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Die große Umwälzung ist eine ungeheure Tatsache, die, seit sie sich vollzogen, nie aufgehört hat, in erster Reihe in Frankreich selbst, doch durchaus nicht dort allein, lebendig fortzuwirken. Auf sie muß man immer wieder zurückgehen, wenn man den Ablauf der politischen Ereignisse in Frankreich verstehen, den tiefern Sinn der dortigen Parteibildungen und -bestrebungen erfassen und die neuere Geschichte des französischen Volkes als einen organischen und vernünftigen Vorgang begreifen will.
Man spricht häufig von den »zwei Frankreichen«, die hinter der scheinbaren Einheit des französischen Volkes ein gegensätzliches Sonderdasein leben. Das Wort ist richtig. Es gibt in der Tat zwei Frankreiche, das der Revolution und das der Gegenrevolution, deren jedes das andere zu überwältigen, wenn nicht zu vernichten sucht, und ihr Kampf um die Vorherrschaft ist seit fünf Vierteljahrhunderten der eigentliche Inhalt der Geschichte Frankreichs, deren geradliniger Zug allerdings in allzu kurzen Abständen durch schwere auswärtige Verwicklungen von seiner bestimmten Richtung abgedrängt wurde.
Am 14. Juli 1789, als eine wildentschlossene Schar durch die Rue und den Faubourg St. Antoine nach der Bastille zog und sie erstürmte, ging ein Riß durch das französische Volk, der heute wie am ersten Tage klafft.
Die rückschrittlichen Geschichtschreiber haben gut schmähen: »Die Bastillenstürmer waren eine Bande barfüßigen, zerlumpten Gesindels ohne andere Absicht als die des gröbsten Unfugs und der Zuchtlosigkeit.« Sie waren gut bewaffnet. Sie führten Kanonen mit sich. Sie waren von Soldaten in feldmäßiger Ausrüstung begleitet. Sie waren wirklich das französische Volk, und sie leitete ein politischer Gedanke.
Jene Geschichtschreiber haben gut spotten: »Die Bastille war ein halbverfallenes mittelalterliches Bauwerk, das ein paar hilflose Invaliden bewachten.« Gewiß, das rechteckige Bollwerk mit den Halbrunden Ecktürmen hatte eine schwache Besatzung. Aber hinter seinen hohen fensterlosen Mauern erschien die Majestät des Gottesgnadentums, das kein Recht und kein Gesetz einschränkte und in dessen Vollgefühl der König sagen konnte: »Der Staat bin ich.«
Als dem König Ludwig XVI. der Sturm auf die Bastille gemeldet wurde, rief er: »Das ist ja eine Revolte.« »Verzeihung, Sire,« entgegnete der Herzog von La Rochefoucauld-Liancourt, »es ist eine Revolution.« Der Hofmann sah klarer als sein König. Der Handstreich der Menge war eine sinnbildliche Handlung, die das Ende einer langen Entwicklung bezeichnete. Der Kampf zwischen der Königsmacht und dem Volksrecht, der gegen anderthalb Jahrtausende dauern sollte, begann, als der grimme Frankenkrieger das Prunkgefäß von Soissons zerschlug, das König Chlodwig außer seinem rechtmäßigen Beuteanteil für sich verlangte, da der überkommene Brauch doch gebot, daß es in der Masse der eroberten Wertsachen bleibe und über seine Zuteilung das Los entscheide. Das mittelalterliche Gemeinwesen baute sich zwischen den Trümmern der römischen Rechtsordnung und Gesittung auf, in denen siegreiche Wandervölker sich einnisteten. Die Heerkönige strebten nach cäsarischer Macht, die sie vom Hörensagen kannten, in ihren Mannen war eine, wenn auch sich allmählich verdunkelnde Erinnerung an ursprüngliche trotzige Unabhängigkeit wehrhafter Vollfreier lebendig. Die Kirche begünstigte die Ansprüche des Herrschers, indem sie ihn salbte, einen göttlichen Ursprung seiner Gewalt behauptete und ihn zu einer überirdischen Höhe entrückte, wo menschliche Vorbehalte ihn nicht mehr erreichen konnten. In der Auffassung seiner Waffengenossen war er nur der Erste unter Gleichen, dessen Recht aus seiner Erhebung auf dem Schilde, das heißt aus dem Willen des versammelten Volkes stammte. »Wer hat dich zum Grafen gemacht?« fragte König Hugo Capet zornig seinen ungefügigen Vasallen Adalbert von Perigord. »Wer hat dich zum König gemacht?« antwortete der Vasall ohne Besinnen. Im Mittelalter gab es keine Freiheit, jedoch Freiheiten. Die Theorie der souveränen Persönlichkeit war unbekannt, die Praxis ihrer Durchsetzung geläufig.
Wer stark genug war, erzwang sich vom Herrn die Anerkennung seiner Ansprüche auf Selbstbestimmung in Gestalt einer bindenden Verleihungsurkunde, der Eide, Unterschriften und bedeutende Siegel die unheimliche Weihe eines Talismans von der Art der alten Zauberrunen verliehen. Höchste Beispiele solcher köstlichen Pergamente waren die Magna Charta und die Goldene Bulle, bescheidenere bildeten den Hausschatz aller Stände, Innungen, Zünfte, Körperschaften, Berufe, Gemeinwesen und namhaften Familien. Sie waren mit Blut und Tod erworben, sie verkörperten Kampf und Mut und Entschlossenheit, und ihre erblichen Besitzer wußten, daß sie allezeit bereit sein mußten, sie gegen Vergewaltigungsgelüste mit Einsetzung ihrer ganzen Persönlichkeit zu verteidigen. Schiller hat in der Rütliszene seines »Wilhelm Tell« dieser Denkweise für ihr mißachtetes Recht eintretender freier Männer unübertrefflichen, unerreichten Ausdruck gegeben.
