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Die Sturm- und Drangzeit der dritten Republik war zu Ende. Sie hatte sich im Parlament gegen den Abscheu, die Anschläge, die Ränke der verschiedenen monarchistischen und Bonapartistischen Parteien, im Lande gegen das Mißtrauen der ordnung- und ruheliebenden Volkskreise durchgesetzt. Ihr Bestand war von keinem innern Gegner mehr ernstlich bedroht. Der Sohn Napoleons III. war in einem kläglichen Abenteuer 1879 in Südafrika den Speeren wilder Zulus unrühmlich erlegen, sein Erbe, Hieronymus Napoleon, ein Freidenker und Republikaner, von den Bonapartisten heftig verleugnet worden, und dessen Sohn, der sich zu tadellos konservativen Grundsätzen bekannte, lebte schattenhaft in der Verbannung und konnte die allmähliche Zersetzung und Abbröckelung seiner Partei nicht verhindern. Der Graf von Chambord war, in seine weiße Fahne gehüllt, eindrucksvoll und unbrauchbar, gestorben, sein Rechtsnachfolger, der Graf von Paris, bald nach ihm verschwunden, dessen Sohn, der Herzog von Orleans, dem Lande fremd, geistig wenig begabt, von anstößigem Wandel, ein Werkzeug in der Hand bedenkenfreier Anhänger, die ihn und seine Sache durch Aufrührergewohnheiten und Anarchistengewalttaten in Verruf brachten.
Man klagte die Republik an, Frankreich zum Paria inmitten des monarchischen Europas zu machen und bündnisunfähig zu sein. Selbst Fürst Bismarck war dieser Ansicht und begünstigte sie darum gegen die Versuche der Wiederherstellung des Königsthrons, da nach seiner Überzeugung die Krönung Heinrichs V. zu einer Koalition der katholischen Mächte unter Führung des Papstes und zum Kriege führen mußte. Die Republik wurde jedoch von allen Monarchien als vollwertig und ebenbürtig anerkannt, keine stellte ihre Ranggleichheit in Frage, die Herrscher Rußlands, Englands, Italiens, Portugals, Belgiens, der drei skandinavischen und einiger balkanischen Königreiche machten ihr wiederholt zeremoniöse Aufwartungen und vertrautere Freundesbesuche, und ein mit den Jahren immer enger werdendes Bündnis verknüpfte sie mit dem rückschrittlichsten Reiche Europas, bei dem man die unüberwindlichste Abneigung gegen solche Gemeinschaft vorausgesetzt hatte.
Die dogmatische Behauptung Thiers': »Die Republik wird konservativ sein oder sie wird überhaupt nicht sein,« war von der Entwicklung längst Lügen gestraft worden. Das vornehme Bürgertum, das sich an die Stelle des enteigneten Adels der alten Monarchie gesetzt und Frankreich durch drei Menschenalter regiert hatte, war seinerseits von jenen »neuen Schichten«, von denen Gambetta zu sprechen pflegte, aus der Herrschaft verdrängt worden, in den Elyséepalast und die Ministerhotels zog die Demokratie ein, die zur Vornehmtuerei zu selbstbewußt war und durch natürliche stolze Würde selbst den Snobismus, so gern er gespottet hätte, zum Verstummen und zur Verbeugung nötigte, ein Radikalismus, der den Mut seiner Überzeugung hatte, wuchs immer kräftiger in die autoritären Staatseinrichtungen, hauptsächlich die Schöpfung Napoleons I., hinein und erfüllte sie mit seinem Geiste, sofern er sie nicht einfach sprengte. Diese Umwandlung beunruhigte niemand mehr, da selbst die Ängstlichsten sich durch den Augenschein überzeugten, daß sie die von Unglücksraben geweissagten Katastrophen nicht heraufbeschwor. Das Leben des Volkes floß in der gewohnten Weise dahin, die Ordnung wurde von niemand gestört, es sei denn von ihren angeblichen Stützen und Verteidigern, den Gegenrevolutionären, die allein noch die revolutionären Methoden anwandten. Frankreich erfreute sich eines ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwungs. Nach 43jährigem Bestande der Republik waren ihre Einnahmen und Ausgaben von rund 2,5 auf rund 4,5 Milliarden gestiegen, ihre dreiprozentige Rente hatte wiederholt und auf längere Zeit den Kurs von 100 überschritten, den höchsten, den Frankreich je gekannt hatte, sie war imstande gewesen, die Zinsen aller ihrer Staatsanleihen auf drei vom Hundert herabzusetzen, sie hatte für Bahn-, Kanal- und Straßenbauten acht Milliarden aufgewendet, ihre Aus- und Einfuhr annähernd verdoppelt. Der Beweis war erbracht, daß Frankreich keines Retters bedurfte und daß der Volkswille genügte, um seine Staatsgeschäfte in regelmäßigem Gange zu erhalten. Und es bedurfte nicht einmal außergewöhnlicher Persönlichkeiten, um den Volkswillen zu verstehen und zu vollstrecken.
