Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war eine große Überraschung für alle Welt, als das Pariser Renaissancetheater im November 1901 ein Stück von Georges Clemenceau herausbrachte, »Der Schleier des Glücks«. Der große Parlamentarier war auf seine alten Tage unter die Komödienschreiber gegangen! Was hatte er zu sagen. Das Trostloseste, was man sich denken kann. Das Stück zeigt einen blinden Vizekönig von China, dem ein europäischer Arzt mit einem Augenwasser die Sehkraft wiedergibt, ohne daß seine Umgebung es ahnt. Er sieht nun entsetzt und verzweifelt, daß ein verurteilter Dieb, für den er, da er ihn unschuldig glaubte, die Begnadigung beim Kaiser erwirkt hat, bei seinem Dankbesuch alles stiehlt, was ihm unter die Hand gerät, daß die Sammlung seiner Gedichte, die er seinem Sekretär und Vertrauten zur Veröffentlichung übergeben hat, von diesem unter seinem eigenen Namen herausgegeben worden ist, daß sein einziger Sohn im Hof des Namen unter den Augen seines beifällig lächelnden Erziehers seinen blinden Vater durch Nachäffung seines unsicheren Ganges und seines Tastens grausam verhöhnt, daß sein angebetetes junges Weib ihn mit seinem besten Freunde betrügt. Er kann diese fürchterlichen Anblicke nicht ertragen. Er überredet sich, daß er Fiebergesichte gehabt hat, und um ihnen nicht wieder ausgesetzt zu sein, zerstört er sein wiedergewonnenes Augenlicht aufs neue. Jetzt umgibt ihn ewige Nacht, aber der Mandarin begrüßt sie als Erlöserin. Er ist wieder glücklich, wie er es gewesen, ehe der Europäer ihn sehend gemacht: seine Blindheit ist »der Schleier des Glückes«.
Moral: Das Leben ist Laster und Verbrechen; erträglich macht es einzig die Selbsttäuschung.
Buddha lehrt: »Die Welt ist Schein; hinter dem Schleier der Maya verbirgt sich das Nirwana; hinter dem Sinnentrug ist das Nichts.« Der jüdische Prediger ruft: »Eitelkeit der Eitelkeiten! Alles ist eitel.« Clemenceau ist in seinem Stück weniger radikal als der Inder, doch bitterer als der Jude. Darin stimmt er mit beiden überein, daß alle Lebenswerte Täuschung sind. Aber hinter ihrem Schleier sieht er nicht das ruheverheißende tröstliche Nichts des Sâtti-Amuni, nicht die überlegen zu belächelnde Eitelkeit der Eitelkeiten des Ekklesiastes, sondern die folternde, tragische Lüge, die vertrauende Herzen bricht.
Diese Weltanschauung entspricht schwerlich der Wirklichkeit, in der eine objektive Betrachtung Gutes neben Bösem entdeckt. Aber sie ist folgerichtig aus Clemenceaus Erfahrung abgeleitet.
Er hat einen sehr merkwürdigen Lebensgang, reich an ungewöhnlichen Erfolgen, doch auch reich an zermalmenden Niederlagen, von denen ein anderer sich schwerlich erholt hätte. Er war lange ein Mann der Tat, ehe ihn des Gedankens Blässe ankränkelte. Er lebte und wirkte große Dramen auf der politischen Bühne, dann ging er von ihr ab, trat mit kleinen Federmenschen in Wettbewerb, war jedoch nach vorübergehender Verdunkelung seines Sterns wieder zu Heldenrollen berufen. Ein Auf- und Abstieg wie in den Schicksalen morgenländischer Märchenfürsten.