Im unaufhörlichen Ringen der Königsmacht mit den Standesgerechtsamen erstritt bald der eine, bald der andere Teil Erfolge. Ludwig XI. beugte die starren Nacken seines Hochadels, während der Fronde konnte dieser sein Haupt wieder erheben; unter Ludwig XIII. durfte Kardinal Richelieu Chalais, Montmoreney-Vetteville, Cinq-Mars aufs Blutgerüst schicken, ihren Ranggenossen zur blutigen Warnung, und Ludwig XIV. trat gestiefelt und mit der Reitpeitsche in den Parlamentssaal und verkündete seine Allmacht, die keine Fessel duldete. Mit der Einführung der stehenden Heere, über die der König allein verfügte, und einer geordneten Verwaltung, deren Beamte sich als persönliche Diener, man möchte sagen als Hausgesinde ihres Herrn empfanden, schien der Sieg des Herrschers von Gottes Gnaden entschieden und der Absolutismus felsenfest – »rocher de bronze« sagte Friedrich Wilhelm I. mit einem unmöglichen Bilde – gegründet. Die englische Umwälzung von 1648, die Hinrichtung des gesalbten Königs Karl I., die Ausrufung des Freistaates mit Cromwell als Schutzherrn zeigte den verwirrt aufschauenden Völkern andere Möglichkeiten, doch wurde die Lehre dieser Ereignisse nicht gleich begriffen.
Erst im 18. Jahrhundert wagten vorgeschrittene Denker, Montesquieu, Voltaire, Turgot, Condorcet und der aufgeregte Schwärmer Rousseau, die Behauptung, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Individuen seine Quelle nicht in den Pergamenten hat, die einem Herrn abgenötigt wurden, sondern daß sie ihm angeboren sind. Heute gilt in der Rechtswissenschaft die Anschauung, daß es ein Naturrecht nicht gibt, sondern daß dieses ein sentimentaler Irrtum der rationalistisch konstruierenden Enzyklopädisten und ihrer Schüler, daß alles positive Recht geschichtlich geworden und nachweisliches Menschenwerk ist. Das ist unleugbar und im tiefsten Grunde dennoch falsch. Denn die Menschen hätten nie ein positives Recht aufgerichtet, das der formalistische Jurist allein als solches anerkennt, wenn in ihnen nicht immer ein dunkles, sich allmählich aufhellendes Bewußtsein persönlicher Würde und Ansprüche gelebt hätte, das in kraftvollen und höher differenzierten Persönlichkeiten von genug starken Emotionen begleitet war, um ihnen fremde Willkür unerträglich zu machen und ihre Faust gegen sie zu waffnen. Die Kirche hatte immer eine Ahnung vom Rechte der Persönlichkeit, das sie, ihrer Weltansicht entsprechend, in den mystisch umnebelten Begriff der Gotteskindschaft faßte. Der Staat mußte zu seiner Anerkennung durch eine gewaltsame Volkserhebung gezwungen werden, wie der Sturm auf die Bastille sie darstellt.
Der Riß, der, wie ich sagte, am 14. Juli 1789 durch das französische Volk ging und die Parteigänger der Menschen- und Bürgerrechte, das heißt der souveränen Persönlichkeit, von den zu willenlosem Gehorchen gedrillten Anhängern der Königsallmacht schieb, folgte nicht glatt den Säumen der Stände. Der Adel, der in der unvergeßlichen Nacht vom 4. August 1789 aus eigener Entschließung auf alle seine verbrieften Vorrechte verzichtete, Graf Mirabeau, der jüngere Sprößling einer uradeligen marquisalen Familie, der dem die Nationalversammlung im Namen des Königs auflösenden Marquis de Dreux-Brézé im Ballhaussaal die drohenden Worte zurief: »Gehen Sie zu Ihrem Herrn und sagen Sie ihm, daß wir durch den Willen des Volkes hier sind und nur der Gewalt seiner Bajonette weichen werden!« waren revolutionär, das eine Frankreich. Die Vendeer Bauern, die Söhne jener tierähnlichen Leibeigenen, von denen Labruyère die oft angeführte erschreckende Beschreibung gegeben hat,»Man sieht gewisse scheue Tiere, Männchen und Weibchen, über das flache Land verbreitet, schwarz, fahl, von der Sonne tief verbrannt, an die Erde gefesselt, die sie mit einer unbezwinglichen Hartnäckigkeit durchwühlen und umwenden; sie haben etwas wie eine artikulierte Stimme, und wenn sie sich auf ihren Beinen aufrichten, zeigen sie ein menschliches Antlitz, und in der Tat: sie sind Menschen. Nachts verschlüpfen sie sich in Baue, wo sie von Schwarzbrot, Wasser und Wurzeln leben; sie ersparen den anderen Menschen die Mühe des Säens, des Pflügens und des Einheimsens, um zu leben, und sie verdienen deshalb, daß es ihnen an dem Brot nicht fehle, das sie gesät haben.« (La Bruyere, Caractères; IX: De l'homme.) das Pariser Bürgertum, aus dem nach dem Sturz der Jakobiner am 9. Thermidor 1794 die verstiegen rückschrittlichen Incroyables hervorgingen, die Lyoner Arbeiter, die sich 1793 gegen die vom Konvent eingesetzte Regierung empörten, der barfüßige Pöbel, der nach dem Fall Napoleons in den Städten Südfrankreichs den »weißen Schrecken« entfesselte und unter dem Abzeichen des Bourbonenkönigs Republikaner und Bonapartisten abschlachtete, waren antirevolutionär, das andere Frankreich. So ist es bis heute geblieben. Die Hauptmacht des Reaktionsheeres rekrutiert sich allerdings aus den vornehmen und reichen Ständen, die des Radikalismus aus dem geringen Bürgertum, dem ländlichen Kleingrundbesitz, der Arbeiterschaft, doch finden sich in diesem neben Plebs und Proletariat nicht wenige Abkömmlinge von Kreuzrittern und Millionäre, in jenem zwischen den Trägern echter und zweifelhafter Adelstitel Krämer, Bauern, Handwerker und Handlungsgehilfen.
