Max Nordau
Französische Staatsmänner
Max Nordau

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Mac Mahon

Beim Ausbruch des Kommune-Aufstandes wurde der Marschall Mac Mahon aus der deutschen Kriegsgefangenschaft entlassen. Er begab sich nach Versailles, um sich dem Präsidenten Thiers vorzustellen. Dieser teilte ihm mit, daß er ihn für den Kampf gegen Paris zum Befehlshaber des Regierungsheeres ernennen wolle. »Aber ich bin ein Besiegter,« stammelte der Marschall überrascht. »Wir sind alle Besiegte,« erwiderte der Präsident und drückte ihm die Hand. So gab Thiers Mac Mahon Gelegenheit, sein militärisches Ansehen wiederzugewinnen, das er bei Sedan gelassen hatte.

Thiers rechnete trotz seiner Menschenkenntnis auf einige Dankbarkeit für diesen Dienst. Vor der Krise des 24. Mai, die er kommen sah, besprach er mit politischen Freunden die Lage und fragte sie, wen die feindliche Mehrheit an seine Stelle setzen könnte. Man nannte Mac Mahon. »Mac Mahon wird niemals annehmen,« bemerkte der Präsident schroff. Mac Mahon nahm jedoch sofort an, ohne auch nur fünf Minuten Bedenkzeit zu verlangen. Der Vorsitzende der Nationalversammlung Buffet sprach zwar in seiner Mitteilung an sie am Abend des 24. Mai von den »Bedenken, Einwänden und Widerständen«, die der »illustre maréchal« der ihm seine Wahl ankündigenden Abordnung entgegengesetzt habe, fügte jedoch hinzu, eine »kräftige Anrufung seiner Opferwilligkeit und Hingabe an das Land habe genügt, um ihn zur Annahme zu bestimmen«. So wurde Mac Mahon Staatsoberhaupt dank der neuen Jungfräulichkeit, die Thiers ihm bereitet hatte. Hätte er nicht an der Spitze des Paris angreifenden Heeres gestanden, niemand wäre auf ihn verfallen. Denn er hatte keinerlei politische Vergangenheit und war immer nur Soldat gewesen. Als solcher hatte er allen Regierungen gedient, die einander seit dem Sturze Napoleons I. in Frankreich gefolgt waren, und er sagte von sich: »Ich habe alle mit Bedauern fallen sehen, nur eine einzige nicht – die meine.« Auch als Soldat hatte er sich nie durch Selbständigkeit hervorgetan, sondern immer nur die Tugend der Untergeordneten geübt: den Gehorsam. Nach den Augustkämpfen 1870 wollte er nach Paris marschieren. Palikao schrieb ihm im Namen der Kaiserin-Regentin den verhängnisvollen Zug nach Sedan vor. Er hatte die klare Erkenntnis, daß er dem Verderben entgegenging, und zögerte unter schmerzlichen Zweifeln. Seine Generalstabsoffiziere beschworen ihn, bei seiner ursprünglichen Absicht zu bleiben. Er entschied jedoch: »Befehl ist Befehl« und führte sein unglückliches Heer in den Kessel von Sedan. Jahre vorher hatte Marschall Bugeaud, als davon die Rede war, Mac Mahon zum Statthalter von Algerien zu ernennen, über ihn geurteilt: »Ich glaube, er ist ein ausgezeichneter Feldoffizier, sehr militärisch, sehr entschlossen; ich glaube aber nicht, daß er die nötige Weite des Geistes besitzt, um Europäer und Araber zu regieren.« Diese Weite des Geistes, die er 1852 nicht besaß, hatte er sicherlich auch 1873 nicht erworben. Gleichwohl wurde er dazu berufen, das französische Volk zu regieren.

