolgreich zu bestehen. Die Polynesier sind auch heute noch große Geschichtenerzähler, und Terangis wunderbare Reise von Tahiti in seine Heimat wird bis zum heutigen Tage von einem Ende Ozeaniens bis zum anderen den Kindern erzählt und in Liedern besungen. Und in der Tat erscheint sie mir wert, in die Heldensage der Polynesier aufgenommen zu werden.

Um aber in meiner eigenen Erzählung fortzufahren: Terangi versank, nachdem er seinen kurzen Bericht beendet hatte, aufs neue in Schweigen. Mit gefalteten Händen saß er da und starrte auf das Deck zu seinen Füßen. Der alte Priester, der ihn voll Mitleid beobachtete, sah nicht nur, wie hager Terangis Züge, wie entzündet seine Augen von dem Seewasser waren, es entging ihm auch nicht, welch finsteren, wilden Ausdruck er aufwies.

»Wo sind wir, Vater?« fragte Terangi plötzlich.

Der Priester wies gegen Norden. »Dort drüben liegt Manukura.«

»Und Ihr wartet hier ...?«

»Um deinetwillen, Terangi. Bis zum Einbruch der Dunkelheit, wenn du es wünschest.«

»Vor drei Monaten bin ich aus dem Gefängnis entsprungen, wißt ihr das in Manukura?«

Der Priester schüttelte den Kopf. »Wir haben keine Nachricht von Tahiti, seit die Katopua das letzte Mal hierher kam. Wir erwarten sie bald wieder.«

Abermals schwieg Terangi lange. Endlich legte ihm der Priester eine Hand auf die Schulter. »Mein Sohn«, sagte er, »ich habe dich zum erstenmal gesehen, als du eine Stunde alt warst. Ich sah dich vom Säugling zum Knaben, vom Knaben zum Mann heranwachsen. Alle Ereignisse deines Lebens liegen offen vor mir. Vertraust du mir?«

»Ja, Vater. Doch wartet, bevor Ihr weitersprecht! Als ich das letzte Mal ausbrach, fand ein Wärter den Tod ...«

»Von deiner Hand?«

»Ja. Er stand am Tor des Gefängnishofes. Das Tor war offen, um den Gefangenen Einlaß zu gewähren, die von der Arbeit zurückkehrten. Es war ein Zufall ... Ich stürzte mich auf den Wärter. Er feuerte seine Pistole auf mich ab und verfehlte mich. Ich gab ihm einen Stoß gegen die Brust ... mit der Faust. Wer hätte vermuten können, daß ein solcher Stoß tödlich sein könnte? Und doch war es so. Der Mann war tot, als man ihn aufhob. Dies erfuhr ich, als ich mich im Gebirge verborgen hielt.«

»Du hattest also nicht die Absicht, ihn zu töten?«

»Ich hatte so wenig die Absicht, ihm ein Leid zu tun, als ich wünschen würde, Mako zu töten. Der Mann hatte mir mehr als einmal Freundlichkeiten erwiesen. Ich hatte nur den einen Wunsch ... zu entkommen ...«

»Du hast eine schwere Sünde begangen, aber Gott beurteilt die Menschen nach ihren Absichten. Er kann schwerere Sünden als die deinen vergeben, wenn der, der sie begangen hat, wahrhaft bereut.«

»Das aber wird dem Ermordeten das Leben nicht zurückgeben – so werden jene, die mich ins Gefängnis geworfen haben, meine Tat beurteilen. Sie wollen mich nach einem Ort schicken, den sie Cayenne nennen. Wo er liegt, weiß ich nicht, sondern nur, daß er sehr weit weg ist. Und die, die dorthin geschickt werden, kehren nie mehr zurück.«

»Terangi!«

»Ja, mein Vater?«

»Niemand weiß, daß du Tahiti verlassen hast?«

»Niemand außer Euch und Mako; das ist gewiß! Sie werden wohl noch immer das Gebirge nach mir durchsuchen.«

»Was gedenkst du jetzt zu tun?«

»Ich möchte mein Weib noch einmal sehen ... und meine Mutter ... und mein Kind, das ich noch nie erblickt habe. Dann möge kommen, was kommen muß. Die kleine Tochter ist mein Kind?«

»Kannst du daran zweifeln?«

»Wie gerne möchte ich es glauben! So hat mein Weib sich keinem anderen Manne verbunden?«

»Niemals hat sie an einen anderen gedacht als an dich!«

»Sechs Jahre sind eine lange Zeit, und sie ist jung. Ich würde es begreifen, wenn ...«

Der Geistliche unterbrach ihn streng. »Niemals, ich sage es dir. Du begehst an deinem Weibe ein schweres Unrecht, wenn du einen solchen Gedanken hegst.«