Aus der heftigen Gegenströmung, die nach der Niederwerfung der Jakobiner einsetzte, tauchte Napoleon empor und ließ sich von ihr bis zur Kaiserkrönung in der Notre-Dame-Kirche tragen. Napoleon gilt seinen Schmeichlern als Vollender, seinen Gegnern als Würger der Revolution. Beethoven, der kein Politiker und kein Geschichtsphilosoph war, jedoch mit seinem starken Fühlen triebhaft, wie es die Art des Genies ist, den Kern der Dinge erfaßte, empfand ihn als das letztere, strich ihn nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire 1799 für sich aus der Reihe der Lebenden und stimmte in der Eroica auf den »Tod eines Helden« eine erschütternde Totenklage an. Napoleon verabscheute die Revolution, der er sein Geschick verdankte, und suchte ihre Spuren auszutilgen. Er verdunkelte den Ruhm des republikanischen Generals Hoche. Er setzte den Dichter und Verfasser der Marseillaise, Rouget de l'Isle, zurück und mißhandelte ihn mit vielfacher Kränkung. Er haßte und verfolgte die Ideologen, das heißt die Erben jener Philosophen des Jahrhunderts der Aufklärung, die die Väter der Revolution gewesen waren. Er verbannte die Tochter Neckers, Frau von Staël, aus seiner Hauptstadt, weil sie die Revolution zu rühmen und republikanische Sitten als die Vorbedingung einer Erneuerung des Schrifttums zu bezeichnen gewagt und ein freisinniges nachgelassenes Werk ihres Vaters (»Dernières vues de politique et de finances«) veröffentlicht hatte. Er verwirklichte die Weissagung, die Montaigne drei Jahrhunderte vorher ausgesprochen hatte: In einer Demokratie, in der allmählich die Tyrannei aller allen unerträglich wird, ersteht schließlich ein einziger Cäsar. Für ihn war das französische Volk ein hart diszipliniertes Heer, dessen Höchstbefehlender er war. Er schuf einen neuen Absolutismus mit einem neuen Orden, einem neuen reich abgestuften Adel und einer starren Hofetikette. Er dichtete sich sogar eine neue Legitimität an, indem er von seinem Hause als der »vierten Rasse« oder Dynastie sprach, nach denen der Merowinger, Karolinger und Capets, und bedauerte, daß er »nicht sein eigener Sohn war«, das heißt, seine vom Papst geweihte Krone nicht dem rechtmäßigen Erbgang, sondern leider seinem eigenen Genie verdankte.
Das französische Volk ertrug sechzehn Jahre lang ohne eine Abwehrbewegung, ohne einen Schrei, den Despotismus Napoleons, der es in einem dauernden Ruhmesrausch erhielt. So erleidet der Kranke in der Chloroform- oder Ätherbetäubung ohne einen Laut den Eingriff des Wundarztes. Im kaiserlichen Frankreich war das von 1789 und 1793 nicht wiederzuerkennen. War die große Nation, über die der Cäsar herrschte, wirklich dieselbe, die die Bastille dem Erdboden gleichgemacht und ihr Königspaar unter das Fallbeil des Henkers Samson geschleudert hatte? Die Revolution schien endgültig überwunden, selbst die Erinnerung an sie ausgelöscht.
1815, das Schicksalsjahr der hundert Tage, Waterloos, St. Helenas, berichtigte diesen Eindruck nicht. Das todmüde, von furchtbaren Blutverlusten aufs äußerste erschöpfte französische Volk ließ sich die Wiedereinsetzung der Bourbonen gefallen, die, wie später gesagt wurde, »auf den Gepäckwagen der Feindesheere« in das Land zurückkehrten, das sie verjagt hatte. Der treugebliebene Adel, der mit seinem König aus der Verbannung heimkam, machte putzige Versuche, die neue Zeit an die alte anzuknüpfen und alles, was zwischen 1789 und 1815 lag, zu unterdrücken. Ludwig XVIII. hatte nicht diesen Mut oder diese Folgerichtigkeit. Trotz seines Hofes, der mit greisenhaftem Eigensinn die Versailler Überlieferungen von den Toten erweckte, trotz seiner Gardeoffiziere, die keine Zufallsbegegnung mit den verächtlich »brigands de la Loire« genannten Halbsoldveteranen Napoleons haben konnten, ohne mit ihnen Herausforderungen auszutauschen, schwankten er und seine Regierung zwischen zwei Haltungen. Der Lehrordenspriester Loriquet verfaßte für die Staatsgymnasien ein Lehrbuch der Geschichte, das Ludwig XVIll. am 21. Januar 1793 den Thron besteigen ließ und vom Marquis Napoleon Bonaparte als dem Konnetabel sprach, der die Heere des Königs auf dessen Geheiß zu glänzenden Siegen führte. Man schleifte jedoch weder den unvollendeten Triumphbogen der Place de l'Etoile noch die Vendomesäule, sondern begnügte sich damit, auf dem Abakus der letzteren das Standbild des Kaisers durch eine weiße Fahne mit einer riesenhaften Wappenlilie an der Stange zu ersetzen. Man bewilligte den Emigranten eine Milliarde als Entschädigung für die ihnen weggenommenen Güter, ließ diese jedoch den Scheinkäufern, die sie von der Revolutionsregierung meist um eine Handvoll wertloser Assignaten erworben hatten. Man stellte den Heiligen-Geist- und St. Ludwigs-Orden wieder her, nahm jedoch die Ehrenlegion und den Napoleonischen Adel in die alt-neue Ordnung hinüber. Man verfolgte die noch lebenden und erreichbaren Konventsmitglieder, die 1793 für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt hatten, als Königsmörder, rüttelte jedoch nicht an den Staats- und Rechtseinrichtungen, die die Revolution und das Kaiserreich geschaffen hatten. Der König ließ sich in Reims mit dem heiligen Öl salben und nahm, unabhängig von jedem Volkswillen und jeder menschlichen Zustimmung, nach dem Worte Wilhelms I. »seine Krone vom Tische des Herrn«, gewährte indes gleichwohl 1814 eine Verfassung mit einer Volksvertretung, die sich freilich durch ihre liebedienerische Haltung gegen die Regierung des Königs von Gottes Gnaden, mit ihrem schwachmütigen Verzicht auf die Ausübung ihrer Rechte den Namen der »unauffindbaren Kammer« verdiente. Doch fand sich selbst in dieser auf dem Bauch liegenden Versammlung ein aufrechter Mann, der Abgeordnete Jacques Antoine Manuel, in dem der Geist Mirabeaus lebte und den nur militärische Gewalt von dem Platz entfernen konnte, auf den ihn der Wille des Volkes gestellt hatte.
Die Gutgesinnten erbauten sich am »Journal de Paris« und an der »Gazette de France«, für die der Zeiger an der Uhr der Zeit immer noch auf 1787 stand, aber die Regierung mußte doch auch die »Quotidienne« und den »Globe« dulden, dessen unerschrockener Freisinn die Gemeinde begeisterte, die im Glauben an die Gedanken der Revolution kommunizierte. Daß diese Gemeinde groß, in ihrem Glauben eifernd und bis zur Blutzeugenschaft opferbereit war, bewies die Militärverschwörung von La Rochelle, die zur Hinrichtung von vier republikanisch gesinnten Sergeanten in Paris, am 21. September 1822, führte. Und als der Minister Karls X. Fürst Polignac durch seinen berühmten Erlaß die Presse knebeln wollte, da erhoben sich die Söhne der Bastillenstürmer, und ohne Vorbereitung, ohne Abkartungen und Einverständnisse, in einer natürlichen und gewissermaßen selbstverständlichen Bewegung schlugen sie in dreitägigem Straßenkampfe die Schweizer Söldner und Linientruppen Karls X. aufs Haupt und jagten den König von Gottes Gnaden aus den Tuilerien und aus dem Lande.
