Max Nordau
Französische Staatsmänner
Max Nordau

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Jules Ferry

Jules Ferrys Geschick ist eine echte Tragödie, die alle Bedingungen dieser Dichtungsgattung erfüllt. Ein mächtiger Wille kämpft für große Ziele mit Widerständen, die seiner würdig sind. Das Fleisch erliegt, der Gedanke siegt. Der Held ist immer guten Glaubens, aber seine Gegner, wenigstens die ausschlaggebenden, wenngleich nicht ihre gelegentlichen Bundesgenossen, sind es nicht minder. Der eine wie die anderen handeln nach ihrem kategorischen Imperativ ohne Rücksicht auf ihr persönliches Wohl, und jener wie diese sind unerschütterlich überzeugt, daß sie recht haben. Sie haben es auch unzweifelhaft, jeder vom eigenen Standpunkt. Diese Standpunkte selbst jedoch über die sie zeitweilig vertretenden vergänglichen Menschen hinaus vergleichend zu beurteilen ist die Aufgabe der Geschichte.

Jules Ferry wurde in Saint-Dié im Vogesendepartement 1832 geboren. Sein Vater war Rechtsanwalt, seine Mutter die einzige Tochter eines Gerichtsvorsitzenden. Sein Großvater war Ziegelbrenner und Bürgermeister von St. Dié, die älteren Ahnen waren Glockengießer, Schöffen und Ratsherren derselben Stadt. So stammt er väterlicherseits aus dem guten festgewurzelten Bürgertum und durch die Mutter aus dem Richteradel, die unter dem ancien régime als dritter Stand und als zweifelhafter Einschluß in den zweiten die Schmiede der Staats- und Volksgeschicke waren und zu allen Großtaten Frankreichs die Arme und die Herzen, das Blut, das Hirn und das Gold lieferten. Tief in den heimischen Boden gepflanzt, hatte Ferry den Gesichtskreis seiner Kindheit und Jugend, der auch derjenige aller seiner Vorfahren bis in unvordenkliche Zeiten gewesen war, fortwährend als selbstverständlichen Schauplatz seiner geheimsten Gedanken und Träume vor dem innern Auge, und noch in seinem letzten Willen schreibt er: »Ich wünsche in demselben Grabe zu mein wie mein Vater und meine Schwester, im Angesicht jener blauen Vogesenzeile, von der die Klage der Besiegten bis zu meinem treuen Herzen dringt.« Dem innersten Mark des französischen Stammes entsprossen, verkörperte er dessen ausgezeichnete Eigenschaften ebenso wie die minder rühmlichen und war in seinem Fühlen und Denken immer eins mit ihm. Und hier beginnt die Tragödie: dieser typische Volksmann war zeitlebens das Opfer des tiefsten Volkshasses.

Sein Äußeres bezeugte wie sein Name die alte romanisierte Form des fränkischen Friedrich, den starken germanischen Einschlag, den man in der ganzen östlichen Grenzbevölkerung Frankreichs antrifft. Er war von hohem Wuchs, breitschultrig, blond an Haar und Bart, die allerdings früh ergrauten, helläugig und langschädelig. Er war für den Kampf ums Dasein ausgerüstet wie selten jemand. Stark, kühn und dauerbar war er den meisten Menschen überlegen und allen gewachsen. Geistig war dieses vorzügliche Exemplar der Gattung wesentlich Rohstoff ohne besondere Differenzierung. Es war eine allgemeine gleichmäßige Tüchtigkeit, aus der keine stark profilierte Sonderbegabung hervortrat. Das ist so wahr, daß er nicht einmal eine ausgesprochene Neigung zu einem bestimmten Beruf hatte. Er wollte ursprünglich Maler werden, doch hinderte ihn die Beschäftigung mit der Kunst nicht, auf dem Straßburger Gymnasium ein Musterschüler zu werden und dies auch als Rechtshörer zu bleiben. Er schrieb sehr hübsche Reisebriefe aus Spanien, Italien und Griechenland, aber es hat ihn nie gedrängt, ein Buch zu schreiben, von einigen frühen politischen Broschüren abgesehen. Er hatte die Geistesverfassung der großen Praktiker: zuverlässiges Gedächtnis für Einzelheiten, Sinn für das Tatsächliche, rasches Erfassen der wirklichen Zusammenhänge, und er kannte keine angenehmere Erholung, als Gedichte zu lesen, wie er denn stundenlang Verse von Victor Hugo, Théophile Gautier, Leconte de Lisle sprechen konnte. Er war ein tüchtiger Rechtsanwalt, ehe er sich auf die Politik warf. Er hatte von der Philosophie, namentlich dem Positivismus Auguste Comtes, mehr als Liebhaberkenntnisse. Was immer er geworden wäre, er hätte es zu anständigen, vielleicht glänzenden Erfolgen gebracht, doch schwerlich tiefe und dauernde Furchen gezogen.