Er ist ein Mustervertreter der Herrenschicht keltischen Stammes. Er wurde 1841 als Sprößling einer uralten vendéeischen Adelsfamilie geboren, in der man seit Jahrhunderten fanatisch gläubig, abenteuerlich tapfer, grausam rücksichtslos und hochmütig gewesen ist. Diese Eigenschaften hat er von den Ahnen geerbt; aber er zeigt sie in anderer Mischung und Verwendung. Sein Fanatismus ist nicht religiös, sondern politisch. In der Tapferkeit und Rücksichtslosigkeit steht er den Vorfahren nicht nach; er übte sie nicht nur mit dem Degen, sondern auch moralisch, und das ist sicherlich der schwierigere Teil. In seiner Erscheinung, seinem Wesen ist er der echte Sohn des Granitbodens und der schwermütigen Heide des französischen Nordwestens. Schlank, mager, sehnig wie ein Wolf; der Kopf eckig; die Gesichtsmaske eines Samurai wie von einem Steinmetz aus dem Urfelsen gehauen. Der bohrende, dreiste Blick der tiefliegenden dunklen Augen ist eine Herausforderung. Die schneidende Stimme verschüchtert den Feigling und weckt im Temperamentsmenschen positiv Rauflust, wie der Gemsbart am Hut und die Spielhahnfeder beim jungen Tiroler. Er hat große Leidenschaften gekannt, auch im Privatleben, aber er hat sie stets verhalten. Je wilder es in ihm tobte, um so ruhiger schien er von außen. Eine hochinteressante Gestalt, für jede Betrachtung, für die äußerliche wie für die geistige.
Er ging vom Studium der Medizin aus, das er nach einem längeren Aufenthalt in Nordamerika – er begab sich dahin, weil er sich mit seinem Vater überworfen hatte, und verdiente sich sein Leben als französischer Sprachlehrer – in Paris vollendete, und übte die Heilkunst anfangs auch praktisch, obschon vermutlich als Zweifler an Asklepios und Hygieia. Ob seine Rezepte heilten, weiß ich nicht. Aber sie verpflichteten seine Gratispatienten von Montmartre zu solcher Dankbarkeit, daß sie ihn 1871 zum Bürgermeister ihres Viertels wählten. Zugleich kühn und vorsichtig, steuerte er haarscharf an der wildesten Strömung der Kommune entlang, so daß sie ihn fördersam trieb, ohne ihn in den Abgrund zu reißen. Er landete in der Kammer und war da zwanzig Jahre lang einer der starken Männer, zuzeiten der stärkste. Darum der stärkste, weil er nichts für sich wollte. Sein Ehrgeiz war nicht von der Art, die auf den guten Willen der anderen angewiesen ist und von ihnen Befriedigungen erwartet. So fürchteten ihn alle, und er fürchtete niemand. Ein vollkommen selbstloser Mann in der Politik, zugleich ein durchdringender Kritiker, ein verwegener Draufgänger, ein sprungkräftiger Redner, ist schrecklich. Er ist ein Schwerbewaffneter inmitten eines Rudels Wehrloser. Ein Tiger – das ist der Name, den man Clemenceau gegeben hat – in einer Antilopenherde. Ein Sport, der darin besteht, bloß aus Lust an der Entfaltung der eigenen Kraft zu würgen, ist eigentlich nicht mehr schön.
Zwei Jahrzehnte lang übte er die Schreckensherrschaft im Parlament, von vielen gehaßt, von allen bewundert, von niemand geliebt. Seine Beredsamkeit war anders als die der Alltagsredner. Er verachtete weitläufige Perioden und Füllsel. Er war immer von imperatorischer Kürze, aber jedes Wort war eine stählerne Lanzenspitze mit einem Sankt-Elms-Feuer-Flämmchen der Leidenschaft darauf. Wen sein Stahl traf, der war zugleich durchbohrt und »elektrokutiert«. Die Ministerien, die er mit einem jähen Ansprung in den Sand streckte, zählen nicht nach Einheiten, sondern beinahe nach Dutzenden. Am 26. Januar 1882 war er es, der Gambetta stürzte. Im Juli 1882 warf er das Kabinett de Freycinets wegen seiner ägyptischen Politik, die England zum alleinigen Herrn des Nillandes machte, über den Haufen. Am 30. März 1885 entfesselte er den Sturm der Kammer, der Jules Ferry zwang, auf einer Leiter über eine Mauer zu fliehen. Im Januar 1886 stürzte er de Freycinet ein zweites Mal durch Verweigerung der von ihm verlangten Kredite für Tonkin und Madagaskar. Am 18. Mai 1887 rang er Goblet nieder, und im Dezember 1887 veranlaßte er den Beschluß der Kammer, der Jules Grévy zwang, die Präsidentschaft niederzulegen. Die Parteigruppen, auch solche, die nicht auf sein politisches Programm eingeschworen waren, kämpften willig unter seiner Führung, denn nach dem Siege wendete er sich geringschätzig weg und verschmähte einen Anteil an der Beute. Wie oft wollten seine niedergerannten Gegner ihn zwingen, Ministerpräsident zu werden! Er lachte sie einfach aus. So konnte er mit den Ministerien seine grausame Kurzweil haben, ohne Heimzahlung fürchten zu müssen. So konnte er die Menge durch einen glänzend logischen, idealen Radikalismus blenden und entzücken, ohne in die Verlegenheit zu geraten, dessen unmögliche Verwirklichung zu versuchen.