Die starken Männer, die die Republik gegründet, ihre Wiege verteidigt, ihre ersten Schritte geleitet hatten, waren abgenützt, oder gestorben, oder vom Volksundank beiseite geschoben worden. In das Vordertreffen rückten Jüngere ein, die nicht ihren Wert besaßen. Seit dem Rücktritt Grévys, seit dem Abgang Ferrys regierten anderthalb Jahrzehnte lang anständige Mittelmäßigkeiten, gelegentlich wohl auch solche, die sogar unter dem Durchschnitt blieben, doch auch sie machten ihre Sache nicht allzu schlecht, da im ganzen die Routine genügte.
Nach Grévys erzwungener Abdankung zog in das Elysée, von dessen Toren der verhetzte Pöbel Jules Ferry mit Steinwürfen weggetrieben hatte, Sadi Carnot ein, der Träger eines großen Namens der Revolutionsgeschichte, doch ganz und gar Epigone; kalt, tadellos, steinern ernst, vertraute Annäherung entmutigend, grau in grau. Er fiel bei einer amtlichen Reise in Lyon unter dem Messer des anarchistischen Mörders Caserio. Nach ihm wollte ein Teil der Linken Waldeck-Rousseau zum Präsidenten wählen; die Mehrheit zog Casimir Périer vor, den Enkel eines der Schöpfer und großen Minister des Bürgerkönigtums. Er war sehr reich, von hoher Geistesbildung, charakterfest, entschlußfähig, doch zu nervös, zu empfindlich. Sein Pflichtgefühl oder sein Selbstbewußtsein war nicht stark genug, um ihn gemeine Angriffe verachten zu lassen. Bübereien eines Gossenblattes verletzten ihn derartig, daß er schon nach wenigen Monaten das Elysée verließ und die Tür krachend hinter sich zuschlug. Sein Nachfolger wurde Felix Faure. Je weniger man von dieser unempfehlenswerten Gestalt sagt, desto besser. Er war an der Spitze der Republik der erste Emporkömmling, der sein möglichstes tat, um die Demokratie lächerlich zu machen. Er war ein Zierbengel, dessen Laffentum durch sein Alter besonders widerlich wurde. Er träumte für sich eine goldgestickte Seidenuniform vom Schnitt der alten Hoftracht und forderte, daß auch seine Freunde aus früherer Zeit zu ihm in der dritten Person sprachen. Zugleich aber haschte er nach billiger Volkstümlichkeit, indem er, der ehemalige Lederhändler, für den Arbeiter posierte, der er nie gewesen war, und ein altes Lichtbild verbreiten ließ, das ihn in der Faschingsverkleidung eines Gerbergesellen darstellte. In der Dreyfus-Krise verriet er seine Partei an den Rückschritt, dem er sich als willen- und grundsatzloses Werkzeug auslieferte. Sein Ende war seines Lebens würdig. Inmitten greisenhafter Ausschweifung ereilte ihn der Tod, der nach der Sage den König Etzel in den Armen von Chriemhilde traf. Der nächste Präsident, Emile Loubet, war, mit diesem Vorgänger verglichen, eine Lichtgestalt: ehrbar, klug, umsichtig, bescheiden als Mensch, würdig als Staatsoberhaupt, genug sicher in seiner begründeten Selbstachtung, um durch die tätliche Beleidigung des jungen royalistisch-klerikalen Raufboldes Barons Christiani weder in den eigenen Augen noch in denen der Welt vermindert zu werden, nur freilich auch etwas schüchtern, etwas schwunglos, ein wenig zu werktätig für ein so hochgestimmtes, nach heroischem Leben dürstendes Volk wie das französische. Loubet war der erste Präsident, dem es gegönnt war, seine sieben Jahre zu erfüllen und geräuschlos und regelrecht abzugehen – ein letzter Beweis, daß die dritte Republik die Region der Klippen und Untiefen hinter sich hat und in freiem Fahrwasser schifft. Nach Loubet kam Fallières, wesentlich ein anderer Loubet, nur reicher entwickelt, lebendiger, stärker als er, mitteilsamer, überströmender, einnehmender, doch nicht minder unparteiisch, verfassungstreu, gewissenhaft und fest. Auch er konnte seine sieben Jahre friedlich vollenden und sein Amt nach Vorschrift in die Hand Raymond Poincarés legen, über den nur in breiterem Rahmen der Weltgeschichte das Urteil zu fällen sein wird.