Die Eigenschaften, durch die er sich hoch über den Durchschnitt erhob, waren eben nicht solche des Geistes, sondern des Charakters. Er hatte den natürlichen, organischen Mut des Löwen, der niemals theatralisch werden kann, weil sein Besitzer ihn als etwas so Selbstverständliches, Unverdienstliches, zu keiner Prahlerei sich Eignendes empfindet, wie etwa seine Eßlust bei Tische oder sein Schlafbedürfnis nach dem Arbeitstage, und er hatte einen unverwüstlichen, stählernen Willen; er war ein Willensgenie. In diesem Urteil sind alle einig, die ihn kannten, auch wenn sie ihn nicht liebten. General Trochu sagte von ihm, er sei »sehr energisch, sehr kühn, von heldischer Tapferkeit gewesen«. Gambetta äußerte: »Hätte er die militärische Laufbahn eingeschlagen, er wäre Ney oder Murat geworden.« Antonin Proust bezeugte: »Es gibt vielleicht keine Seite in der Lebensgeschichte Jules Ferrys, auf der nicht eine Heldentat verzeichnet wäre.« Und die ihm feindliche »Lanterne« rief ihm nach seinem Tode nach: »Er war einer von jenen, die sich nicht ergeben.«

Tatsachen beweisen dies. Henri Houssaie erzählt: »Am 13. Oktober 1870 stand ich mit meinem Zug vor dem Fort Banves als Geschützbedeckung. Ferry, der mit zwei Mitgliedern der Regierung gekommen war, um die Schlacht zu beobachten, hielt sich in geringer Entfernung von der Batterie auf. Eine preußische Granate schlug in einen Munitionskarren ein, der aufflog und mit seinen Geschossen und Trümmern etwa zehn Mann tötete oder verwundete. Ferry blieb ruhig, wie wenn er einem harmlosen Feuerwerksversuche beigewohnt hätte. Seine mannhafte Haltung wirkte um so stärker, je mehr sie von der seiner beiden Begleiter abstach. Er hatte den grauenhaften Hauch des Todes ohne Schauder über sich hinwehen gefühlt.«

Als die meuternden Nationalgarden unter Flourens' Führung am 31. Oktober 1870 in das Pariser Stadthaus drangen und die versammelten Mitglieder der Regierung, unter denen sich auch der Bürgermeister von Paris Jules Ferry befand, am Leben bedrohten, rief einer der Aufständischen Ferry zu: »Jetzt hab' ich dich endlich, du wirst mir nicht entwischen!« Ferry erwiderte: »Ich habe dich, verstehst du mich? Morgen wirst du in der Lage sein, in der ich heute bin.« Es gelang ihm, aus dem Saal zu entkommen, wo seine Kollegen gefangengehalten wurden. Er sammelte einige treugebliebene Bataillone um sich und eilte an ihrer Spitze nach dem Stadthaus zurück. Allen voran stürmte er, der ihn empfangenden Flintenschüsse nicht achtend, die Treppe hinan in den Beratungssaal und sprang auf den Tisch. Bei seinem Anblick schrie Flourens: »Schießt ihn nieder! « Die Garden wandten sich jedoch zu wilder Flucht. Ferry rief ihnen nach: »Ihr seid meine Gefangenen! Ich habe euch! Ihr seid mir geliefert! Heute will ich euch noch Gnade gewähren. Jetzt aber hinaus! Und denkt daran: wenn ihr wieder anfangt, habt ihr auf kein Erbarmen zu hoffen!« Dieselbe Schneidigkeit wie bei dieser Gelegenheit zeigte er am 18. März 1871, als er beim Ausbruch des Kommune-Aufstandes das letzte Regierungsmitglied war, das seinen Posten verließ. Und nicht anders wie auf dem Schlachtfeld und vor dem Aufruhr benahm er sich der Wut der feindlichen politischen Parteien gegenüber. Als der Kampf um sein von den Klerikalen als kirchenfeindlich empfundenes Schulgesetz am wildesten tobte, rief ihm de Carayon-Latour in der Kammersitzung vom 18. März 1882 grimmig zu: »Nein! Dieses Gesetz wird niemals vollstreckt werden!« Ferry schleuderte sofort der tobenden Rechten die Antwort ins Gesicht: »Das Gesetz wird vollstreckt werden, Ihnen zum Trotz, gegen Sie. Sie werden auf Ihre Kosten erfahren, daß in Frankreich nur ein Gesetz und eine Gerechtigkeit gilt.«