Ich frage mich manchmal, wer wohl ein stolzeres Hochgefühl hat, die bejahende Gottheit, der verneinende Teufel? Ahuramazda, der die blühende Welt betrachtet und sich sagt: »All die Herrlichkeit habe ich geschaffen«? Ahriman, der sie überschaut und spricht: »All die Herrlichkeit kann ich vernichten, wie und wann es mir gefällt«? Ich philosophiere hier nicht über die objektive Würde des einen und des anderen Gefühls. Ich spreche nur von ihrer subjektiven Intensität und bekenne, daß ich sie nicht zu hierarchisieren vermag. Sicher ist, daß Clemenceau zwei Jahrzehnte lang die Empfindung hatte und haben durfte, er sei der unumschränkte Herr der Republik. Wohl regierten andere, doch nur, weil und solange er es wollte. Die Quintessenz der Macht war in seiner Hand. Nur mit ihren Schlacken schleppten die Minister sich und lösten einander in raschem Wechsel unter ihrer Last ab. Das ist eine Ausweitung und Steigerung der Persönlichkeit, wie nur wenige nicht auf einem Thron geborene Sterbliche sie erfahren haben.
Phantastisch wie sein Erfolg war dann sein Sturz. Eine idiotische Fälscherbande schrieb eines Tages seinen Namen auf eine angeblich in der englischen Botschaft in Paris gestohlene Liste französischer Verräter und Spione im Solde Englands, und diese Ungeheuerlichkeit war für die Menge nicht zu dumm. Und nicht nur für sie. Der damalige Ministerpräsident Charles Dupuy, dem Clemenceaus Feinde die Liste vertraulich zeigten, ehe sie sie auf der Rednerbühne der Kammer vorlasen, rief melodramatisch: »Wenn wir in der alten Republik Venedig lebten, würden wir den Elenden nachts in der Lagune ersäufen!«
Clemenceau hatte eine Zeitung, »La Justice«, gegründet, und da er selbst kein Vermögen besaß, eine Kommandité aus der Hand eines faulen Gründers und Finanzschwindlers Cornelius Herz angenommen. Die geriebenen Gauner, die Frankreich die Panamamilliarde gestohlen hatten, wußten mit unvergleichlicher Geschicklichkeit Cornelius Herz, der mit Panama schlechterdings nichts zu schaffen hatte, als den Milliardendieb hinzunageln, und die Opfer ließen sich auch noch foppen, nachdem sie sich hatten plündern lassen. Sie nahmen blindwütend die falsche Spur auf, ließen die wirklichen Diebe unverfolgt, zagten und heulten hinter dem Wild her, auf das jene sie gehetzt hatten, und zerrissen alles Lebende, was auch nur durch die flüchtigste Berührung etwas von der Witterung des verbellten Wildes angenommen hatte. In der Kammer wurde Clemenceau wütend niedergeschrien, als er sich gegen die Anklage Déroulèdes verteidigen wollte, und seine Wähler von Toulon verjagten ihn 1893 unter dem Gekläff: »Aoh Yes!«, »Panama!« und »Cornelius!« Da lag er nun am Boden. Er hatte die Macht verloren. Nicht auch die Würde. Stolz verschmähte er es, mit der törichten Menge zu diskutieren. Er verteidigte sich vor ihr nicht, er bewarb sich auch nicht um einen neuen Sitz in der Kammer oder im Senat. Er blieb 13 Jahre lang dem Parlament fern. Freilich nicht auch der Politik. Was Volksgunst wert ist, hatte er erfahren. Die Einsicht des allgemeinen Stimmrechts hatte er erprobt. Aber der Dreyfus-Handel zog herauf und entfachte mächtig seine Kampfbegierde. Vier Jahre lang stritt er in der vordersten Reihe. Sein Feldzug in der »Aurore« genügt, um ihm einen Platz in der Geschichte zu sichern. Täglich hieb er in die nämliche Kerbe und seine Streiche waren mit die gewaltigsten in diesem Kriege der Geister. Als die Hauptstellung des Feindes erstürmt war, schleuderte er die Waffe von sich. Nachhutgefechte waren seine Sache nie.