Unter diesen Staatsoberhäuptern regierten Ministerpräsidenten, die meist in raschem Wandel wie Gestalten eines Schattenspiels vorüberhuschten, ohne einen Eindruck zu hinterlassen, und von denen nur einige sich durch genauere Umrisse und irgendeinen eigenartigen Zug dem Gedächtnis einprägten: de Frencinet, behutsam bis zur Ängstlichkeit, undurchdringlich, voller Vorbehalte, immer zu Ausgleichen mit seinem Gewissen bereit; Goblet, ein unscheinbarer Provinzadvokat, der in einem kritischen Augenblick während des Schnäbele-Zwischenfalls zu ungeahnter Ansehnlichkeit wuchs und eine durchaus ehrenvolle Lösung zu erlangen wußte; Floquet, romantisch, stürmisch, der Mann, der 1867 dem den Gerichtspalast besuchenden Zaren Alexander II. ins Gesicht rief: »Es lebe Polen, mein Herr!« und der im Degen-Zweikampf den General Boulanger gefährlich verwundete; Ribot, ein Nachahmer englischer Parlamentarier, von Grundsätzen nicht allzu sehr beschwert, geschäftstüchtig, gewillt, der Zeit zu folgen, doch nicht immer gelenkig genug, um mit ihr Schritt zu halten; Brisson, grundehrlich, feierlich, doch schwach und ohne Mißtrauen gegen arglistige Mitarbeiter, von denen er sich wie ein harmloses Kind prellen ließ; Bourgeois, eine tönende Schelle, der man indes das eine Talent zugestehen muß, nie etwas geleistet und gleichwohl den Glauben unterhalten zu haben, ein großer Mann, ein großer Staatsmann zu sein; Charles Dupuy, ein beleibter Auvergnate, den ein glückliches Mißverständnis berühmt machte: der Anarchist Vaillant schleuderte mitten in der Sitzung von der Galerie eine Bombe in die Kammer; sie flog auf und verwundete einige Abgeordnete; Dupuy, damals Vorsitzender, hatte mit seinem dichten Gehirn nichts gesehen und nichts gehört; er nahm nur verblüfft den Tumult eines Aufbruchs, das Streunen aufspringender und von ihren Plätzen wegeilender Abgeordneter wahr, vermutete ein Mißverständnis, gab das Glockenzeichen und rief ahnungslos: »Die Sitzung dauert ja fort!«; man hielt für Tapferkeit, was Begriffsstutzigkeit war, schrie einen einfältigen Ausruf als ein antik heldisches Wort, als eine römisch senatoriale Äußerung aus, und der Mann, der dem Neger Norton, Déroulède und Millevoye geglaubt hatte, daß Clemenceau ein Spion in englischem Solde sei und der britischen Botschaft in Paris schriftliche Geheimberichte liefere, widersprach nicht, sondern machte sich die Lesart der Leichtgläubigen zunutze; Méline, ein rücksichtsloser Agrarier, der die durch Sperrzölle begünstigten Landwirte und Gewerbetreibenden zu Anhängern gewann und dem sein menschliches und juristisches Gewissen gestattete, das Vorhandensein einer Dreyfus-Frage zu leugnen, das Urteil in dieser Sache für gut, gesetzlich und gültig zu erklären; noch andere, die nicht einmal an diese zum Teil doch immer noch ehrenwerten und bürgerlich tüchtigen Männer heranreichten und deren Namen bereits der verdienten Vergessenheit anheimgefallen sind.