In den »drei Ruhmestagen« (»les trois glorieuses«) des Juli 1830 siegte das revolutionäre Frankreich über das antirevolutionäre ebenso entschieden wie am 14. Juli 1789, vielleicht noch entschiedener. Die Wiederaufrichtung der Republik schien dem Volke selbstverständlich. Der alte Lafayette, ein Wiedererstandener der Revolution, trat aus einer langen Zurückgezogenheit heraus, bestieg einen Schimmel, ritt langsam durch die Straßen von Paris und wurde auf seinem Wege vom Jubel der Menge umbraust. Die von der Restauration des Landes verwiesenen alten Konventsmitglieder kehrten aus der Verbannung heim. Ludwig Philipp, der zwar von den Bourbonenkönigen den Rang eines Prinzen von Geblüt angenommen, jedoch seinen Vater, den fürstlichen Anarchisten und verunglückten Streber Philippe Egalité, nie verleugnet und stets mit dem Freisinn geliebäugelt hatte, zog aus dem Palais Royal ungesäumt in die Tuilerien hinüber, jedoch zunächst nur als Landesverweser. Erst nachträglich setzten ihm gewandte Politiker vom Schlage Adolphe Thiers' die Königskrone auf und drückten ihm das Zepter in die Hand, doch mußten die Krone die Form der Schirmmütze eines Spießbürgers und das Zepter die eines Regenschirmes annehmen, um von den Barrikadenkämpfern der Julitage gelitten zu werden.
Die Radikalen grollten, daß taschenspielerisch geschickte Finger die Republik eskamotiert hätten, und August Barbier schrie ihre Entrüstung, ihre Enttäuschung, ihren Zorn in den heißen und bitteren Versen der »Jambes« ins Volk hinaus, die ihm Unsterblichkeit sichern. Die Stimmung blieb lange, wie sie sich in den Julitagen geoffenbart hatte. Deutsche Freisinnige wie Ludwig Börne eilten nach Paris gleich Verdurstenden, die sich an einer sprudelnden Quelle der Freiheit laben wollen. Ludwig Philipp hatte gut mit Biedermannsmiene und demokratischem Geiste regieren, sein Minister Guizot hatte gut den Mittelstand mit dem Zuruf: »Bereichert euch!« ködern, ein ansehnlicher Teil des Volks, namentlich der großen Städte und in erster Reihe von Paris, verharrte in grundstürzender Gesinnung, und die Juli-Monarchie führte ein bewegtes Dasein zwischen Straßenaufruhr – wie dem der Rue Transnonain –, Verschwörungen – wie der Blanquis – und Mordanschlägen – wie dem des Fieschi –. Wenn sie sich gleichwohl fast achtzehn Jahre lang behaupten konnte, so war es wahrscheinlich, weil die Feindschaft gegen die bestehende Ordnung so vielfache und kräftige Ablenkungen erfuhr, daß sie sich lange nicht zu einem entschlossenen Vorstoß mit vereinten Kräften sammeln konnten. Die Jugend stürzte sich mit Leidenschaft in den Kampf der Romantik gegen den Klassizismus und verbrauchte ihre Tapferkeit in den Schlachten um »Hernani« und die späteren Dramen Victor Hugos. Die Idealisten von mystischer Richtung schwärmten mit de Lamennais von einer Erneuerung, Demokratisierung, beinahe Republikanisierung der katholischen Kirche. Gefühlssozialisten, die sich der Brandrufe Babeufs erinnerten, scharten sich um Saint-Simon und seine Jünger, die Gütergemeinschaftsprediger Fourier, Père Enfantin, Cabet. Platoniker der Revolution begeisterten sich für die aufständischen Polen und drängten sich zu den Vorlesungen Adam Mickiewiczs, als er einen Lehrstuhl am Collège de France erhielt. Selbst der Haß gegen die Jesuiten, der Eugen Sues »Ewigem Juden« einen beispiellosen Erfolg verschaffte, hatte die Bedeutung eines Anzeichens des durch alle Schichten des französischen Volkes verbreiteten ungeduldigen und streitbaren Radikalismus, der in den leitenden Geistern bewußter Republikanismus war.
Das offenbarte sich deutlich genug beim Ausbruch der langverhaltenen Volkserregung am 23. Februar 1848, der das Bürgerkönigtum noch rascher wegfegte als der Juli-Aufstand die Bourbonenherrschaft. Den Sinn der Februar-Revolution konnte kein Auslegungskniff verdunkeln oder fälschen. Sie bedeutete, daß das französische Volk nach einer Unterbrechung von einem halben Jahrhundert seinen Werdegang dort fortsetzen wollte, wo Bonaparte 1799 ihn mit Gewalt und Ludwig Philipp 1839 mit List aufgehalten hatte. Die einstweilige Regierung beeilte sich diesmal, schon am 25. Februar die Republik auszurufen, die der fortschrittliche Teil des Volkes sich bereits gewöhnt hatte, als seine rechtmäßige Verfassung zu betrachten, während die stets wiederkehrenden Rückfälle in einen Monarchismus, der bald Cäsarismus, bald Legitimismus, bald das Zwitterding eines Bürgerkönigtums war, ihm im Licht einer Auflehnung gegen das Gesetz zu erscheinen begannen.