In dieser Zeit häutete er sich neu und erstand in erstaunlicher Wiedergeburt, sechzig Jahre alt, als Dichter; Erzählungen, Romane, auch das Drama »Der Schleier des Glücks«, entquollen seiner Feder und errangen ihm einen jungen Ruhm. Die Wandlung ist vielleicht ohne Beispiel. Faust wendet sich nach einem langen Dasein der Studierstube und des Schreibpultes entschlossen dem Leben zu. Clemenceau wandte sich nach einem langen Dasein mitten im Leben, wo es am heißesten wallt, entschlossen dem Schreibpult und der Studierstube zu. War das ein Aufstieg? War es ein Sturz? Wo ist oben? Wo unten? Es kommt vielleicht lediglich auf den Standpunkt des Schauenden und Schätzenden an.
Clemenceau hatte die stärksten Empfindungen der Macht gekannt. Er kannte dann auch die köstlichen Gefühle eines zweiten Lebensbeginns, die Bangigkeiten des Neulings, das Entzücken des ersten künstlerischen Erfolgs mit dem »Schleier des Glücks«.
Dieser war unverkennbar eine Beichte. Schade. Cincinnatus, der nach der Diktatur zum Pfluge zurückkehrt, Karl V., der nach der Weltherrschaft die Klosterzelle von San Yuste bezieht, müssen gleichmütig bleiben, um groß zu sein. Sowie sie bitter werden, schwindet der Zauber, und sie schrumpfen. Damit ihre Dunkelheit nach dem Glänze ruhmreich sei, muß sie gewollt, nicht erlitten sein. Wenn sie bedauern und klagen, sind sie nicht länger Überwinder. Clemenceaus philosophischer Monolog – das ist »Der Schleier des Glücks« eigentlich – ist bitter. Er klagt über die Nichtswürdigkeit der Menschen. Das stört das Bild des außergewöhnlichen Parlamentariers. Er, der ganz oben gestanden und die Menschen von sehr hoch gesehen hatte, sollte über sie lächeln. Nur so wäre der junge Dramatiker dem alten Parlamentarier ebenbürtig geblieben.
Nach den ersten Befriedigungen bekam er übrigens das Schrifttum satt und stürzte sich entschlossen wieder in sein Lebenselement, die Politik. Im Januar 1906 ließ er sich in den Senat wählen, und schon zwei Monate später, im März, nahm er zum Staunen von Freunden und Gegnern aus der Hand Sarriens das Portefeuille des Innern an. Er war allseitig so sehr als das Haupt des Ministeriums anerkannt, daß jedermann es natürlich und als die Rückkehr zur Regel empfand, daß er, als Sarrien am 18. Oktober 1906 wegen schlechter Gesundheit zurücktrat, in aller Form zum Ministerpräsidenten ernannt wurde.