Mittelmäßig wie die leitenden Politiker war ihre Politik und das öffentliche Leben, in dem sie wirkten. Das Parlament verbrauchte seine Kraft in byzantinischem Parteigezänk; die Abgeordneten vergaßen das Gemeinwohl und dachten nur daran, ihren einflußreicheren Wählern Regierungsbegünstigungen zu verschaffen; an die Stelle großer Ziele trat die Jagd auf Ministerportefeuilles, und Wandelgangränke wurden die Hauptaufgabe der Volksvertreter. Inzwischen bereitete ein geistlicher Orden, der große Zeitungen gründete, Finanz- und Gewerbegeschäfte machte, in allen Kreisen zuverlässige Mitarbeiter und Helfer warb, ungehindert und ungestraft die Gegenrevolution vor. Sein Werk war der Boulangismus, nach ihm der Lärm um das Panama-Ärgernis. In den vom Tiefpflug dieser beiden Bewegungen aufgelockerten und umgewühlten Boden streuten die Verschwörer die Saat des Antisemitismus und der Spionage-Wahnvorstellungen, die üppig aufging und dem französischen Volksleben bald die Beschaffenheit eines Dschungels gab. Im Großen Generalstab, wo die Angegliederten der Ordenskongregation die Alleinherrschaft ausübten, war man Verrätereien auf die Spur gekommen: in seinen Bureaus arbeitete ein einziger jüdischer Offizier, der Artilleriehauptmann Dreyfus; auf diesen Eindringling warfen seine Vorgesetzten und Kameraden ohne Besinnen den Verdacht; sie teilten ihn sofort ihrer Presse mit, ließen den Beschuldigten verhaften, mit Vergewaltigung aller Rechtsformen und Gesetze verurteilen und unter Veranstaltungen, die an die Vollstreckung von Todesurteilen der Inquisition erinnerten, öffentlich vor versammeltem Kriegsvolk und Zehntausenden von Zuschauern aus dem Heere stoßen, ehe sie ihn zu lebenslänglicher schmachvoller Strafverbüßung nach der Teufelsinsel schickten. Ein hochherziger, unerschrockener und gewissensreiner Offizier, der Straßburger Oberstleutnant Picquart, Vorsteher der Nachrichten-Abteilung im Kriegsministerium, entdeckte in den Akten des Dreyfus-Falles ein augenscheinlich gefälschtes Schriftstück. Er berichtete seinen Vorgesetzten darüber und diese beeilten sich, ihn aus dem Amte zu entfernen und mit einem sinnlosen Scheinauftrag an die Südgrenze von Tunesien zu schicken, von wo er, so hofften sie, nicht lebendig zurückkommen sollte. Der Anschlag mißlang, Picqart legte öffentlich für die Wahrheit Zeugnis ab und wurde dafür in den Kerker geworfen. Verteidiger des meuchlerisch geopferten jüdischen Offiziers riefen leidenschaftlich die öffentliche Meinung an, das französische Volk fing Feuer, und der Brand, der es bis in seine letzten Tiefen ergriff, wütete sechs Jahre lang. Es gab keinen Franzosen, der nicht mit der ganzen Heftigkeit des nationalen Temperaments Partei nahm. Lebenslange Freundschaften wurden zerrissen, Eltern gegen die Kinder gewaffnet, das Gesellschaftsleben in eine heulende Wildnis umgewandelt. Die klerikalen Verschwörer erfanden die tollsten Spukgeschichten, die in einer Irrenhaus-Atmosphäre blind geglaubt wurden. Es sollte ein geheimnisvolles teuflisches »Syndikat« bestehen, das, vom internationalen Judentum finanziert, im Solde Deutschlands arbeitete und die Vernichtung des französischen Heeres und Staates plante. Die Fälschung des Belastungsmaterials gegen Dreyfus wurde für eine gottgefällige, heilige Tat, für eine rühmliche Verteidigung des schwer bedrohten Vaterlandes erklärt. Die öffentliche Ordnung wurde heftig gestört. Tobende Banden, in denen bezahlte Strolche gutgläubige verwirrte Fanatiker einrahmten und leiteten, beherrschten die Straße, überfielen die Freisinnigen, johlten »Es lebe das Heer!