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Die zwei Reffboote lagen in geringer Entfernung vom Ufer. Der Zwischenraum zwischen den Booten und dem Strand dürfte etwa fünfundzwanzig Meter, der zwischen den beiden Kanus nicht ganz zwanzig Meter betragen haben.
In dem einen Boot waren sechs Personen. Unter ihnen befand sich Ah Fong, unser alter chinesischer Bäcker, ferner Mako und eine verheiratete Schwester Marungas mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter.
Im zweiten Boot hatten acht Menschen Zuflucht gesucht: Tavi, seine Frau, ihr Sohn Taio, ihre Tochter Hitia mit ihrem Mann Farani, Arai, ein Nachbar namens Kauka und ich.
Als der Mond aufging, fing es mit erneuter Heftigkeit zu regnen an. Ich habe so manchen tropischen Regenguß mitgemacht, aber die Wassermengen, die dann in jener Nacht auf Manukura niederprasselten, waren sogar für mich etwas bis dahin Unvorstellbares. Ich sagte »niederprasselten«, aber dieses Wort kann Ihnen keinen richtigen Begriff von der Gewalt dieses Regens geben. Gleich Messerschneiden traf er uns – gleich einem unausgesetzten Hagel von Geschossen. Wenn uns die Flanken des Bootes auch ein wenig Schutz boten, so hatten unsere Körper unter den Kleidern dennoch furchtbare Martern zu erleiden. Sie werden sich nun eine Vorstellung davon machen können, was jene zu erdulden hatten, die auf den Bäumen Zuflucht gesucht hatten und dem Angriff der Elemente ungedeckt ausgesetzt waren.
Sie werden begreifen, daß wir uns im Boot nicht aufsetzten. Wir lagen flach auf dem Boden, zwischen und unter den Ruderbänken. Arai, Hitia und ihre Mutter waren im Bug, Tavi, Taio und ich in der Mitte, die anderen beiden im hinteren Teil des Kanus. Ein Stück Segeltuch, das groß genug gewesen wäre, um die Frauen zu bedecken, wurde uns gerade in dem Augenblick aus den Händen gerissen, als wir es über sie breiten wollten. Sie trugen Ölzeug und lagen Seite an Seite auf einer Matratze, die der Regen in eine breiartige Masse verwandelt hatte.
Der Vollmond, der inzwischen aufgegangen war, übergoß die Wolken, die an ihm vorbeijagten, mit fahlem Licht. Von Zeit zu Zeit trat er hinter zerrissenen Wolkenfetzen hervor und gestattete uns kurze Blicke auf winzige schwarze Flecke, die Menschen waren – zu zweit oder zu dritt an die Stümpfe der abgehackten Palmen angeklammert. Obgleich die Wedel entfernt worden waren, um dem Sturm eine verringerte Angriffsfläche zu bieten, bogen sich die Palmen tief zu Boden, gleich dünnen Drähten erzitternd. Zuweilen mußten wir mitansehen, wie einer der Stämme in der Mitte auseinanderbrach, so daß der obere Teil durch die Luft geschleudert und vom Hurrikan wie ein Strohhalm weggeblasen wurde. Einmal sah ich einen Palmwipfel, auf dem sich drei Menschen befanden, auf diese Art verschwinden ...
An der Stelle, an der unsere Boote lagen, sehr nahe beim Ufer, waren wir ziemlich sicher vor den in der Luft umherfliegenden Trümmern. Die letzten Überreste des Gebäudes, in dem Tavis Laden untergebracht gewesen war, sah ich der Vernichtung anheimfallen. Die Mauern stürzten ein und verschwanden im Nu. Es war ein unheimlicher Anblick, das können Sie mir glauben ...! Ehe man zwei Worte hätte sprechen können, wurde das Fundament, auf dem das Haus geruht hatte, freigelegt. Bald darauf folgte das Haus des Häuptlings, mitsamt seinen Spiegeln, seinen Polstermöbeln, seinen Ölgemälden und dem großen Gästebett. Einen Augenblick später war nichts mehr übrig als der gemauerte Wasserbehälter, gegen den die gewaltigen Wogen anstürmten.