Das eine Frankreich, das revolutionäre, hatte einen Sieg davongetragen, den man für entschieden halten durfte. Das andere Frankreich, das gegenrevolutionäre, streckte jedoch die Waffen nicht und bereitete neue Angriffe vor, die die Fehler des Gegners ihm erleichterten. Sie waren zahlreich und schwer. Die Nationalwerkstätten erwiesen sich als das unglücklichste Heilmittel der Arbeitslosigkeit und der von ihr verursachten Not des Proletariats. Als die Regierung aufhören mußte, ihr sich für einen Tagelohn ausgebendes Massenalmosen von einem Franken täglich zu verteilen, taumelte die leidende und enttäuschte Arbeiterschaft zum Juni-Aufstand, den Cavaignac in Blutströmen ertränkte. Auf dem aufgerissenen Pflaster der Pariser Straßen lagen über 2000 Proletarierleichen zuhauf, über die die zweite Republik alsbald stolpern und hinfallen sollte. Das revolutionäre Frankreich entdeckte, daß es wieder geprellt worden sei, und wandte sich grollend von einer Republik ab, die immer dreister ihr wahres Gesicht, das antirevolutionäre, cäsaristische, zeigte. Als der Berg, das heißt die äußerste Linke der Nationalversammlung, am 13. Juli 1849 gegen den beschlossenen Kriegszug nach Rom das Volk zu den Waffen rief, rührte sich keine einzige schwielige Hand, und dieselbe Erfahrung machten die republikanischen Abgeordneten, die am 2. Dezember 1851 frühmorgens in die Vorstädte von Paris eilten und die nach ihren Werkstätten wandernden Arbeiter auf der Straße anhielten und beschworen, sich dem Staatsstreich des Prinz-Präsidenten Louis Napoleon Bonaparte mit Gewalt zu widersetzen. Die Angesprochenen zuckten die Achsel und gingen achtlos ihrer Wege, und bei dieser Gelegenheit rief eine Arbeitergruppe den Volksvertretern das Hohnwort »25 Franken!« zu, womit man in den Volksvierteln die Abgeordneten nach dem Betrage ihres Taggeldes bezeichnete. Das gab Baudin Anlaß, den Beleidigern die Antwort zu geben: »Ihr sollt sofort sehen, wie man für 25 Franken täglich stirbt,« und sich auf einer Barrikade heldenmütig den Kugeln der Truppen auszusetzen, deren eine ihn denn auch wenige Minuten später in die Stirne traf und auf der Stelle tötete. Der Zwischenfall änderte nichts an der Haltung des Volkes, das gleichgültig, ja mit Schadenfreude, die Erwürgung einer Republik mit ansah, die an ihm Verrat geübt hatte.
Napoleon III. beging seinen Eidbruch gegen die von ihm beschworene republikanische Verfassung mit freudiger Zustimmung des antirevolutionären Frankreichs. Er selbst aber heuchelte immer, der Vertreter des revolutionären Frankreichs zu sein, und Thiers konnte das geflügelte Wort hinausflattern lassen: »Das Kaiserreich ist eine Monarchie, die vor der Demokratie auf den Knien liegt.« Und Vielleicht heuchelte Napoleon nicht einmal. Gedankenklarheit war seine starke Seite nicht. Er war voller Widersprüche und machte kaum jemals ernstliche Versuche, sie auszugleichen oder sich für die eine oder die andere seiner entgegengesetzten Strebungen zu entscheiden. Er führte das allgemeine Stimmrecht ein und unterwarf sich an den entscheidenden Wendungen seiner Herrschaft der Volksabstimmung, sorgte aber dafür, daß die Wähler nach der Geige seiner Verwaltung tanzten. Er führte beständig das Wort Freiheit im Munde und überlieferte das Land nach seinem Staatsstreich einer russischen Polizeityrannei, die es jahrelang knebelte. Er hatte sich in seiner Jugend mit der sozialen Frage beschäftigt, und aus seinen einschlägigen Schriften tönt uns ein gedämpfter Widerhall der leidenschaftlichen Reden des Saint-Simonismus und Fourierismus für die Rechte des vierten Standes entgegen. Als Kaiser machte er es sich zur Aufgabe, durch gewaltige Umbauten des alten Paris die Arbeiterschaft in Nahrung zu setzen, doch behandelte er diese Fürsorge für die Enterbten als Machtmittel, und sie wurde unter seiner Hand zu einer Bestechung der Arbeiter zugunsten des Kaiserreichs, das keine Wurzeln im Lande hatte und dem das Bürgertum den einzigen Vorzug nachsagte, daß es die Ordnung aufrechterhielt. Es störte ihn nicht, sich zugleich auf den Volkswillen als die Quelle seiner Herrscherrechte zu berufen und sie mit den dynastischen Ansprüchen eines Erben Napoleons I. zu begründen.
Im Innern ein Despot, begünstigte Napoleon III. in der auswärtigen Politik revolutionäre Bestrebungen und hatte manchmal wirksame, manchmal unfruchtbare Gefälligkeiten für Nationalitäten, die sich gegen die bestehende Staatsordnung Europas auflehnten. Die Vereinigung der Donaufürstentümer war wesentlich sein Werk. Er fürchtete nicht, Rußland zu verstimmen, indem er 1863 für die aufständigen Polen Partei nahm. Er stürzte sich für die italienische Einheit in einen Krieg mit Österreich. Freilich, auch hier welche Widersprüche! Er opferte Frankreichs Blut und Gold für die Befreiung der Lombardei von der österreichischen Herrschaft und verhinderte durch die Besetzung von Rom und Civitavecchia die Krönung des italienischen Einheitswerkes durch die Erhebung der ewigen Stadt zur Hauptstadt des unvollendeten Königreiches. Er lehnte es 1864 ab, sich in den Streit des Deutschen Bundes mit Dänemark um die Elbherzogtümer einzumischen, weil er das Recht des deutschen Volkes anerkannte, auf allen Wegen seiner Einheit zuzustreben, und er nahm von 1866 ab gegen den Norddeutschen Bund eine unfreundliche und zuletzt feindselige Haltung an, um Deutschlands Einigung unter Preußens Führung zu verhindern. Dieser Mangel an Folgerichtigkeit führte seinen Sturz herbei. Bis zur Schlußkatastrophe von 1870 aber war gerade seine Nationalitätenpolitik wegen ihres freiheitlichen, ja revolutionären Anscheins seine einzige Tat gewesen, die wirklich zeitweilig die breiten Massen des französischen Volkes mit ihm versöhnte. In dem Jubel, mit dem die Pariser 1859 das aus Italien heimkehrende Heer, die Sieger von Palestro, Magenta, Solferino, begrüßten und den 1856 die Eroberer von Sebastopol nicht entfernt in demselben Maße gekannt hatten, schlug zum erstenmal das Herz der französischen Demokratie für den Verüber des Staatsstreichs von 1851. Im Innern geknechtet, fand sie einen Trost und eine großherzige Selbsttäuschung darin, daß Frankreich wenigstens in der Fremde der Soldat der Freiheit war.