« spielten sich als die einzigen Patrioten auf, stießen Todesrufe gegen die Dreyfusards als gegen vaterlandsloses Gesindel, Feinde des Heeres und Verräter an Frankreich aus. Briefe wurden aufgefangen, in denen die klerikalen Rädelsführer nächtliche Überfälle auf ihre Gegner verabredeten und einander aufmunterten, mit Knütteln Schädel einzuschlagen (»écer-veler avec des bayados«). Der schamlosen Dreistigkeit der volksvergiftenden und mit Verbrechermethoden arbeitenden klerikalen Verschwörer antwortete die wutbebende Erbitterung der für Recht und Wahrheit kämpfenden Republikaner. Alles drängte zu einer nahen furchtbaren Katastrophe. Da erstand im Augenblick der äußersten Spannung dem sinnlos aufgeregten Land ein Mann der Vorsehung: Waldeck-Rousseau.
Nach anderthalb Jahrzehnten sah die Republik an die Spitze der Regierung wieder einen Ministerpräsidenten treten, der nicht ein bloßer Politiker, sondern ein wirklicher Staatsmann war. Waldeck-Rousseau setzte die Reihe der schöpferisch begabten geborenen Führer, der Gambetta, Jules Ferry, fort, deren Freund und Jünger er war und in deren Fußtapfen er trat. René Waldeck-Rousseau, 1846 in Rennes geboren, war der Sohn eines hervorragenden Rechtsanwalts, der 1848 seine Mitbürger in der Nationalversammlung vertrat und in dieser eins der angesehensten Mitglieder der republikanischen Linken wurde. Er selbst ließ sich nach Beendigung seiner Rechtsstudien 1869 zunächst in St.-Nazaire, dann in Rennes nieder, wo ihm außer seiner eigenen Tüchtigkeit das Ansehen seines Vaters rasch eine erste Stellung sicherte. 1879 wurde er zum Abgeordneten gewählt, und es dauerte nur wenige Wochen, bis in der neuen Kammer, in der ihm der väterliche Ruf voranging, Gambetta ihn bemerkte oder, wie er sich rühmte, entdeckt hatte. Die vornehme Erscheinung des eleganten, hochgewachsenen jungen Mannes mit dem regelmäßigen, ruhigen, ernsten Gesicht und den kalten, gebieterischen Augen, seine warme, ohne Anstrengung weittragende Stimme, seine Sicherheit und Freiheit auf der Rednerbühne, die Sachlichkeit, die Knappheit, die klassische Formvollendung seiner Rede, die nie in Emphase verfiel und von keiner Gestikulation begleitet war, machten starken Eindruck auf die Versammlung, die sofort erkannte: »Dieser Anfänger ist jemand!« Man wunderte sich denn auch nicht, daß schon zwei Jahre nach seinem Eintritt in das Parlament, am 14. November 1881, ohne daß er den üblichen Probedienst als Parteigruppenschriftführer, Ausschußberichterstatter, Unterstaatsseketär geleistet hatte, Gambetta ihm in seinem großen, oder kleinen, Ministerium ein Portefeuille anvertraute. Die dritte Republik hatte bis dahin noch keinen 34jährigen Minister ohne parlamentarische Vergangenheit gesehen.