Aber die Kirche stand noch ... und, bei Gott, es war ein Anblick, bei dem einem das Herz in der Brust zu Stein werden konnte ... Als ob ich sie mit eigenen Augen gesehen hätte, konnte ich mir die kleine Gruppe von Menschen vorstellen, die darin ausharrte, vorläufig noch geschützt vor der vollen Gewalt des Orkans, während schon Gischt und Wellen durch die zerbrochenen Türen und Fenster drangen ... die Kinder, die sich in Todesangst an ihre Mütter klammerten, wenn die Wogen sie gegen die dicken Mauern schleuderten ...
Genug davon ...!
Ich dankte Gott dafür, daß ich Tavis Rat gefolgt war. Die Kirche war dem Untergang verfallen. Vater Paul selbst muß es um diese Zeit bereits gewußt haben ... Nichts anderes blieb mehr von dem Dorfe Manukura. Das Land selbst war so gut wie verschwunden unter der Sturmflut, welche die Insel von Norden her überschwemmte. In dem rasch wechselnden Licht – plötzlich hell, dann wieder trüb – konnten wir nur noch die Bäume sehen und die Kirche mit ihren schimmernd weißen Mauern. Wir hatten den Eindruck, als versänke sie langsam ... Und dann wieder schien es uns, als erhöbe sie sich ein wenig, um dem Angriff der nächsten Woge noch einmal, vielleicht zum letztenmal zu trotzen ...
Dann hörten wir durch den Tumult des Hurrikans hindurch leise die Kirchenglocken erklingen, als ob der Sturm der Glöckner wäre ... unendlich schwach und unendlich klar drang dieser Ton an unser Ohr ... wie ein Klang, den man im Traum vernimmt ... Es war in dieser Nacht, in der die Elemente das Wort führten, der einzige Ton, der von Menschen kündete. Und wieder stürzten Bäume, viele von ihnen mit Menschen beladen. Es war unbegreiflich, daß die Palmen, die dem Wind widerstanden, den Anprall des Meeres überdauern konnten. Und doch ... die Stümpfe, an denen die Boote befestigt waren, hielten stand. Und auch wir hielten uns gut gegen die schwere See! Ihre Kraft war zum Teil gebrochen, als sie sich in die Lagune ergoß.
Der Regen und die Flut zwangen uns, ohne Unterlaß das Boot auszuschöpfen. Wir benutzten zu diesem Zweck einigermaßen seltsame Gefäße, nämlich funkelnagelneue Nachttöpfe aus Email. Sie stammten aus Tavis Laden. Trotz der Hast, mit der wir in die Boote flüchteten, war Tavi plötzlich der Gedanke durch den Kopf geschossen, daß wir Schöpfgeräte brauchen würden, und er hatte die ersten halbwegs geeigneten Gegenstände ergriffen, die ihm unter die Hände kamen. Sie leisteten uns vortreffliche Dienste! Da sie glatt und abgerundet waren und gute Henkel hatten, konnte sie uns der Sturm nicht aus den Händen reißen.
Dennoch war das Ausschöpfen der Boote eine der anstrengendsten Arbeiten, die ich je im Leben verrichtet habe. Wir konnten uns nicht auf die Knie erheben, ohne vom Sturm der Länge nach zu Boden gerissen und durcheinandergeworfen zu werden. Ein Bild, das mir aus jener Nacht besonders lebhaft in Erinnerung geblieben ist, ist dies:
Tavi, am Boden kauernd, den breiten Rücken dem Wind zugewandt, schöpft ... schöpft ... schöpft. Mit einem Mal schleudert ihn ein tückischer Windstoß zu Boden. So lang wie er ist, liegt er da, aber den Nachttopf hält er fest ... nein, den gibt er nicht her ...
Ich sehe ihn noch vor mir. Sein mir zugewandtes Gesicht hatte einen maßlos verwunderten Ausdruck, der so komisch war, daß ich – trotz unserer tragischen Lage unwillkürlich lachen mußte. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut wurde hörbar. Wir konnten uns nur durch Zeichen verständigen.