»Ich wollte nur die Sicherheit haben ...«

»Du kennst dein Weib nicht!«

»Wieviel Zeit habe ich denn gehabt, sie kennenzulernen? Wir waren erst sechs Wochen verheiratet, als man mich ins Gefängnis warf.«

Vater Pauls strenge Miene muß in diesem Augenblick einem milderen Ausdruck gewichen sein. Und ich glaube nicht einmal, daß er einen schweren Gewissenskampf auskämpfen mußte, um zu einem Entschluß über seine Haltung gegenüber dem Flüchtling zu gelangen. Die weltliche Justiz war für ihn eine Sache, die göttliche Gerechtigkeit eine andere! Die erstere fiel nicht in sein Bereich, die zweite aber ging ihn und nur ihn an ...

Ebenso wie jeder andere in Manukura, mit Ausnahme des Gouverneurs, war er der Ansicht, daß Terangi bitteres Unrecht zugefügt worden sei. Die weltliche Justiz konnte zuweilen auf unmenschliche, ja auf ungerechte Art gerecht sein ... In Terangis Fall war sie unmenschlich gewesen, aber Gouverneur de Laage war anderer Ansicht, das wußte der Priester. Vater Paul hatte wenig Hoffnung, daß de Laage über Terangis Anwesenheit auf der Insel lange in Unkenntnis gehalten werden könnte. In einem Ort, wo alle alles, was geschieht, erfahren, und zwar sehr rasch, würde es unsäglich schwer sein, Terangi zu verbergen. Wohl würde jeder Mann und jede Frau auf der Insel das Geheimnis ebenso streng wahren wie er selbst, aber die Kinder konnten den Flüchtling in aller Unschuld verraten!

Um diese Gefahr zu vermeiden, würde es am besten sein, wenn nur Terangis nächste Verwandten davon erführen: sein Weib und seine Mutter; Fakahau, der Häuptling, sein Schwiegervater; Tavi, Fakahaus Bruder. Der Priester schärfte Terangi ein, daß größte Vorsicht geboten sei.

»Ich bin zu lange ein gejagter Mann gewesen, um der Gefahr gegenüber blind zu sein«, entgegnete Terangi. »Man wird mich wieder fangen, das ist gewiß, aber ich werde einige Wochen, vielleicht einige Monate lang die Freiheit genießen, ehe man erfährt, wo ich mich verborgen halte. Der Gouverneur ist jetzt in Manukura?«

»Nein. Aber er wird mit der Katopua zurückerwartet. Er hat die südlichen Inseln besucht.«

Dann gingen sie daran, einen Plan für die unmittelbare Zukunft zu entwerfen, und es wurde beschlossen, daß Terangi sich auf Motu Tonga, einem unbewohnten Inselchen, das jenseits der Lagune acht Meilen von der Ortschaft entfernt lag, verborgen halten sollte. Vater Paul würde nur die Personen, die ich genannt habe, von der Ankunft Terangis unterrichten; die Familie konnte dann darüber beraten, was weiter zu geschehen habe.

Auf dem Kutter wurde nun das Segel niedergeholt. Kurz vor Sonnenuntergang sahen sie das Land bereits vor sich, aber die Nacht war längst hereingebrochen, als sie längs der einsamen Riffe von Motu Tonga kreuzten. Mako packte die geringen Vorräte, die noch auf dem Schiff waren, zusammen und legte einige Gegenstände für den unmittelbaren Bedarf Terangis dazu: eine wasserdichte Dose mit Zündhölzern und Tabak, eine Bettdecke, ein Messer und einiges andere. Das alles rollte er in ein Bündel zusammen, bedeckte es mit einem Stück Bast, und Terangi befestigte es mit einem Strick an seinen Schultern.

Vater Paul steuerte den Kutter bis auf eine Entfernung von wenigen hundert Metern an das Riff heran. Gewaltige Wogen brachen sich daran, aber die Bewohner der Niedrigen Inseln fühlen sich in der Brandung zu Hause wie die Fische, und eine Nacht und ein Tag der Ruhe hatten Terangis Kräfte vollkommen wiederhergestellt.

Als sie die Mitte der kleinen Insel erreicht hatten, schüttelte er seinen Rettern die Hände, ließ sich an der Wand des Kutters hinab und schwamm durch die Brandung auf das Land zu.

Im schwachen Schein der Sterne war er den Blicken seiner Retter bald entschwunden, aber sie warteten, bis sie an seinem das Brausen der Wogen übertönenden Zuruf erkannten, daß er das Ufer erreicht hatte. Dann steuerten sie den Kutter gegen Nordosten, und in der Morgendämmerung fuhren sie in den Durchlaß nahe der Insel ein, auf der sich das Dorf befand.


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