Auf seine alten Tage wollte Napoleon III. die Fesseln lockern, wenn nicht lösen, in der er die Volksrechte geschlagen hatte, und er unternahm den Versuch des »liberalen Kaiserreichs«. So unaufrichtig und hinterhältig er war, er fand Gläubige, die ihn ernst nahmen oder ein Interesse hatten, so zu tun. Emile Ollivier, Prévost-Paradol, Laboulaye, Edmond About, mit die glänzendsten Geister unter den Gegnern des Kaiserreichs, machten ihren Frieden mit ihm und traten in den Dienst Napoleons. Durch ihr Plebiszit vom 8. Mai 1870 erklärten die Millionen der französischen Wähler sich mit der Wendung der kaiserlichen Regierungsmethode einverstanden. Aber in den siebzehn Jahren seit dem Staatsstreich war ein neues Geschlecht des revolutionären Frankreichs heraufgekommen, das den Waffenstillstand mit der Gegenrevolution kündigte und die brutal unterbrochene Entwicklung der Volkssouveränität weiterzuführen entschlossen war. Der Führer dieser kampflustigen republikanischen Jugend war Gambetta, ihr Trompeter Rochefort. Wann der entscheidende Zusammenstoß erfolgt wäre, wie er geendet hätte, kann niemand sagen, denn der Krieg mit Deutschland warf alles über den Haufen.
In Napoleons äußerer Politik finden sich alle Widersprüche seines Denkens und Wesens wieder. Ohne einen andern Anspruch auf die oberste Gewalt als seinen Namen, den er mit zweifelhaftem Rechte trug, begriff er, daß die Welt aus diesem die natürlichen Schlüsse ziehen und sich von ihm der Absicht einer Weiterdichtung des Napoleonischen Heldengedichtes versehen würde, er verkündete daher feierlich: »Das Kaiserreich ist der Friede.« Die Logik der Sachlage war jedoch stärker als sein Wille, und er taumelte von Krieg zu Krieg, immer ohne Not und ohne Nutzen für Frankreich. Der Krimkrieg war eine persönliche Rache an dem Zaren Nikolaus I., der ihn schlecht behandelt hatte, und ein Liebesdienst für das entgegenkommend und freundlich gewesene England, dem er die Kastanien der Vorherrschaft im Orient aus dem Feuer von Sebastopol holte. Der Italienische Krieg war ein romantisch-ritterliches Herzensabenteuer. Der chinesische Feldzug war ein Gewaltstreich ohne vernünftigen Grund. Der Einfall in Mexiko war eine arg verschüchterte zweite Auflage des spanischen Irrtums Napoleons I., und der Krieg mit Deutschland war ein Selbstmord. Vom Kaiserreich war gesagt worden: »Es ist zu fortwährendem Sieg verurteilt.« Als es die Niederlage von Sedan erlitt, sank es lautlos in sich zusammen, und was eben noch ein stattlicher Bau geschienen hatte, war in wenigen Augenblicken ein formloser Wust zermürbter Steine und wurmstichigen, morschen Gebälks.
Die Umwälzung vom 4. September 1870 war die einzige des 19. Jahrhunderts, bei der kein Tropfen Blut vergossen wurde. Wie eine Selbstverständlichkeit, wie eine Rückkehr zum Natürlichen und Gesetzlichen folgte dem Kaiserreich, einem langen und verhängnisvollen Zwischenfall, wieder die Republik, in der landläufigen Bezeichnung die dritte seit 1792, tatsächlich immer eine und dieselbe mit zeitweiligen Verdunkelungen. Sie trat eine schwer belastete Erbschaft an. Sie mußte den Krieg abwickeln, die schweren Friedensbedingungen annehmen, den Kommune-Aufstand niederringen, sich gegen die Unternehmungen der Monarchisten verteidigen.
Die Nationalversammlung vom 8. Februar 1871, von der der Minister Beulé das von den Freisinnigen jubelnd wiederholte Wort prägte, sie sei ›an einem Unglückstage gewählt worden‹, war durch und durch gegenrevolutionär. Die Rückschrittler bildeten in ihr eine Zweidrittelmehrheit. Ein gemeinsamer Abscheu gegen die Republik einigte sie. Als es sich jedoch darum handelte, die Monarchie wiederherzustellen, fielen sie in vier Parteien auseinander, zwischen denen eine Verständigung sich als unmöglich erwies, da jede ihre eigene Ansicht von der zu errichtenden Monarchie hatte. Die Legitimisten sahen im Grafen von Chambord ihren rechtmäßigen König Heinrich V., die Orleanisten riefen den Grafen von Paris an, einige Laue und Halbe träumten vom Herzog von Aumale als Statthalter nach Art der Oranier in den Vereinigten Provinzen, und die wenigen dem Zusammenbruch entgangenen Bonapartisten wollten ihren Kaiser wiederhaben. Diese Uneinigkeit machte es Thiers, dem gewählten Oberhaupte der vollstreckenden Gewalt, möglich, der Versammlung als ein Provisorium die Republik aufzunötigen, ›die uns am wenigsten spaltet‹, allerdings mit dem Zugeständnis, daß es ›eine Republik ohne Republikaner‹ sein solle, da die Landspflöcke, die ›ruraux‹, wie ihre Gegner die konservativen Provinzler der Versammlung nannten, sie nur unter dieser Bedingung selbst als vorläufigen Notbehelf annahmen.
Auf die Dauer wurde Thiers, im Augenblick der Wahlen von 1871 der ›notwendige Mann‹, der feindseligen Mehrheit unerträglich, sie stürzte ihn am 24. Mai 1873 und wählte an seiner Statt den Marschall von Mac Mahon, von dem sie erwartete, daß er seine Macht dazu gebrauchen werde, dem Grafen von Chambord, der sich inzwischen mit den Orleans versöhnt und den Grafen von Paris als seinen Erben und Nachfolger anerkannt hatte, den Weg zum Throne zu ebnen. Er war jedoch zu ehrlich oder nicht mutig genug, um die von seinen Wählern in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Er zeigte zu ihrer Überraschung die Neigung, den Versuch einer freiheitlichen Regierung zu machen. Er mißlang kläglich. Ein so geschmeidiger Latitudinarier wie Jules Simon schien ihm noch ein gefährlicher Umstürzler, und am 16. Mai 1877 wies er diesem seinem Ministerpräsidenten mit einer staatsstreichartigen plötzlichen Bewegung, einem wahren Überfall, die Tür. Er berief den Erzreaktionär Herzog von Broglie zur Regierung, der prahlte, er werde ›Frankreich marschieren machen‹. Frankreich marschierte jedoch nicht, sondern zwang Broglie und seine Mitarbeiter zu marschieren. Die Kammerauflösung und die Wahlen hatten trotz eines amtlichen Druckes, wie ihn selbst das Kaiserreich nicht gekannt hatte, mit dem Sieg der Republikaner geendet, und Mac Mahon, dem Gambetta zugerufen hatte, er müsse se soumettre ou se démettre, sich unterwerfen oder gehen, tat beides; zuerst unterwarf er sich nach einem schwachmütigen Versuch seines Kriegsministers Generals Rochebouet, die Republik durch Militärgewalt zu erwürgen, und dann ging er, da er es nicht länger ertragen konnte, im Elyséepalast der Gefangene der siegreichen Republikaner zu sein.