Ich glaube, es war in jenem Augenblick, daß ein Bild in meinem Bewußtsein aufflammte: das ruhige, bequeme Büro im Kolonialministerium ... mein Onkel und ich, wie wir vor der Wandkarte standen ... an dem Morgen, als er mich davon abzubringen versuchte, den Posten in der Tuamotugruppe anzunehmen. Ich hörte meinen Onkel sagen: »Und dann noch ein Nachteil, mein Junge: diese Inseln werden zuweilen von Hurrikanen heimgesucht, und nach allem, was man darüber vernimmt, sind die recht unangenehm.« Immer wieder klangen mir diese Worte in den Ohren ... wie lächerlich weit sie doch hinter der Wirklichkeit zurückblieben! ... Aber wie konnte ich erwarten, daß mein Onkel, der dreißig Jahre oder noch länger in jenem behaglichen Raum verbracht hatte, etwas von Hurrikanen verstand! Sein Geschäft waren Statistiken, nicht die nackte Wirklichkeit des Lebens ...
Die nackten Wirklichkeiten eines Hurrikans enthüllen sich einem nicht sogleich! Man glaubt, daß man eine Stunde, nachdem der Sturm begonnen hat, alles weiß, was es darüber zu wissen gibt. Aber die erbarmungslose Majestät eines solchen Naturereignisses erkennt man von Augenblick zu Augenblick und von Stunde zu Stunde immer klarer ...
Es muß gegen drei Uhr morgens gewesen sein, als wir den richtigen Hurrikan kennenlernten. Wir schöpften aus Leibeskräften und hatten das Boot bis zur Persenningleiste frei von Wasser. Tavi und ich lagen nebeneinander. Er packte meinen Arm, und im gleichen Augenblick spürte ich, daß uns Ärgeres bevorstand, als wir bisher erlebt hatten. Es war jenes seltsame Bewußtsein einer unmittelbaren Bedrohung, das man im Krieg gehabt hatte, wenn man in schwerem Geschützfeuer lag und auf einmal Hunderte feindlicher Abschüsse sich zu denen gesellten, denen wir bereits ausgesetzt waren. Eine Anspannung aller Nerven über jedes erdenkliche Maß hinaus ...
So war es auch hier ...
Das wenige, das von der Insel noch übriggeblieben war, verschwand fast vor unseren Augen. Als ich meinen Kopf bis zur Höhe des Bootsrandes erhob, blickte ich dort hinüber, wo das Ufer gewesen war. Nichts war mehr zu sehen ... nichts: keine Kirche, keine Bäume, nichts, das auch nur im geringsten darauf hingewiesen hätte, daß dort jemals Land gewesen war ... In dem schwachen Licht – die Luft war erfüllt von Gischt – konnte ich natürlich nur ein paar Meter weit sehen, aber daran dachte ich in jenem Augenblick nicht. Ich glaubte, wir seien abgetrieben worden. Ich glaubte das, obgleich mein Verstand mir hätte sagen müssen, daß es nicht möglich war, weil wir dann sogleich von der See verschlungen worden wären.
Und dann kam eine Sintflut, mit der verglichen alle früheren Regengüsse nichts als leichte Schauer gewesen waren. Wir schöpften und schöpften und wagten nicht, auch nur einen Augenblick innezuhalten, wenn auch die, welche keine Schöpfgeräte hatten, nicht mehr tun konnten, als das Wasser mit ihren hohlen Händen emporzuschleudern und vom Sturm wegtragen zu lassen.