Er bewährte sich hier wie in allen Stellungen; so sehr, daß nach dem raschen Sturze Gambettas auch seine Nachfolger sich ihn als Mitarbeiter sichern wollten. Jules Ferry nahm ihn am 21. Februar 1883 zum Minister des Innern und Waldeck-Rousseau wirkte an seiner Seite bis zum schwarzen Tage, dem 30. März 1885, an dem die Nachricht von der Schlappe bei Langson den Aufruhr der Kammer gegen das Kabinett erregte. Die Ungerechtigkeit des Parlaments und der Menge gegen Ferry, den er hochschätzte und dessen innere und äußere Politik er als die dem Heil und der Größe Frankreichs dienlichste erkannte, empörte ihn so tief, daß er sich bis zum Ende der Kammertagung jeder politischen Betätigung enthielt und nach Ablauf seines Auftrages, 1889, keine Wiederwahl annahm. Fünf Jahre lang blieb er dem Parlament fern und widmete sich ganz seinem Berufe in Paris, wo man ihm allseitig den Rang des ersten forensischen Redners zuerkannte. 1894 gab er jedoch dem Drängen seiner alten Parteigenossen nach und ließ sich in den Senat wählen. Trotzdem er sich vom parlamentarischen Leben ferngehalten, an keinen Parteiumtrieben teilgenommen, nie um Gunst und Freundschaften geworben hatte, war sein Ansehen so groß, baß man ihn nach der plötzlichen Abdankung Casimir Périers zum Präsidenten der Republik wählen wollte. Er selbst tat nichts zum Gelingen dieses Plans, und so blieb er um 40 Stimmen hinter Felix Faure zurück, zu dessen Gunsten er vor dem nötig gewordenen zweiten Wahlgang ausdrücklich und bestimmt auf die eigene Bewerbung verzichtete.
Wieder hielt er sich fünf Jahre im Hintergrund, bis der wenige Monate vorher zum Präsidenten der Republik gewählte Loubet ihn nach dem Sturze Charles Dupuys im Juni 1899 zur Regierung berief. Die Schwierigkeit seiner Aufgabe, der er sich voll bewußt war, erschreckte ihn nicht. Er hatte in einer Rede gesagt: »Die Politik darf keine Laufbahn sein; sie ist ein öffentlicher Dienst.«
Danach handelte er. Er erkannte, daß er eine Pflicht zu erfüllen hatte, und er entzog sich ihr nicht. Er griff mit fester Hand in die Zügel der Regierung, die seine Vorgänger hatten schleifen lassen. Er stellte in der Polizei und im Offizierkorps die gelockerte Zucht wieder her. Er machte den Ruhestörungen auf der Straße ein Ende. Er sorgte für die achtungsvolle Vollstreckung des Urteils, durch das der Kassationshof, Frankreichs höchstes Gericht, die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Dreyfus angeordnet hatte. Er ließ das unglückliche Opfer des klerikalen Justizverbrechens von der Teufelsinsel kommen und umgab das Kriegsgericht von Rennes, vor dem der neue Prozeß abrollte, mit allen Bürgschaften strenger Regierungsunparteilichkeit. Man hat ihm vorgeworfen, daß er nichts tat, um die Militärrichter dem offen und schamlos geübten Druck der klerikalen Verschwörer zu entziehen. Seine Verteidigung lautete: »Nur indem wir uns vollständig jedes Eingriffs enthielten, konnten wir hoffen, dem Urteil die Autorität zu sichern, die das ganze Volk zwingen sollte, sich davor zu verneigen.« Das Gericht von Rennes kam zu einer hinterhältigen und verlegenen Entscheidung: es verurteilte Dreyfus ein zweites Mal, doch mit mildernden Umständen, die unbegreiflich und nicht zu verteidigen waren, wenn es ihn schuldig glaubte. Wenige Tage nach dieser neuen Rechtsbeugung verlangte und erhielt Waldeck-Rousseau von Loubet die Begnadigung von Dreyfus und damit war das gewaltige Drama äußerlich beendet. Die Verteidiger der Gerechtigkeit waren mit diesem Abschluß unzufrieden, da er ihrem Sittlichkeitsgefühl keine Genugtuung gewährte, Waldeck-Rousseau aber sagte mit einem alten skeptischen Richter: »Das Wesentliche an einem Urteil ist nicht, ob es gerecht oder ungerecht ist, sondern daß es einem Prozeß ein Ende macht.« Er blieb nicht auf halbem Wege stehen. Er setzte auch bald darauf ein Amnestiegesetz für alle mit dem Dreyfus-Handel zusammenhängenden Strafsachen durch. Diese Tat zog ihm besonders heftige Vorwürfe zu. Die Verschwörer, die sechs Jahre lang eine Schreckensherrschaft ausgeübt und unzählige Missetaten begangen hatten, konnten sich jetzt unter dem Schutz der Amnestie ins Fäustchen lachen und waren sicher, nicht zur Rechenschaft gefordert zu werden. Eine ideale Lösung war das nicht. Das Recht und die Moral kamen bei dieser Handhabung des Schwammes sicherlich zu kurz. Aber Waldeck-Rousseau war ein Mann der Regierung und ein Praktiker. Ihm kam es in erster Reihe darauf an, den innern Frieden herzustellen und einen Rache- und Vergeltungsfeldzug zu verhindern, der den virtuellen Bürgerkrieg in einen aktuellen verwandelt hätte.