Bis 1875, bis die Nationalversammlung von 1871, ehe sie sich widerwillig zum Auseinandergehen entschloß, die Wallonsche Verfassung mit einer Stimme Mehrheit annahm, hatte die dritte Republik um ihre gesetzliche Anerkennung, bis 1879, bis Mac Mahon von der Präsidentschaft zurücktrat, hatte sie um die Zulassung der Republikaner zur Regierung der Republik zu kämpfen. Erst mit der Wahl Grévys zum Präsidenten wurde sie zu einer Wirklichkeit. Doch auch von da ab war ihr Leben nicht leicht. Die Gegenrevolution war wieder einmal geschlagen, doch nicht entmutigt. Sie kämpfte mit unversöhnlichem Haß weiter gegen die Republik, doch nicht mehr in ehrlicher, offener Feldschlacht unter der stolz entfalteten eigenen Fahne, sondern in einem tückischen Buschkrieg, aus listig gewählten Hinterhalten, in immer wechselnden Verkleidungen, unter falschen Flaggen.
Unvorsichtigkeiten Wilsons, des Schwiegersohnes Grévys, die so geringfügig waren, daß der Ausdruck Verfehlungen für sie beinahe zu stark wäre, wurden zu einem Kesseltreiben gegen den Präsidenten Grévy benutzt, das mit seinem erzwungenen Rücktritt endete. Die Rückschrittler erfanden das Schlagwort von der Fäulnis der Republik, und die Republikaner hatten die unverzeihliche Zaghaftigkeit, sich ins Bockshorn jagen zu lassen und puritanischen Übereifer zu spielen, statt ihren Gegnern die Maske vom Gesicht zu reißen und dem Lande zu zeigen, daß die sittliche Entrüstung über die Verderbnis der Regierenden Heuchelei und eine bloße Parteikriegslust zur Entehrung der Republik war. Der Zusammenbruch des Panama-Unternehmens, der bei den um ihr sauer verdientes Geld geprellten kleinen Sparern, der Hauptkundschaft Lesseps', die wütendste Erbitterung hervorrief, war ein neuer hochwillkommener Anlaß, die Verleumdung von der Fäulnis zu wiederholen. Die Anklage war ernster und gefährlicher als die gegen Wilson und Grévy. Die Liste der 104 Parlamentarier, an die der Makler des Lasters, Arton, der für Lesseps Gewissen erhandelte, Schecks verteilt hatte, war eine traurige Wirklichkeit. Die republikanische Mehrheit des Parlaments tat das Nötige. Sie brannte die jauchige Schwäre mit dem Glüheisen aus. Sie opferte einen Minister und mehrere Volksvertreter, die sich nachweislich hatten bestechen lassen. Aber sie unterließ es, die Tatsache ins Licht zu setzen, daß Lesseps und alle seine Mitarbeiter eifernde Klerikale waren, daß das ganze Panama-Unternehmen, zwar nicht in seinen Zielen, doch in seiner Organisation einen scharf ausgeprägten rückschrittlichen Charakter hatte und daß auf der Liste der Bestochenen, die dem von der Kammer eingesetzten Untersuchungsausschuß in die Hände fiel, die Presse und die Politiker der Rückschrittsparteien reichlich vertreten waren. Sie verhinderte nicht entfernt genug energisch, daß das Schimpfwort ›Panamisten‹ auf den Republikanern sitzen blieb und in der verhetzten Masse die Überzeugung sich einwurzelte, es sei vollauf verdient. Wenig fehlte, und der geschickte Gebrauch der Panamawaffe brach der Republik den Hals. Bei den allgemeinen Wahlen, die dem Panama-Ärgernis folgten, verloren die Republikaner gegen 100 Sitze, die der monarchisch-klerikalen Minderheit zufielen.
Den nächsten Sturm auf die Republik, führte General Boulanger an, ein grundsatzloser Streber, Possenreißer und Schürzenjäger, der vorgab, die Republik von der ›Wilson-Bande‹ säubern zu wollen, und den vaterländischen Leidenschaften der Menge schmeichelte, indem er hölzerne Truppenbaracken an der Ostgrenze bauen und die Schilderhäuser im ganzen Lande mit den französischen Dreifarben bepinseln ließ. Die Mittel zu seinen dreisten Umtrieben lieferten ihm hochadlige Damen – eine Herzogin allein drei Millionen Franken –, die von ihm erwarteten, er werde den Grafen von Paris als König von Frankreich krönen und ihm als Antrittsgeschenk Elsaß-Lothringen zu Füßen legen. Die gefährdete Republik fand im Minister des Innern Constans einen geschickten und kaltblütigen Verteidiger, Boulanger floh außer Landes und machte in der Verbannung seinem kläglich verfehlten Leben durch eine Revolverkugel ein Ende.
Kaum war der boulangistische und panamistische Rummel vorüber, als die klerikal-monarchistische Reaktion die Dreyfus-Sache ins Werk setzte. Indem sie einen jüdischen Generalstabsoffizier fälschlich des abscheulichsten Landesverrats bezichtigte, spekulierte sie auf die abergläubische Spionenfurcht und den schlummernden, doch nie erstorbenen Erb-Antisemitismus der Menge. Sie verleumdete zuerst die Freisinnigen, dann alle Republikaner als Feinde des Heeres, als vaterlandslose Gesellen, als an den Feind verkaufte Verräter und spielte sich selbst als Verteidigerin der Armee, als Beschützerin und Beschirmerin des Volkes und Landes auf. Die beiden Frankreiche nannten sich in den aufgeregten Jahren von 1895 bis 1900 Anti-Dreyfusards und Dreyfusards, und es ist nicht viel weniger als ein Wunder, daß es zwischen ihnen nicht zum wütendsten Bürgerkriege kam. Dieser brach wahrscheinlich nur deshalb nicht aus, weil es an einer starken und verwegenen Persönlichkeit fehlte, die die kampfbereiten Streitkräfte der Gegenrevolution zusammengefaßt und zum Angriff auf die bestehende Ordnung geführt hätte. Paul Déroulède, der es versuchte, war nicht der Mann für eine derartige Aufgabe, die nicht mit der Leier eines Dichters, sondern nur mit dem Degen eines Militärs gelöst werden konnte.