Nach Beendigung seiner Studien ließ er sich in Paris 1851, noch nicht zwanzig Jahre alt, als Rechtsanwalt eintragen. Er war ein Sohn seiner Zeit und teilte die Gesinnungen seiner Generation. Die junge Anwaltschaft war dem Staatsstreich feind. So geriet Ferry in die Opposition gegen das Kaiserreich und blieb ihr mit der ihm eigenen Beständigkeit treu. Er sammelte eine Gruppe von Alters- und Berufsgenossen um sich, arbeitete an den wenigen damals geduldeten oppositionellen Zeitungen mit und betätigte sich bei den Wahlen. Sein Freundeskreis glaubte von allem Anfang an seine Zukunft. Seine erste Broschüre gegen die amtliche Kandidatur, »Der Wahlkampf«, 1863, wurde viel bemerkt. Als Mitglied des Pariser republikanischen Wahlausschusses wurde er gerichtlich verfolgt und zu 500 Franken Geldbuße verurteilt. Er setzte indes seinen Plänklerkrieg gegen die bestehenden Gewalten fort und wurde 1869 durch seine Broschüre: »Les comptes fantastiques d'Haussmann« berühmt. Unter dem fast gleichklingenden Titel »Les contes fantastiques d'Hoffmann« sind E. T. A. Hoffmanns Erzählungen und Märchen in Frankreich sehr volkstümlich, weit mehr als in Deutschland. Das Wortspiel war die beste Einführung seiner herben Kritik der Finanzlotterei des Seine-Präfekten Haußmann. Es wirkte stärker als die ernsten Zahlen und Tatsachen der Broschüre. Am 7. Juni 1869 wurde er in Paris zum Abgeordneten gewählt. So öffnete ihm ein Kalauer die Pforte der Volksvertretung und wurde die erste Stufe zu seinen späteren Erfolgen in der Politik.

Er wurde auf ein Programm gewählt, das unter anderem erklärte: »Frankreich wird nicht frei sein, solange es eigensinnig bei seinem System stehender Heere verharrt. Man muß vor allem Dezentralisation, unbedingte Trennung von Staat und Kirche, breite Entwicklung der Schwurgerichte, Umwandlung des stehenden Heeres fordern. Das sind die notwendigen Zerstörungen.«

Allerdings haben auch Gambetta, Michelet, Littré, Gaston Paris usw. dieses Wahlprogramm unterschrieben. Der erste aber, der es verleugnete, war Ferry. Er war eben ein Regierungs- und Ordnungstemperament und nur durch die Verkettung der Umstände in die Opposition geraten. Schon 1871 nannte er Picards doch recht harmlosen Antrag auf Abschaffung der Unterpräfekten einen »anarchistischen Gedanken«. 1873 schrieb er, der zwanzig Jahre lang in Paris«als Kaffeehaus-Politiker und Redaktionsstuben-Verschwörer gewirkt hatte, aus Athen an seinen Bruder: »Griechenland ist die Beute von Wirtshausrednern, dieser Pest aller Demokratien, die schwatzen, Blödsinn kramen und kannegießern.« In einer Rede sagte er 1885 in Bordeaux: »Das 1869er Programm war im Grunde nur die Absetzung des Kaiserreiches in gesetzlicher Form, durch seine fortschreitende, unaufhörliche Entwaffnung... Wir wußten vom Militarismus nicht viel Gutes zu sagen. Wir hatten eine unklare Sehnsucht nach Abrüstung, eine für die damalige Demokratie bezeichnende Neigung, eine Art Nationalgarde zu schaffen ... Das Land hat den 1870er Krieg gesehen und diesen gefährlichen und trügerischen Utopien für immer den Rücken gekehrt... Es bemüht sich, die Schule und durch das härteste Heergesetz Europas das ganze Volk zu militarisieren ... Wir beneiden die Republikaner nicht, die sich rühmen, unwandelbar zu sein, weil sie sich nach 25 Jahren Opposition gegen das Kaiserreich und gegen die ›moralische Ordnung‹ verpflichtet glauben, auch die republikanischen Minister mit derselben Heftigkeit zu bekämpfen.« Hier erklingt beinahe schon die komische Note von Rabagas ... Ähnlich heißt es in einem Brief an Magalhaes Lima: »Unseren Radikalen scheint die Republik das Mindestmaß von Regierungsgewalt zu bedeuten. Verhängnisvoller Irrtum ... Zwischen einem Lande, das regiert sein will, und einer Partei, die keine andere Regel zu kennen scheint, als die Regierung zu entwaffnen, besteht ein tiefes Mißverständnis, das tödlich werden kann. Wehe uns, wenn wir es nicht einsehen.« Diese Briefstelle erschließt das Verständnis von Ferrys politischen Geschicken.