In dieser neuen Verkörperung bot er ein verwirrendes Schauspiel. Er zeigte ein fremdes Gesicht, und doch entdeckte man mitunter darin wohlbekannte alte Züge. Er, der wegen der Besetzung Tunesiens und der Eroberung Tonkins und Madagaskars Ministerien niedergerissen hatte, leitete die Politik der Eroberung Marokkos mit der Besetzung Udschdas durch General Lyautey (März 1907) und der Beschießung Casablancas (5. August 1907) ein. Er, der ehemalige Grundstürzer, der in seinem Programm vom Juni 1879 unter anderem unbeschränkte Versammlungs- und Vereinsfreiheit gefordert hatte, verwandelte Paris in ein Kriegslager, um die sozialistische Maifeier zu verhindern, und verfolgte den »Allgemeinen Arbeitsbund«, die Landesgliederung der Berufsgenossenschaften. Hierüber in der Kammer zur Rede gestellt, erklärte er leichtblütig: »Jetzt stehe ich auf der anderen Seite der Barrikade.« Dagegen fand man den Clemenceau der Freischärlerzeit ganz wieder, als er kurzerhand am 11. Dezember 1997 den in Paris zurückgebliebenen Sekretär der päpstlichen Nuntiatur Monsignore Montagnini mit Gendarmen über die Grenze bringen ließ, weil er zu französischen Politikern Beziehungen unterhielt. Seine Energie, seine gebieterische Natur offenbarte er auch in der Regierung. Das 17. Infanterieregiment, das meuterte, als es am 21. Juni 1907 gegen das von einem Narren namens Marcelin Albert aufgewiegelte, unter schlechten Weinpreisen leidende Béziers marschieren sollte, die Sozialisten, die Postbediensteten, die im März 1909 einen Ausstand machten, bekamen seine eiserne Faust zu spüren. Aber auch zu Deutschland fürchtete er nicht, in einem Ton zu sprechen, wie man ihn so fest seit Goblet, 1887, nicht vernommen hatte. Als im September 1908 in Casablanca einige deutsche Fremdenlegionäre fahnenflüchtig und hierbei von Angestellten des deutschen Konsulats in Schutz genommen wurden, verteidigte Clemenceau den französischen Standpunkt und brachte den Vertrag vom 24. November 1908 zustande, der alle marokkanischen Streitfragen zwischen Frankreich und Deutschland einem Schiedsgericht unterwarf.
Mit der Zeit scheint Clemenceau sich an der Spitze der Regierung gelangweilt zu haben. Denn am 20. Juli 1909 ließ er es geschehen, daß in einer halbleeren Kammer eine Zufallsabstimmung über eine untergeordnete Flottenangelegenheit ihn stürzte. Er konnte darüber hinweggehen. Er hatte in der Kammer eine zuverlässige Mehrheit. Er wollte sie jedoch nicht anrufen, sondern ging. Der Entschluß war so plötzlich, so grillenhaft und unbegründet, daß man sagen konnte: »Clemenceau ist so gewöhnt, Ministerien zu stürzen, daß er sich selbst gestürzt hat, als er kein anderes sich gegenüber hatte.«
Er war nun 68 Jahre alt und zeigte die Neigung, sich Ruhe zu gönnen. Doch nicht lange. Er gründete bald wieder eine Zeitung, »Der freie Mann«, in der er täglich mit der alten Frische ungestüme Fechtgänge lieferte und namentlich den Präsidenten Poincaré, dessen Wahl er im Januar 1913 vergebens zu hintertreiben gesucht hatte, erbarmungslos bekämpfte. Beim Ausbruch des Krieges, 1914, willigte er eine Zeitlang in die Waffenruhe des Burgfriedens ein. Bald wurden ihm jedoch die Fesseln und Knebel der Zensur unerträglich, und er änderte mit grimmigem Humor den Titel seiner Zeitung in »Der Mann in Ketten« um und übte an den Fehlern, Unentschlossenheiten, Irrtümern und Unzulänglichkeiten der Regierung scharfe Kritik. Man wollte ihn wiederholt zum Eintritt in das Ministerium bestimmen, er wies jedoch alle diese dringenden Einladungen beharrlich ab. Man glaubt vielfach, er sei der vorbestimmte Mann für den Augenblick nach dem Friedensschluß, und er glaubt es vielleicht auch.
Clemenceau ist ein Menschenverächter, und er nimmt die kleinen Interessen, die geringfügigen Freuden und Schmerzen, all das vergängliche Treiben der Sterblichen nicht ernst. Das ist vielleicht eine Tugend für einen Philosophen; es ist sicher keine für einen Regierenden, der nur dazu bestellt ist, endliche Dinge zu verwalten. Er ist ein Verneiner, und den Völkern ist bei der Leitung ihrer Geschäfte nur mit einem Bejaher gedient. Darum erstrahlte Clemenceaus glanzvolle Subjektivität sehr viel heller in den Jahrzehnten seiner Opposition als in den drei Jahren seiner Ministerschaft.