Mac Mahon, dessen Vorname Patrice (Patrick) an seine Abstammung erinnert, war der Sprößling einer irischen Familie, die mit Jakob II. nach Frankreich kam. 1749 erlangte sein Ahnherr die französische Anerkennung seines irischen Adels. In diesem Zug liegt echt irischer Humor. Einen Adelstitel, der nach britischem Gesetz gültig ist, besaß die Familie in ihrer Heimat nicht. Jeder Ire ist jedoch überzeugt, der Nachkomme keltischer Könige zu sein, und diese Überzeugung scheint die einzige Begründung der Adelsansprüche der französischen Mac Mahons gewesen zu sein, deren Stammvater den ehrenhaften Beruf eines Apothekers ausübte, sich indes durch eine vorteilhafte Ehe mit einer französischen Witwe von vornehmer Geburt mit der französischen Aristokratie versippte. Patrice de Mac Mahon wurde 1808 als der Sohn eines Generalleutnants geboren, trat früh in das Heer ein, erhielt sein erstes Offizierspatent von Karl X. und war nach zwanzigjährigem Dienst in Algerien mit vierzig Jahren General. Nach seinen Familienüberlieferungen, die seine Erziehung und sein Gefühl bestimmten, war er Legitimist, und auf die Nachricht von der Juli-Revolution, die ihn in Afrika erreichte, war seine erste Bewegung, den Abschied zu nehmen. Er überlegte sich die Sache indes und diente auch unter dem Bürgerkönigtum weiter. Die Februar-Revolution und der Staatsstreich Napoleons störten ihn nicht mehr; er hatte sich bereits an Regierungswechsel gewöhnt.

Der Krimkrieg trug zuerst seinen Namen in weite Kreise. Er führte seine Brigade zum Sturm auf den Malakoffturm (eigentlich müßte der russische Name deutsch Malachow geschrieben werden, aber die französische Umschreibung ist allgemein angenommen worden) und nahm die Stellung. Er war da russischem Kreuzfeuer ausgesetzt, gegen das er keine Deckung hatte und das ihm schwere Verluste beibrachte. Im Hauptquartier erfuhr man überdies, daß der Turm unterminiert sei und jeden Augenblick auffliegen könne. Pelissier ließ ihm durch einen Adjutanten sagen, er solle sich doch zurückziehen. Mac Mahon aber erwiderte: Hier bin ich, hier bleib' ich«; »j'y suis, j'y reste«. Das war wenigstens die Lesart, die sich sofort verbreitete, die sich dauernd erhielt und die ihren angeblichen Urheber volkstümlich machte. Sie wurde später von Zeugen bestritten und Mac Mahon selbst erwiderte auf Befragen, die Worte drückten seinen damaligen Gedanken aus, doch werde er sie schwerlich so gebraucht haben, da es nicht seine Art sei, Epigramme zu spitzen. Diese bescheidene Selbsteinschätzung ist so sympathisch, daß man ihm ihr zuliebe das geflügelte Wort gutschreiben mag. Der Lohn seiner Tapferkeit und vielleicht noch mehr des ihm zugeschriebenen spartanischen Ausrufs war das Großkreuz der Ehrenlegion und seine Ernennung zum Senator.

Im Italienischen Krieg 1859 erhielt er die Führung des 2. Armeekorps. Seine besten Freunde haben ihm nie militärisches Genie nachgesagt. Aber er hatte, was ein so berufener Beurteiler wie Napoleon I. an einem General höher schätzte als militärisches Genie: er hatte Glück. Am 4. Juni, am Tage von Magenta, hörte er Kanonendonner. Er wartete weder auf Befehle noch auf umständliche Aufklärung, sondern beeilte sich, der bewährtesten Kriegsregel folgend, nach der Kanone hin zu marschieren. Er kam gerade zurecht, um den Kaiser Napoleon III. und sein Gardekorps, die vollständig umzingelt waren, vor der Gefangennahme und das Heer vor der zermalmenden Niederlage zu retten. Wie groß die Angst des Kaisers gewesen sein mußte, erhellt aus der Eile, mit der er wenige Stunden nach der Schlacht seinen Befreier zum Marschall von Frankreich und Herzog von Magenta beförderte. Es ist bezeichnend für dessen Geistesart, daß er die Drahtung, in der er seiner Gattin das große Ereignis mitteilte, »Malakoff« unterzeichnete. Er glaubte seinen neuen Titel unterschrieben zu haben und verwechselte in der Zerstreuung den italienischen mit dem russischen Kampfplatz.