Nach dem Sturze des Kaiserreichs ernannte die Regierung ihn zum Bürgermeister von Paris, und von da bis zu seinem Tode ist seine Geschichte die Geschichte der dritten Republik. Nach kurzer Verwendung als Gesandter in Athen wurde er 1879 zum erstenmal Minister, zwischen 1880 und 1885 dreimal Ministerpräsident, am 30. März opferte ihn auf die falsche Nachricht von der Niederlage des Jammerlappens Herbinger bei Langson, zwei Tage vor dem glänzenden Frieden mit China, die feige und demoralisierte Kammermehrheit dem Haß seiner Gegner, und die Wut gegen ihn war so heftig, daß er auf einer Leiter über die Mauer zwischen dem Palais Bourbon und dem Garten des Auswärtigen Amtes klettern mußte, um dem Pöbel nicht in die Hände zu fallen, der vor dem Palais Bourbon auf ihn lauerte und ihn in Stücke zerreißen wollte. Im August 1887 hatte er einen Zweikampf mit Boulanger, den er einen »Tingeltangel-Saint-Arnaud« genannt hatte. Nach Grévys Verzicht auf die Präsidentschaft wollte die Kongreßmehrheit ihn am 3. Dezember 1887 zum Präsidenten der Republik wählen. Hetzer wühlten jedoch die Hefe der Bevölkerung gegen ihn auf und drohten mit Barrikaden, Brand und Totschlag, wenn er ernannt würde. Ferry wollte es auf keinen Bürgerkrieg ankommen lassen und trat zugunsten Carnots zurück. Die von seinen Feinden ausgestreute Saat ging jedoch blutig auf. Acht Tage später, am 10. Dezember, feuerte der halbverrückte Auvertin vor dem Palais Bourbon aus unmittelbarer Nähe vier Revolverkugeln auf ihn ab, die ihm zwar nicht in den Leib drangen, jedoch durch die Brustwand den Herzmuskel kontusionierten und ein Herzleiden verursachten, dem der starke Mann, kaum 61 Jahre alt, 1893 fast plötzlich erlag. Zwei Monate vorher hatte er noch die Genugtuung erlebt, zum Senatspräsidenten gewählt zu werden, nachdem er acht Jahre lang wie ein Geächteter gelebt hatte.

Ein Günstling der Menge, solange er unter dem Kaiserreich dem Kreise der Unversöhnlichen angehörte, wurde er über Nacht der meistgehaßte Mann Frankreichs, als er zur Teilnahme an den Staatsgeschäften berufen wurde, und blieb es bis an sein Ende, das die Hand des sinnlosen Verbrechers vielleicht um Jahrzehnte beschleunigte. Der Grund dieses Hasses waren gerade seine Großtaten, die von frecher, beharrlicher Lüge und Verleumdung als Verbrechen gegen Volk und Staat hingestellt wurden.

Als Bürgermeister von Paris hatte er für die Ernährung der Bevölkerung während der Belagerung zu sorgen. Am 6. September trat er sein Amt an, am 19. war Paris vollständig eingeschlossen. Durch Wunder der Umsicht und Anschlägigkeit, durch eine unvergleichliche Raschheit der Entschließungen und fast übermenschliche Tätigkeit gelang es ihm, in dreizehn Tagen so viel Lebensmittel zusammenzubringen, daß Paris mehr als vier Monate durchhalten und sich durch seine tapfere Verteidigung Ruhm erwerben konnte. Der Dank des Volkes, das er von Schmach oder Hungertod gerettet, bestand darin, daß es ihn »Ferry den Aushungerer«, »Ferry l'affameur«, nannte und am 31. Oktober totschlagen wollte.