Als der Regen endlich nachließ, war ich am Ende meiner Kräfte; Tavi und Kauka aber arbeiteten weiter, als ob ihre Widerstandsfähigkeit unerschöpflich wäre. Tavi war ein großer und schwerer Mann; er wog über zweihundert Pfund. Wenn man ihn ansah, hielt man ihn eher für fett als für stark, befühlte man aber seine mächtigen Arme und Beine, dann merkte man, wie irrig der erste Eindruck gewesen war ... Wieder war das Boot frei von Wasser, und als diese Sintflut vorüber war, wurde es heller. Einige Augenblicke lang glänzte der Vollmond am beinahe wolkenlosen Himmel ... Mondlicht ... Vollmond ... wieviel Friede und sanfte Heiterkeit liegt doch in diesen Worten! Es kann nichts Schöneres auf der Erde geben als eine Koralleninsel in einer windstillen Nacht, im schimmernden Mondlicht – aber ich überlasse es Ihnen, sich die Trostlosigkeit des Anblicks auszumalen, der sich uns jetzt bot. Ich blickte zuerst in die Richtung, in der die Kirche gestanden hatte; aber nichts war zu sehen als die unendliche Flut. Keine Spur von dem Gotteshaus war geblieben, nichts bot sich unseren Blicken als eine vom Mond beschienene Wasserwüste. Die ganze Insel glich einer jener Klippen inmitten des Ozeans, welche die Seeleute so sehr fürchten. Nur wenige Anzeichen ließen noch erkennen, daß hier einmal Land gewesen war. Hunderte von Palmen waren verschwunden, aber einige waren noch da, mit Männern, Frauen und Kindern in ihren Wipfeln. Ich hätte nie geglaubt, daß Kokospalmen eine so große Widerstandskraft haben. Die Stämme der noch vorhandenen Bäume bogen sich in grotesken Winkeln, aber es war klar zu erkennen, daß ihr großer Feind, das Meer, stetig und gierig den Boden, in dem sie verwurzelt waren, wegwusch, so daß auch sie früher oder später eine Beute des Sturmes werden mußten. So viele Palmen waren verschwunden, daß ich nun zum erstenmal freien Ausblick auf einen der alten Purau-Bäume hatte, die nahe der Stelle standen, an der die Kirche sich erhoben hatte. Es war ein prachtvoller alter Baum, der so alt zu sein schien wie die Insel selbst. Ich konnte mehrere Menschen sehen, die sich an ihm festklammerten, aber aus dieser Entfernung war es unmöglich, festzustellen, wer es war. Von dem anderen Purau-Baum war nichts mehr zu sehen.
Wir lebten von einem Augenblick zum anderen. Keiner von uns glaubte wohl noch, daß wir die Nacht überdauern könnten, aber wir klammerten uns an das Leben wie Tiere es tun. Ich kroch zu der Stelle hin, an der Marunga und Hitia lagen, und fürchtete, daß Hitias Kind in dieser letzten schrecklichen halben Stunde zur Welt gekommen wäre. Die junge Frau lag auf der Seite zwischen Arai und ihrer Mutter. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr verzerrtes Gesicht bewies, wie sehr sie litt. Marunga versuchte, mir etwas zuzurufen, aber ich konnte nichts hören. Sie schüttelte den Kopf, offenbar um anzudeuten, daß noch keine unmittelbare Notwendigkeit für meine Hilfeleistung bestünde.
Mit dem anderen Boot war anscheinend etwas nicht in Ordnung. Die Männer im Bug arbeiteten angestrengt daran, das Kanu näher an seine Verankerung heranzuziehen. Zuerst konnten wir nicht erkennen, welchen Zweck sie damit verfolgten, dann aber sahen wir, daß sie einen dicken Schaft ihres Manilataues verloren hatten. Ich habe in meinem Leben manche mitleiderregende Szene mitangesehen, besonders während des Krieges, aber keine, die mir so weh getan hätte. Der Bruch des Seiles hatte sich nicht weiter als zehn Fuß vom Bug des Kanus ereignet, und sie machten verzweifelte Anstrengungen, diesen kurzen Teil des Taus einzuziehen. Aber was konnten drei Männer gegen die vereinte Gewalt des Sturmes und des Meeres ausrichten? Hätten sie an der Ankerkette des Leviathan gezogen, so hätte ihr Bemühen nicht vergeblicher sein können! Und wir konnten nichts anderes tun als ihnen zuschauen ... Schließlich gaben sie ihre Bemühungen auf.