Der Kaiser bewahrte seinem neuen Marschall und Herzog dauernde Dankbarkeit und ehrte ihn unter anderm mit dem Auftrag, ihn 1861 als seinen Botschafter bei der Krönung von Wilhelm l. in Königsberg zu vertreten, wo man sich allseitig lebhaft für ihn interessierte. Er ernannte ihn auch zum Statthalter von Algerien, wo er indes sehr schlecht abschnitt. Obschon er die Presse knebelte und jede öffentliche Äußerung der Unzufriedenheit mit Härte unterdrückte, konnte er doch nicht verhindern, daß die Erbitterung der Franzosen und Araber über seine plumpe und törichte Säbelherrschaft in Paris bekannt wurde und seine Abrufung erzwang.

Beim Ausbruch des 1870er Krieges erhielt er den Befehl über das I. Armeekorps der Rheinarmee. Es war ihm beschieden, am 4. und 6. August bei Weißenburg und bei Wörth die Reihe der französischen Niederlagen zu eröffnen, die bis zum Ende des Feldzuges nicht aufhören sollte. Mit den Trümmern seines geschlagenen Heeres wich er nach Chalons zurück, und es zeigt, wie arm an Männern das Kaiserreich war, daß Napoleon III. diesem Besiegten die dort versammelten 120 000 Mann, seine letzte Hoffnung nach der Einschließung von Bazaine in Metz, anvertraute. Für sein Land und sein Heer wollte sein altes Glück nichts mehr tun; für ihn selbst hatte es bei Sedan noch eine Bewegung des Mitleides. Er wurde am 1. September, als er seine Stellungen abritt, von einem Granatsplitter verwundet und mußte, oder durfte, den Befehl an General Ducrot abgeben, wodurch ihm der Schmerz erspart wurde, seinen Namen unter die Waffenstreckung der Armee zu setzen.

Im März 1871 geheilt aus der deutschen Kriegsgefangenschaft entlassen und von Thiers an die Spitze des gegen das aufständische Paris aufgebotenen Heeres gestellt, gelangte er nach der erfolgreichen Lösung seiner militärischen Aufgabe zu einer neuen Volkstümlichkeit, zu der das überschwengliche Lob der Rückschrittspresse sehr wesentlich beitrug. Das Losungswort, eine Heldensage für ihn zu erfinden, ging von den Führern der Monarchisten in der Nationalversammlung, in erster Reihe vom Herzog Albert von Broglie, aus, der in ihm ein brauchbares Werkzeug für seine Pläne sah.

Die Nationalversammlung vom 8. Februar 1871 war die Herrin der Geschicke Frankreichs. Sie war so überwiegend monarchistisch, daß ihre republikanische Minderheit vernachlässigt werden konnte. Ihre natürliche Absicht war, den Grafen von Chambord zum König Heinrich V. auszurufen. Sie scheiterte indes an ihrer inneren Zerklüftung und an dem Charakter des Grafen von Chambord. Die reinen Legitimisten, die nicht zugaben, daß die Heimkehr des Königs aus der Fremde an irgendeine Bedingung geknüpft werde, waren für sich allein nicht die Mehrheit. Zu dieser wurden sie erst im Verein mit den minder altertümlichen Monarchisten, die dem Bürgerkönigtum ein zärtliches Andenken bewahrten, und zwar gleichfalls einen König wünschten, doch einen König, der seiner Zeit, seinem Volke, der Geschichte Zugeständnisse machte und sich nicht der Selbsttäuschung hingab, er könne eine einfache Fortsetzung Ludwigs XIV. sein und alles, was sich seit 1789 ereignet hatte, als ungeschehen betrachten. Da sie diese Zugeständnisse nicht vom König erlangen konnten, versagten sie den »Chevauxlégers«, wie man die unbedingten Legitimisten nannte, ihre Heerfolge, und diese Spaltung verurteilte die Mehrheit zur Ohnmacht.

Der Graf von Chambord erscheint in der Geschichte Frankreichs wie eine sinnbildliche Gestalt in der Glasmalerei eines gotischen Kirchenfensters, in ihren Umrissen schematisch vereinfacht, groß, ein wenig steif, von alten, geheimnisvoll leuchtenden Vollfarben. Er tat sein Leben lang grundsätzlich nichts, und es fügte sich, daß dieses methodische Nichtstun eine bedeutsame Tat war. Er weilte fern von Frankreich, ohne irgendeine Berührung mit dem französischen Volke, und er gab dennoch dessen Geschicken eine entscheidende Wendung.