Als Ministerpräsident gab er Frankreich das Kongogebiet, Tunesien, Tonkin, Anam und die Schutzherrschafi über Madagaskar, die später in eine unmittelbare Angliederung umgewandelt wurde. Der Dank für diese ungeheure Gebietsvergrößerung, die dem »gedemütigten und verkleinerten« Frankreich eine Weltstellung gab, wie es sie in seinen glänzendsten Tagen nicht gekannt hatte, bestand darin, daß man ihn mit dem Schimpfnamen »der Tonkinese« brandmarkte, ihn am 30. März lynchen wollte, ihn 1887 bei der Rückkehr vom Kongreß in Versailles mit Steinen und Kot bewarf und die Hand eines gestörten Meuchelmörders gegen ihn waffnete.

Er erneute die französische Volksschule, die er der Geistlichkeit entriß, schuf die Mädchengymnasien, gab 400 Millionen für Schulhäuser aus, erhöhte den Aufwand für Unterricht von 36 auf 168 Millionen, führte die Zahl der Analphabeten auf die Hälfte zurück. Der Dank für die Erziehung des französischen Volks bestand darin, daß seine Geburtsstadt St. Dié, die er seit 1871 in der Kammer vertreten, ihn 1889 nicht wiederwählte, so daß die Senatorenwähler ihn nachträglich dem Parlament retten mußten.

Er war Patriot bis zum flammenden Chauvinismus. Er gehörte zu den Gründern der Patriotenliga. Und ihn nannten seine Feinde »Ferry den Verkauften« und beschuldigten ihn, er habe sich von Bismarck nach Tunesien und Tonkin locken lassen, um Frankreich mit Italien zu verfeinden, das Heer zu zerrütten und den Volksgedanken von Elsaß-Lothringen abzulenken.

Der Volkshaß, der ihn zwanzig Jahre lang unerbittlich und unversöhnlich verfolgte und ihm jede neue vaterländische Glanzleistung als neues Verbrechen ankerbte, war das Werk verschiedener Parteien, die einander sehr fernstanden und aus sehr ungleichen Beweggründen handelten.

Zuerst feindeten ihn die Bonapartisten an, die mit Recht in ihm einen der Urheber der Umwälzung vom 4. September sahen. Ihnen schlossen sich, gleichfalls mit Recht, die Anarchisten an, die hauptsächlich seine Entschlossenheit am 31. Oktober besiegt hatte. Dann kamen die Klerikalen, die ihm seine Schulgesetze und den Kampf gegen die tiefe Unwissenheit nicht verziehen, in der jeder Aberglaube trefflich gedeiht. Die Monarchisten waren über ihn erbittert, weil er die Prinzen von Orléans aus Frankreich verbannte und zum Zwecke der Säuberung des durch und durch reaktionären Richterstandes die Unabsetzbarkeit der Richter zeitweilig aufhob. Diesen Verkörperungen der Vergangenheit, verbündet mit den anarchistischen Feinden jeder Ordnung und der Gesittung selbst, gesellten sich später die Radikalen zu, die in ihm seit dem Tode Gambettas den einzigen ernst zu nehmenden, widerstandskräftigen Vertreter jenes Opportunismus sahen, der ihrer Meinung nach jeden republikanischen Fortschritt verhinderte.

Daß aber die Feindschaft dieser vier Parteien sich in der niederträchtigen Form schändlicher Beschimpfung und Verleumdung, ja der Anstiftung zum Meuchelmord betätigen konnte, war hauptsächlich, vielleicht einzig das Werk Paul Dérouledès. Dieser haluzinierende Dichter hatte die Geistesverfassung der Ketzerrichter des Mittelalters und Hexenverbrenner der Reformationszeit, nur war sein Fanatismus nicht auf den Glauben, sondern auf einen Patriotismus gerichtet, der in seinem Hirn zu einem Delirium des Hasses, zu aktivem und passivem Verfolgungswahn wurde. In jeder politischen Handlung, die er nicht begriff, sah er schnöden Landesverrat an Deutschland.