Mir selbst blieb die Qual des hilflosen Zuschauens erspart. Hitias Wehen setzten ein. Einmal, während des Krieges, habe ich die Entbindung einer Bauernfrau in einem zerschossenen Pachthof geleitet, während französische und deutsche Truppen mit Handgranaten und Bajonetten um die armseligen Trümmer über mir kämpften. Ich hatte am gleichen Morgen in dem Keller eine Verbandstation errichtet, und mehrere schwerverwundete Soldaten lagen auf dem Boden. Wie diese Frau unter die Verwundeten geraten war, habe ich nie erfahren, aber jedenfalls war sie da und brachte inmitten all dieser Schrecken ihr Kind zur Welt. Es war ein Mädchen, ein prächtiges Mädchen! Ich war gerade dabei, die Nabelschnur abzubinden, als ein durch einen Bajonettstich schwerverwundeter deutscher Soldat die Treppe herunterrollte und vor meinen Füßen liegenblieb. Während ich in höchster Eile meine Operation beendete, um so rasch wie möglich dem Verwundeten Hilfe leisten zu können, dachte ich mir: »Nie mehr wirst du unter so seltsamen Umständen eine Entbindung vornehmen!« Aber ein Arzt sollte nie eine so voreilige Ansicht äußern ... Das Leben bringt es fertig, selbst die alltäglichsten Vorkommnisse sonderbar zu variieren ...
Bis Hitias Kind geboren war, vermochte ich, wie jeder Arzt es kann und muß, jeden Gedanken außerhalb meiner augenblicklichen Pflichten beiseite zu schieben. Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, ich hätte vergessen, daß wir uns inmitten eines Hurrikans befanden. Das wäre – bei Gott! – unmöglich gewesen. Aber in meinem Herzen war eine Stelle, da war es ganz ruhig und friedlich. Sie werden wissen, was ich meine, wenn Sie jemals eine Arbeit getan haben, die unbedingt getan werden mußte, ganz gleich unter welchen äußeren Umständen ... ob Sie nun ihre Vollendung erleben oder nicht ...
Marunga hockte ganz am Ende des Bootes, so daß ihr Körper ein wenig Schutz vor dem Sturm und dem Meer bot. Hitias Kopf ruhte im Schoß ihrer Mutter. Wohl nur wenige weiße Frauen hätten eine solche Entbindung überlebt. Zunächst einmal hätten ihre Wehen länger gedauert ... Sie wären, auf solche Art dem Wind und Wetter ausgesetzt, wahrscheinlich gestorben. Hitias Kind war eine halbe Stunde, nachdem die Wehen begonnen hatten, auf der Welt. Marunga wartete darauf, es an sich zu nehmen, sobald ich es ihr reichen konnte. Sie hatte unter ihrem Wachstuchmantel eine zusammengefaltete Baumwolldecke, hüllte das Kind hinein, öffnete ihr Kleid, barg das Neugeborene ganz dicht an ihrem Körper und knöpfte dann ihr Gewand und ihren Mantel wieder zu. Ich war kaum mit meiner Hilfeleistung fertig, als Land und Meer wieder in einer neuen Regenflut verschwanden. Als sie vorüber war, sah ich, daß das andere Boot nicht mehr da war. Niemals wurde von ihm und denen, die darin gewesen waren, eine Spur gefunden.
Über die weiteren Ereignisse dieser Nacht will ich mich so kurz wie möglich fassen. Eigentlich gab es auch keine – außer dem über alles vorstellbare Maß hinausgehenden Toben des Sturmes und des Meeres. Der Versuch, Ihnen eine einigermaßen richtige Vorstellung davon zu geben, wäre zwecklos ...