Heinrich von Bourbon wurde bei seiner Geburt im Jahre 1820 »das Wunderkind« genannt, denn er kam einige Monate nach der Ermordung seines Vaters, des einzigen Sohnes Karls X., zur Welt, als jedermann glauben mußte, die gerade Linie der französischen Bourbonen sei zum Aussterben verurteilt und die Krone werde auf den Sohn des verhaßten Philippe Egalité übergehen, da der spanische Zweig durch den Pyrenäen-Vertrag von der Erbfolge in Frankreich ausgeschlossen war. Das junge grüne Reis, das dem bereits für tot gehaltenen alten Stamm entsproß, wurde von den Königstreuen als die Verheißung einer neuen Zukunft jubelnd begrüßt. Bei seiner Geburt erhielt er von seinem Großoheim Ludwig XVIII. den Titel eines Herzogs von Bordeaux und später den eines Grafen von Chambord, zur Erinnerung daran, daß die Anhänger des Königshauses durch eine mehr oder minder freiwillige öffentliche Sammlung mehrere Millionen aufgebracht, dafür das geschichtliche Schloß Chambord mit ansehnlichem Grundbesitz gekauft und dem Neugeborenen als Wiegengeschenk gestiftet hatten. Der Prinz hatte in der Folge den Herzenstakt, sich immer nur Graf von Chambord zu nennen, um zu zeigen, wie dankbar er seinen Getreuen für den Beweis ihrer Ergebenheit und Liebe immer geblieben sei.

Er ging nach der Juli-Umwälzung mit seinem Großvater in die Verbannung nach Österreich, dessen Gast er bis zu seinem Tode war. Man trennte ihn früh von seiner geistvollen und energischen Mutter, der Herzogin von Berry, die wegen ihres Wandels und ihrer Abenteuer von der Familie stillschweigend in Acht getan wurde, und vertraute seine Erziehung hochgebildeten und milden, doch vollständig mittelalterlichen Geistlichen an, aus deren Händen er als ein verblüffender lebender Anachronismus hervorging: gütig, tugendhaft, ritterlich, geistig geweckt, vielseitig und gründlich unterrichtet, doch fromm und der Kirche ergeben wie sein Vorfahr Ludwig der Heilige, unerschütterlich überzeugt, daß er sein Königsrecht und seine Herrschersendung von Gott selbst habe, und gegen alle Gedanken der Zeit hermetisch verschlossen. Er heiratete eine Prinzessin von Modena, Erzherzogin von Österreich, die von ihrer Tante, einer Tochter der unglücklichen Königin Marie Antoinette, erzogen war und von ihr das Grauen vor der Umwälzung überkommen hatte. Sie war um drei Jahre älter als ihr Gatte und durch einen Kindheitsunfall war ihr eine Gesichtshälfte tief entstellt. Ihr unglückliches Äußeres glichen jedoch Herzenseigenschaften aus, ihre Ehe war rein und harmonisch und nur durch ihren Schmerz über ihre Kinderlosigkeit getrübt. Sie teilte alle Anschauungen ihres Gatten und bestärkte ihn in ihnen. Vielfach wurde behauptet, sie habe ihren Gatten abgehalten, sich ernstlich um die Wiederaufrichtung des Thrones seiner Väter zu bemühen. Dies ist ein bloßer theoretischer Schluß aus ihrer bekannten Geistesverfassung. Ihre Kindheit war mit Schreckbildern der Pikenmänner, der Strumpfstrickerinnen, des Tempelgefängnisses, der Conciergerie, des Fallbeiles genährt worden, das französische Volk flößte ihr Angst ein und vor Paris schauderte ihr. Aber auf den Grafen von Chambord färbte das nicht ab. Er liebte sein französisches Volk immer wie ein zärtlicher Vater sein schwer krankes delirierendes Kind, und es ist auch nicht richtig, daß er die Herrschaft nicht antreten wollte. Er tat, was er für zulässig hielt, um sich die erdrückende Last der Königskrone aufs Haupt zu setzen, aber dies durfte allerdings nur unter ehrenvollen Bedingungen geschehen. Er war kein Abenteurer, der mit zweifelhaften Mitteln seinen Erfolg erzwingen will, nicht einmal ein Prätendent, dem Verschwörungen und Zettelungen sein Reich wiedergeben sollen. Er war vor Gott, der Welt und sich selbst der rechtmäßige König, und seine Würde gebot ihm, gefaßt zu warten, bis Frankreich sich zerknirscht und reuig seiner erinnern und ihn anflehen würde, gütig verzeihend in die Mitte seines verwaisten Volkes zurückzukehren.