Die Klerikalen und Bonapartisten kannten Déroulède genau und machten sich über ihn lustig, bedienten sich aber seiner. Sie flüsterten ihm das eine Wort »Bismarck« ins Ohr, während sie mit dem Finger geheimnisvoll auf Ferry wiesen, und nun war ihm alles klar. Er war ein Verräter, ein von Bismarck bezahlter Verräter. Dieses furchtbar gefährliche Schlagwort warf er in die zu Anfang der achtziger Jahre noch sehr kranke Volksseele, und so entstand die Erregung der Menge gegen Ferry, der die straff gegliederte, ihrem Führer Déroulède blind gehorchende Patriotenliga die Richtung wies. Seinen parlamentarischen Gegnern war Ferry immer überlegen. Überwältigen konnten sie ihn erst, als sie die Straße gegen ihn mit Hilfe Déroulèdes mobilmachten und dem Todesgeheul der aufgewiegelten Menge die Fenster und Türen des Kammersitzungssaales öffneten.

Die Sympathien aller anständigen Leute wären nicht notwendig mit ihm gewesen, wenn der Kampf gegen ihn immer in parlamentarischen Formen geführt worden wäre. Denn seine starke, angriffsfrohe Natur war dazu angetan, heftige Widerstände hervorzurufen.

Er war ein Mann der Überlieferung durch und durch. Die Klerikalen und Monarchisten haben das nicht erkannt; die Radikalen waren sich darüber immer klar. Ferry blieb Republikaner, weil er es in jungen Jahren geworden war, doch nur aus feudaler Treue des Vasallen und Gefolgsmannes für den Lehnsherrn. Er war weder Demokrat noch Gleichheitsmensch, sondern Diener der Autorität, der hierarchischen Gliederung, des Gehorsams der Regierten, der Unantastbarkeit der Regierenden. Er war in tiefster Seele sogar kirchlich gesinnt, trotz seiner Schulgesetze und Maßregeln gegen die Jesuiten. Er wiederholte bei jeder Gelegenheit, daß er die Kirche hochachte und nur dem Staate seine Souveränitätsrechte sichern wolle.

Die Radikalen hatten von ihrem Standpunkt aus recht, Ferry zu bekämpfen. Er war der begabteste von jenen Politikern, die den Napoleonischen Staatsbau gegen die neuen Volkskräfte verteidigten und dafür eintraten, daß das Regiment ein Kaiserreich mit republikanischem Etikett blieb. Er verkörperte die alte Tyrannis des viel regierenden, alle Regungen der sich weiten wollenden Volksseele streng hemmenden Staats. Er mußte überwunden werden, wenn die Republik etwas anderes werden wollte als die Geschäftsführerin des abwesenden und verhinderten Cäsarismus, wenn der republikanische Gedanke sich die logisch nötigen Staats- und Gesellschaftsformen schaffen sollte.

Er war ein um so gefährlicherer Gegner, als er persönlich keinen Angriffspunkt bot. Er war makellos in seinem Leben und Wirken. Seine Hände waren peinlich rein. Er hatte nicht einmal Ehrgeiz. Er wollte die Macht nur, um in der ihm allein richtig scheinenden Weise für sein Vaterland wirken zu können. Seine große Leidenschaft war die Liebe zu Frankreich, eine selbstlose, opferfreudige Liebe. Eine tragische Liebe, denn sie blieb unerwidert.

Erst als er tot war und Frankreich größer, gebildeter, zukunftsreicher zurückgelassen hatte, als er es aus den Händen des Kaiserreichs übernommen, erkannte auch die Menge, welch treuen Diener sie in diesem starken und geduldigen Mann besessen. Nun erhoben sich für ihn Denkmäler in St. Dié, in Haiphong, in Tunis, und bei jeder Denkmalsenthüllung wurde all das Große aufgezählt, das er für Frankreich gewirkt. Diese späte Anerkennung fügt seinem schmerzerfüllten Leben eine Melancholie mehr hinzu. Man denkt an Heines Gedicht »Der Dichter Firdusi«. Dem lange verkannten, nach Thus verbannten Dichter wird endlich Anerkennung und Lohn. Der Schah schickt ihm eine Karawane mit reichen Ehrengaben.

»Wohl durch das Westtor zog herein
Die Karawane mit Lärmen und Schrein.

Doch durch das Osttor am andern End'
Von Thus zog in demselben Moment

Zur Stadt hinaus der Leichenzug,
Der den toten Firdusi zu Grabe trug.«


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