Die Dreyfus-Sache mißlang wie der Panamismus, der Boulangismus, der Wilsonismus. Die Trennung von Staat und Kirche lieferte den nächsten Vorwand zu einer klerikalen Schilderhebung. Damen der Gesellschaft verschworen sich mit Geistlichen und frommen Jünglingsvereinen, um die Inventaraufnahme des Kirchenvermögens gewaltsam zu verhindern, und viele Offiziere, welche die gegen die gemischte Gesellschaft der Aufrührer aufgebotenen Truppen führten, verweigerten den Gehorsam, zerbrachen ihren Degen und schlugen sich auf die Seite der Widersetzlichen. Diese Bewegung ging nicht tief. Die fromm-fanatischen Kampfgesänge der Schloßherrinnen und eleganten Jesuitenzöglinge weckten keinen Widerhall in der Seele des Volkes, das für die Kirche und ihre Priester nicht zu begeistern ist. Die Gegenrevolution erkannte ihren Irrtum. Sie machte den schweren Fehler, sich offen zu ihrem Klerikalismus bekannt zu haben, rasch wieder gut, indem sie sich in einen streitbaren Nationalismus verkleidete, der auf allen Kreuzwegen den giftigsten Fremdenhaß predigte, grausam in der Wunde wühlte, die die Losreißung von Elsaß-Lothringen in der Flanke Frankreichs gelassen hatte, und einen an Wahnwitz grenzenden Taumel von Selbstüberhebung, Rachedurst und Kriegslust seuchenartig zu verbreiten suchte. Sie gliederte Radaubanden, die unter dem gewollt pöbelhaften Namen von Königshausierern die Straßenordnung störten und Tätlichkeiten gegen Minister, Richter und sonstige namhafte Persönlichkeiten begingen, sie gründete eine Hetzpresse, die das Äußerste an roher Verunglimpfung politischer Gegner leistete, und sie begann eine Schreckensherrschaft des wohlgekleideten Mobs einzurichten, die notwendig und bald zu blutigen Ereignissen führen mußte.
Der plötzliche Ausbruch des Krieges von 1914 stellte auch zwischen den beiden Frankreichen den in allen beteiligten Ländern eingeführten Burgfrieden her, der in Frankreich den Namen ›heilige Einigkeit‹ erhielt. Sie wandten die gegeneinander gezückten Waffen gegen den auswärtigen Feind und wollten in den Schützengräben nur Frankreich ohne trennende Nebenbezeichnung sein. Eine Versöhnung bedeutet dieser Waffenstillstand nicht. Nach dem Kriege werden die beiden Frankreiche sich wieder einander gegenüber finden, sie werden ihren Hader aufs neue aufnehmen und ihn weiterführen, bis einer der beiden Gegner gänzlich aus dem Felde geschlagen ist.
Von 1879 ab war die Republik eine Wirklichkeit. Aber zwanzig Jahre lang, bis 1899, bis zur Ministerpräsidentschaft Waldeck-Rousseaus, hatte sie eine ausgesprochen konservative Richtung und verschloß sich der Erkenntnis, daß ihre Voraussetzung und Grundlage, die Demokratie, von ihr die Befriedigung sozialer Volksbedürfnisse erwartete. Waldeck-Rousseau gab zuerst, sehr gegen seine Neigung, dem Steuerrad eine scharfe Drehung zum Radikalismus. Er selbst war in seinen Neigungen und Grundsätzen durchaus konservativ. Sein Kampf gegen die Anti-Dreyfusards zwang ihm jedoch das Bündnis mit den Radikalen auf, denen er für ihre Unterstützung als Gegenleistung das in erster Reihe gegen die geistlichen Orden gerichtete Vereinsgesetz bot, die Vorbereitung der Trennung von Staat und Kirche, deren Durchführung das Werk seines Nachfolgers Emile Combes war. In der Person Combes' gelangte 1902 der Radikalismus zur Regierung, die ihm nicht wieder entwunden werden konnte. Die Radikalen fügten ihrem Parteinamen die Bezeichnung Sozialisten hinzu, nannten sich »Radikal-Sozialisten« und räumten damit ein, daß ihr Radikalismus ohne einen Einschlag von Sozialismus nicht mehr den Forderungen des Volkes entsprach und unfruchtbar bleiben mußte. Was sie zaghaft für die Enterbten taten oder tun wollten – Unfallversicherung, Altersversorgung, Berufsgenossenschaftsgesetz –, genügte freilich den reinen Sozialisten ohne einschränkende Nebenbezeichnung nicht. Daher ein innerer Zwiespalt unter den Republikanern, der gelegentlich den ganzen Bau der Republik erschütterte und zu zerstören drohte. Die oft sehr stürmischen Auseinandersetzungen zwischen den bürgerlichen Freisinnigen, den behutsamen Sozialpolitikern und den orthodoxen Sozialisten wurden durch den Krieg jäh unterbrochen. Sie werden zweifellos nach dem Friedensschluß wieder aufgenommen werden. Die arbeitenden Massen erwarten von der dritten Republik die Einlösung der Versprechen, die ihnen die erste und die zweite gemacht haben. Ihr Entwicklungsziel ist deutlich soziale Gerechtigkeit, das heißt eine Organisation der nationalen Arbeit, die den Arbeitern einen billigen Anteil an dem Genuß der von ihnen geschaffenen Güter sichert. Die praktische Formel dieser Organisation ist noch nicht gefunden, wenn Sozialisten und Syndikalisten auch das Gegenteil behaupten. Das mühselige und gefährliche Suchen und Versuchen muß fortgesetzt werden. Alle ernsten Politiker Frankreichs aber wollen, daß das Frankreich der Revolution für seine Bürger nicht ein kaltes Vaterland mit Amtsstuben und Exerzierhöfen, sondern ein warmes mütterliches Nest sei; daß der von seiner feudalen Eisenrüstung endgültig befreite Staat ihnen nicht bloß das starre, strenge Antlitz des Befehls, sondern auch den freundlichen Blick der Anteilnahme zeige, daß er nicht der kuranzende Büttel von Untertanen sei, sondern der bevollmächtigte Geschäftsführer und Sachwalter der gemeinbürgschaftlich verbundenen Volksgenossen. Das ist der Grundgedanke der großen Umwälzung und ihrer Verkörperungen in den drei Republiken.