Beim Tode seines Großvaters 1844 zeigte er den Mächten seinen Regierungsantritt an und fügte hinzu: »Ich will jedoch meine Rechte erst ausüben, wenn nach meiner Überzeugung die Vorsehung mich berufen wird, Frankreich wahrhaft nützlich zu sein.« Nach dem Sturz des Kaiserreichs, nach der Wahl der Nationalversammlung mit ihrer gewaltigen monarchistischen Mehrheit, schien dieser Augenblick gekommen. Die Orleanisten wollten jedoch zuerst vorsichtig das Gelände abtasten, um zu wissen, ob der König als Selbstherrscher oder verfassungsmäßig regieren wolle. Chambord erließ verletzt am 6. Juli 1871 ein Manifest, um zu erklären, daß er sich »keinen Bedingungen zu fügen habe und Frankreich nicht das Opfer seiner Ehre bringen werde«. Das machte die Orleanisten bedenklich, sie traten beiseite, und die Heimberufung Chambords unterblieb vorerst. Die Mehrheit wollte nun, um späteren Entwicklungen nicht vorzugreifen, ein Provisorium schaffen, den Herzog von Aumale, den Sohn Ludwig Philipps und Oheim des orleanistischen Thronerben Grafen von Paris, zum Präsidenten der vollziehenden Gewalt ernennen. General Trochu reiste im Januar 1872 zu Chambord nach Antwerpen, wo er sich aufhielt und die Ereignisse abwartete, und tat einen Kniefall vor ihm, um seine Einwilligung zum Plan seiner Anhänger zu erlangen. Chambord erwiderte schroff: »Ich gebe nicht zu, daß ein Prinz von Geblüt sich außerhalb der Umgebung seines Königs bewege.« Und kaum war Trochu gegangen, als er ein neues Manifest ausgab, worin er sagte: »Ich werde niemals verzichten und niemals einwilligen, der rechtmäßige König der Revolution zu werden.«