Als der Tag anbrach, war von dem Land nichts mehr zu sehen als ein aus Korallentrümmern bestehender Hügel, der nahe beim Lagunenufer zwischen den Stümpfen der Kokospalmen emporragte. Dieser Hügel ist noch heutigen Tages zu sehen, als eine Art Denkmal dieses Hurrikans. Einige der Korallenblöcke mögen wohl mehrere Tonnen schwer sein, Stücke, die der Sturm aus dem äußeren Riff herausgerissen und die das Meer weithin über das Land geschleudert hatte. Ohne die Zuflucht, die uns dieser Korallenhaufen gewährte, könnte ich Ihnen heute diese Geschichte nicht erzählen – aus dem einfachen Grunde, weil ich seit zehn Jahren tot wäre ...
Wir erreichten diesen Zufluchtsort durch einen höchst erstaunlichen, geradezu unwahrscheinlichen Glücksfall. Gegen sieben Uhr morgens flaute der Sturm ab, und innerhalb einer unglaublich kurzen Zeit trat Windstille ein. Ja, völlige Windstille ...! Nicht der geringste Lufthauch war mehr zu spüren. Der Himmel über uns klärte sich auf, bis er strahlend blau war ... ganz, ganz ferne freilich war er von Wolken umringt, die im hellen Morgenlicht für uns, die wir die Wettertücken dieser tropischen Gegenden kannten, höchst unheilverkündend aussahen.
Endlose Stunden hindurch waren wir vom Sturm und Regen gepeitscht worden, bis wir beinahe den Verstand verloren hatten. Der plötzliche Eintritt völliger Stille und tiefsten, sonnenüberstrahlten Friedens in der Natur wirkte geradezu betäubend auf uns. Wir konnten uns zuerst gar nicht daran gewöhnen, und wenn wir miteinander sprachen, brüllten wir wie vorher. Tavi sprengte mir fast das Trommelfell, als er mir ins Ohr schrie: »Es ist noch nicht vorüber, Doktor! Es kommt noch etwas, das ist sicher!«
Auch ich zweifelte nicht daran. Alle Anzeichen wiesen darauf hin, daß Manukura genau in der Bahn des Hurrikans lag, daß wir uns jetzt in seinem Zentrum befanden und daß wir ihn bald wieder zu spüren bekommen würden, aber aus der entgegengesetzten Richtung. Inzwischen war unsere Lage noch gefährlicher geworden. Eines der beiden Taue, aus denen unsere Verankerung bestand, war weggerissen worden und das andere konnte jeden Augenblick das gleiche Schicksal erleiden. Nun, da der Sturm sich gelegt hatte, schwankte unser Fahrzeug in einem unheimlichen Neigungswinkel auf den Wogen hin und her, und wir waren in höchster Gefahr, vom Meer verschluckt zu werden. Tavi und Kauka, die sich an den Rudern als wahre Meister erwiesen, brachten es zuwege, uns immer wieder vor dem Ärgsten zu bewahren; Farani und ich schöpften auf Tod und Leben Wasser aus dem Boot. Unsere einzige Hoffnung – eine lächerlich geringe Hoffnung – schien darin zu bestehen, auf irgendwelche Art den Korallenhaufen am ehemaligen Strand zu erreichen.
Und dann kam der fast unglaubliche Glücksfall, von dem ich sprach. Die ganze Nacht hindurch hatten sich schwere Wogen über das nördliche Riff längs der zwanzig Meilen langen Lagune von Manukura ergossen. Diese ungeheure Wassermenge suchte einen Ausweg, so daß in dem Durchlaß im Riff eine gewaltige Strömung entstand, die uns immer wieder seitlich gegen die das Land überschwemmenden Wogen trieb. Dieser Zusammenstoß feindlicher Kräfte von Osten und Norden erzeugte ein Flutengewirr, das schrecklich anzusehen war: Strudel, Wirbel, Gegenströmungen, Wogen, die in jeder nur erdenklichen Richtung aufeinanderprallten. Tavi und Kauka waren schon ganz hilflos vor Erschöpfung, als die Wasserhölle, die uns umgab, sich mit einem Male noch viel toller benahm als zuvor, offenbar von dem anerkennenswerten Willen beseelt, acht schon verlorene Menschenleben zu retten – das heißt eigentlich neun, das Neugeborene miteingerechnet ...