Er wußte jedoch aus den sechsjährigen Dreyfus-Wirren die Lehre zu ziehen, die sie in sich schlossen. Er hatte die klerikale Organisation an der Arbeit gesehen und war entschlossen, sie zu sprengen.
Er brachte das Gesetz über die Vereine ein, das, wie er ausdrücklich zugab, gegen die geistlichen Orden gerichtet war und sie auflöste, soweit sie nicht durch ein besonderes Gesetz gestattet wurden. Das Vereinsgesetz, ein harter Schlag für den Klerikalismus und die Gegenrevolution, rief in der Kammer und im Senat den wütenden Widerstand der Rechten hervor. Waldeck-Rousseau verteidigte ihn mit unerschütterlicher Ruhe. »Ich überlasse mich«, hatte er bereits Jahre vorher gesagt, »nicht den Leidenschaften, die ich nicht kenne, ich suche meine Eingebungen in meiner Vernunft, die vom Studium unterstützt ist.« Leidenschaftslos, in der Tat, doch mit einer unerschütterlichen Entschlossenheit, wie Frankreich sie an seiner Regierung seit Jules Ferry nicht gekannt hatte, setzte er die Annahme seines Vereinsgesetzes durch, dann kündigte er, am 3. Juni 1902, dem Präsidenten Loubet seinen Entschluß an, von der Regierung zurückzutreten. Er erfreute sich des vollen Vertrauens der Mehrheit beider Kammern. Kein äußerer Anlaß nötigte ihn zur Abdankung. Sie war durchaus freiwillig. Ein der Welt noch unbekanntes, doch ihm nicht verborgenes Übel unterwühlte seine Gesundheit. Er hatte seine Pflicht getan, seine Aufgabe gelöst. Drei Jahre lang hatte er am Steuer gestanden und das Staatsschiff sicher durch Klippen und Sturm geführt. Er hatte die zerrüttete Ordnung wiederhergestellt, dem fiebergeschüttelten Land die Ruhe wiedergegeben, neue Anschläge der ewigen Feinde der Republik mindestens erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht, er urteilte, daß er sich das Recht auf Erholung erarbeitet hatte. Ehe er ging, empfahl er dem Präsidenten und dem Parlament als seinen Nachfolger Emile Combes, und er hatte die Genugtuung, seinen Vertrauensmann zum Ministerpräsidenten ernannt zu sehen. Er war überzeugt, daß Combes das Vereinsgesetz, das er als sein Lebenswerk ansah, in seinem Sinne vollstrecken werde. Hierin hatte er sich, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll, getäuscht. Als er dies erkannte, erhob er, am 27. Juni und 20. November 1903, im Senat unwillig grollend die Stimme zu einer Verwahrung und Mahnung. Vergebens. Er konnte die Entwicklungen, zu denen er selbst den Anstoß gegeben, nicht aufhalten. Die Krankheit, ein Leberkrebs, setzte ihre Verwüstungen fort und streckte den starken Mann im Sommer 1904, vor vollendetem 58. Lebensjahre, nieder. Er nahm den Ruhm mit sich ins Grab, der rechte Mann an der rechten Stelle in einem Augenblicke gewesen zu sein, wo ihn wahrscheinlich niemand hätte ersetzen können.