Immerhin milderte sich seine Unnachgiebigkeit ein wenig, und er ließ sich wenigstens herbei, mit dem Abgesandten der Mehrheit Chesnelong über seine Regierungsgrundsätze zu reden. Er versprach eine Verfassung, er gewährte eine Volksvertretung, er wollte nichts von Standesvorrechten wissen und meinte, er werde ohne Zweifel seine gewohnte Umgebung verstimmen, da er seine Ratgeber nicht aus ihrer Mitte wählen werde. Unerschütterlich jedoch blieb er in einem Punkte: er wollte nach Frankreich nur mit seiner weißen Fahne, der Fahne Heinrichs IV., zurückkehren und um keinen Preis das Dreifarbenbanner annehmen, das für ihn das unverschämte Abzeichen der Umwälzung war. Die weiße Fahne war nur ein Sinnbild. Aber er selbst war ja auch nichts anderes. Mit einer selbstironisierenden Anspielung auf sein Hinken, das ihm von einem Sturz vom Pferde geblieben war, sagte er: »Ich bin entweder das Heil oder ein dicker Lahmer.« Und ein andermal: »Ich bin ein Grundsatz. Verleugne ich mich, dann bin ich nur ein fetter krummer Mann.« Der Herzog von Broglie, im Herzen ein Orleanist, erkannte einerseits die Unmöglichkeit, Frankreich die weiße Fahne aufzunötigen, und war andererseits entschlossen, die Aufrichtung der Republik zu verhindern. Er setzte also einen weit ausgreifenden Plan ins Werk. Er sammelte die Legitimisten und Orleanisten, stürzte am 24. Mai 1873 Thiers und machte Mac Mahon zum Präsidenten, damit er, da der Herzog von Aumale es nicht tun durfte, den Platz hüte, bis ein König ihn von seinem Posten abberufen würde. Broglie wußte, daß dieser König nicht Heinrich V. sein könne. Mac Mahon, trotz seiner unverfälscht legitimistischen Gesinnung, wußte es auch. Als man ihn fragte, wie das Heer die weiße Fahne aufnehmen würde, erwiderte er: »Bei ihrem Anblick würden die Chassepots von selbst losgehen.« In Ermangelung Heinrichs V. war Ludwig Philipp II., das heißt der Graf von Paris, der Mann der Vorsehung. Seit er am 5. August 1873, umgeben von seinen Oheimen, dem Grafen von Chambord auf seinem Landschloß in Frohsdorf gehuldigt, die Juli-Revolution und seinen Vater, wenn auch nicht ausdrücklich, verleugnet und das ausschließliche, gottgewollte, heilige Erbrecht des Oberhauptes seines Hauses anerkannt hatte, war er der Dauphin, der nur zu warten hatte, um im rechtmäßigen Erbgang der König aller Monarchisten zu werden. Die Lösung aller Schwierigkeiten sollte der Tod Chambords bringen. Das durfte man nicht roh aussprechen, aber alle Welt verstand den Gedanken Broglies, als er zuerst der Amtsdauer Mac Mahons gar keine Grenzen vorherbestimmen, dann ihr ein zehnjähriges Ziel setzen wollte und sich nur nach hartem Widerstand zur Annahme einer siebenjährigen Dauer bequemte, auch dann aber mit der Kraft der Verzweiflung dagegen ankämpfte, daß man das Septennat aus einem persönlichen Verhältnis Mac Mahons in eine Einrichtung des öffentlichen Rechts umwandle. Was Broglie wollte, das war, daß Mac Mahon die Ausrufung der Republik verhindere, jedoch in dem Augenblick freiwillig verschwinde, wo der König, ein möglicher König mit der Dreifarbenfahne, erscheinen würde. All diese Kniffligkeiten erwiesen sich als zwecklos gegenüber der unbeugsamen Starrheit Chambords. Er bestand auf seinem Grundsatz des göttlichen Königsrechts gegenüber dem angemaßten Volksrecht, er hielt seine weiße Fahne hoch, und als er erkannte, daß selbst die Monarchisten ihm nicht folgten, zog er sich wieder in seine Frohsdorfer Einsamkeit zurück und wartete weiter auf ein unmittelbares Eingreifen der Vorsehung, das aber bis zu seinem Tode nicht erfolgte.

Mit seinem blonden Haupthaar und Vollbart, seinen großen, sinnenden Blauaugen, seiner edelgebildeten geraden Nase, seinen männlich schönen regelmäßigen Zügen war Heinrich von Chambord eine überaus vornehme und eindrucksvolle Erscheinung. Er war einfach und natürlich, wußte aber im richtigen Augenblick äußerst königlich zu sein. Er hatte viel gesunden Menschenverstand und Mutterwitz, weigerte sich jedoch, Gedankengängen zu folgen, die ihn zum Zweifel an seinem Gottesgnadentum geführt hätten. Hätte die Umwälzung die Reihe der Könige Frankreichs nicht unterbrochen, so wäre er in ihr einer der besten, jedenfalls ein guter gewesen. Seine Charakterfestigkeit, die ihn auf die Herrschaft verzichten ließ, ersparte Frankreich gefährliche Erschütterungen, vielleicht mörderische Bürgerkriege. Seine Haltung sprengte den Bund der Monarchisten, löste die konservative Mehrheit auf, entmannte die Nationalversammlung und zwang sie gegen ihren Willen, trotz ihres ohnmächtigen Widerstandes, am 30. Januar 1875, mit einer Stimme Mehrheit, mit 353 gegen 352 Stimmen, die republikanische Regierungsform anzunehmen. So wurde Heinrich V., der heilige Georg des Drachen der Revolution, der eigentliche Urheber der dritten Republik.