Eine Wassersäule schoß plötzlich empor und schleuderte uns auf den Strand zu. Tavi verlor keine Sekunde lang seine Geistesgegenwart. Er brüllte Kauka zu, er möge seine Ruder einziehen, und tat unter Aufbietung der letzten Kräfte das gleiche mit den seinen. Unser einziges noch vorhandene Ankertau war gerade lang genug, um es uns zu ermöglichen, seitlich gegen den Korallenhaufen zu schwenken, und das Boot wurde mitten zwischen die beiden größten Blöcke hineingesetzt ... ja, ganz sanft und gemächlich hineingesetzt! Es war ein Wunder, nicht mehr und nicht weniger ...
Im ersten Augenblick sahen wir einander ganz verdutzt an. Solch ein Glück hätte uns beinahe das letzte bißchen Verstand genommen, das uns noch geblieben war. Dann kletterten wir in äußerster Hast aus dem Boot. Tavi und ich hoben Hitia empor, während die anderen Männer die Matratze über Bord warfen und ihr nachsprangen. Kaum waren wir draußen, als eine neue Welle kam und das Kanu mit sich forttrug. Das Seil riß sich los, und wir sahen das kleine Fahrzeug, das uns so brav gedient hatte, mit unglaublicher Schnelligkeit auf den Durchlaß zuschießen.
Die Erhöhung, auf der wir nun hockten, war nicht größer als ein mittleres Zimmer. Zweimal kamen während der nächsten halben Stunde riesige Korallentrümmer dahergerollt, die sich unserem Hügel krachend einfügten, aber der Zusammenprall schien die Blöcke, auf denen wir saßen, nur noch fester ineinanderzupressen.
Es war keine leichte Sache, geschützte Stellen zu finden, denn das Hügelchen erhob sich höchstens sechs Fuß über die Wasseroberfläche. Die Matratze wurde in einer Spalte flach ausgebreitet, so daß Hitia mit an den Leib gezogenen Knien darauf liegen konnte. Marunga und Arai zwängten sich, so gut es ging, neben sie, und wir anderen suchten Schutz, wo immer er sich bot. Durch Risse in den Korallenblöcken konnten wir das Wasser unter uns schäumen sehen, was nicht gerade behaglich war; aber was uns das meiste Grauen einjagte, war der Blick gegen Norden, über das überschwemmte Land. Es gehörte wahrhaftig Mut dazu, länger als ein paar Sekunden dort hinüberzuschauen, denn die Wellen, die sich steil emporbäumten, wenn sie sich dem Riff näherten, schienen weit höher zu sein als der Korallenhaufen, an den wir uns klammerten.
Ein geringer Trost lag darin, daß die ganze Breite der Insel zwischen uns und der gegen das Riff anstürmenden Brandung lag. Wenn die Wogen unseren Zufluchtsort umbrausten, um sich dann in die Lagune zu ergießen, hatten sie schon einen Teil ihrer Kraft verloren.
Ein paar Palmen hielten noch stand, aber sie neigten sich beinahe bis zum Boden, denn der Grund, in dem sie wurzelten, war fast gänzlich weggespült. Ich zählte fünf Bäume, in denen Menschen zu sehen waren, aber ihre Identität konnte ich nicht feststellen. Die alten Purau-Bäume, die nahe der Kirche standen, waren beide verschwunden ...
Wie lange die Gnadenfrist dauerte, die uns der Sturm gewährte, weiß ich nicht. Eine halbe Stunde vielleicht, obgleich es uns viel länger vorkam. Während dieser Zeitspanne ereignete sich ein merkwürdiger Zwischenfall – einer der merkwürdigsten, will mir scheinen, den es jemals während eines Hurrikans gegeben hat. Sie können sich den erbärmlichen Zustand, in dem wir uns befanden, sicherlich vorstellen ... es war noch ein Glück, daß wir nicht nur körperlich, sondern auch seelisch betäubt waren. Wir hatten nur eine ganz schwache, dämmerige Vorstellung von dem wahren Umfang der Katastrophe. Daß es außer uns noch ein paar Überlebende gab, wußten wir, aber wir waren damals nicht imstande, Schmerz oder Leid über das, was wir verloren hatten, zu empfinden ... Farani hatte sich mühsam in einen engen Felsspalt nahe der Stelle, wo seine Frau lag, hineingezwängt. Nur sein Kopf und seine Schultern schauten daraus hervor. Mit blutunterlaufenen Augen blickte er zur Mutter seiner Frau hinüber.
»Wo ist das Kind, Mutter?« fragte er.
»Hier«, erwiderte Marunga, und ihr Blick senkte sich auf das Kind, das an ihrer Brust ruhte.
»Ist es ein Knabe oder ein Mädchen?«
Marunga starrte zuerst ihn und dann mich an.
»Ist es ein Knabe oder ein Mädchen?« gab sie die Frage an mich weiter.
Es lag etwas Komisches in dem schamhaften Ton ihrer Frage. Das erste Kind ihrer Tochter ... ihr erstes Enkelkind ... und sie wußte nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war!
Und so seltsam es klingen mag, ich konnte es ihr auch nicht sagen. Im Augenblick der Geburt muß ich es gewußt haben, aber die Erinnerung daran war aus meinem Kopf geschwunden. Es kann in der Geschichte der Geburtshilfe nicht oft geschehen sein, daß der behandelnde Arzt, die Hebamme und Großmutter und die Eltern selbst die Geschlechtszugehörigkeit eines Neugeborenen eine Stunde nach der Entbindung noch nicht kannten ... Allerdings dürften auch nicht eben viele Menschen während eines Hurrikans zur Welt gekommen sein. Darin liegt vielleicht eine kleine Entschuldigung für unsere Unwissenheit ...
Hitia, die unbeweglich wie eine Tote auf der nassen Matratze lag, richtete sich nun mühsam auf und blickte ihre Mutter mit irren Augen an.
»Du weißt nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist, Mutter«, jammerte sie. »Du hast es nicht! Es ist tot! ... Es ist tot! Du hast es im Boot gelassen!«
Die junge Frau war selbst dem Tode näher als dem Leben und dazu beinahe wahnsinnig. Niemals werde ich den zärtlichen Klang in der Stimme Marungas vergessen, als sie antwortete:
»Nein, nein, meine Tochter! Es ist hier ... es lebt!« Rasch trocknete sie die Hände an ihrem Haar und öffnete hastig das Gewand über ihrer Brust. Dann tastete sie mit ihrer kräftigen, braunen Hand in das Bündel, in dem das neugeborene Würmchen steckte. »Ein Sohn! Du hast einen Sohn!« rief sie triumphierend und mit strahlender Miene aus. Und dann hörten wir, während die See uns mit einem Sprühregen überschüttete und uns jeden Augenblick zu verschlingen drohte, ganz deutlich ein leises Wimmern ... Glauben Sie mir, das werde ich nicht vergessen, und wenn ich hundert Jahre alt werde ... diese arme schwache Menschenstimme, die an unser Ohr drang, über den Donnerlärm des ungeheuren Ozeans hinweg ...!
»Hitia! ... Hast du seine Stimme gehört?« rief Tavi und beugte sich über seine Tochter. »Ein Sohn! Ein Mann!«
Ich weiß selbst nicht, wie es kam, aber in diesem Augenblick schien uns alle leise Hoffnung zu beleben ... Sicher hatte das zarte Stimmchen des Kindes, das erst seit einer Stunde lebte, seinen Anteil daran. Wenn das hilfloseste aller menschlichen Wesen all dies Furchtbare überlebt hatte, dann konnte es auch mit uns noch nicht so schlecht stehen ...
Tavi, dessen Gesicht fast bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen war, sah mich mit seinen entzündeten, halbblinden Augen an und lächelte.
»Sitzen Sie gut dort, Doktor?« fragte er. »Haltet euch nur fest, wenn der Sturm wieder losbricht! ... Wir werden durchkommen!«