Der Herzog von Broglie, der Sohn eines Pairs, der unter der Juli-Monarchie für einen Freisinnigen galt, glaubte ehrlich, gleichfalls ein solcher zu sein. Aber er weigerte sich, ein Recht der Zahl anzuerkennen, er hielt die Millionen der Menge für unfähig, sich selbst zu regieren, er war überzeugt, daß sie einer Führung bedurften, und er wollte, daß der gebildete und besitzende höhere Mittelstand der Führer der dumpfen und beschränkten Mehrheit sei. Deshalb widersetzte er sich hartnäckig der Republik und wollte, als er ihre Ausrufung nicht verhindern konnte, sie wenigstens in einen Käfig von Einrichtungen sperren, die einer kleinen gesellschaftlichen und geistigen Auslese die Herrschaft gesichert hätten. Seine Anstrengungen waren eitel. Das allgemeine Stimmrecht riß seine schwachen Papierdämme spielend nieder und ersäufte ihn.

Mac Mahon ernannte ihn am Tage seiner Wahl zum Ministerpräsidenten. Das war das wenigste, was er für den Mann tun konnte, der ihn zum Staatsoberhaupt gemacht hatte. Er ließ ihn jedoch ruhig fallen, als ein Jahr später, am 16. Mai 1874, die Nationalversammlung ihm ihr Vertrauen entzog. Der Herzog von Magenta nahm sich ernst. Man hatte ihm eine Rolle anvertraut, und er fühlte sich als die Person, die er nur spielen sollte. Er weigerte sich, den Grafen von Chambord zu empfangen, als er im Oktober 1873 insgeheim nach Versailles kam. Er sagte in seiner Botschaft vom 3. Dezember 1874 an die Nationalversammlung: »Ich habe einen Dienstbefehl und werde niemals fahnenflüchtig werden.« Er unterschrieb die republikanische Verfassung, als sie angenommen war. Die Versammlung rang sich Ende 1875 den Entschluß ab, sich aufzulösen. Am 20. Februar 1876 wurde eine neue Kammer gewählt, und ihre Mehrheit war republikanisch. Auch das störte Mac Mahon nicht. Es kostete ihn keine Selbstüberwindung, mit einer republikanischen Kammer zu regieren. Er versuchte es zuerst mit einem Ministerium Dufaure von unentschiedener Färbung und dann, am 12. Dezember 1876, mit einem Kabinett, in dem Jules Simon den Vorsitz führte. Dieser trat sein Amt mit der Erklärung an, er sei »tief konservativ und tief republikanisch«. Broglie hörte nur das zweite Beiwort, nicht das erste. Er sah mit wurmendem Unmut, daß die Republik sich im Lande von Tag zu Tag mehr befestigte, und er benutzte den ersten Vorwand, um Jules Simon beiseite zu stoßen, die Zügel wieder selbst in die Hand zu nehmen und scharf nach rechts zu wenden.

Das geschah an dem berühmten 16. Mai 1877, der für Mac Mahon der Schicksalstag werden sollte. Tags vorher hatte Jules Simon in der Kammer sich der Abschaffung des reaktionären Preßgesetzes von 1875 nicht mit genügender Energie widersetzt, obschon er dem Präsidenten versprochen hatte, sich für dessen Aufrechterhaltung einzusetzen. Mac Mahon schrieb ihm einen Brief, in dem er ihm den Wortbruch vorwarf und fortfuhr: »Die Haltung des Ministerpräsidenten zwingt zur Frage, ob er noch den nötigen Einfluß auf die Kammer besitzt, um seine Ansichten vorwiegen zu lassen. Eine Erklärung ist unerläßlich; denn ich bin zwar nicht wie Sie der Kammer verantwortlich, wohl aber habe ich Frankreich gegenüber eine Verantwortlichkeit, die heute mehr als je meine Sorge sein muß.« Man hat später glauben machen wollen, Mac Mahon habe diesen keiner Regierungsüberlieferung entsprechenden harten öffentlichen Verweis seinem Ministerpräsidenten aus eigener Entschließung erteilt. Es ist jedoch bewiesen, daß er sich in der Nacht zum 16. Mai mit Broglie beriet und daß der Brief dessen Werk ist.

Jules Simon ging, und der Herzog von Broglie trat an die Spitze der Regierung, deren erste Tat es war, die Kammermehrheit vor den Kopf zu stoßen und mit ihr zu brechen. Sie erklärte dem Ministerium mit 363 Stimmen ihr Mißtrauen, und Broglie antwortete darauf zuerst am 17. Mai mit ihrer Vertagung und dann, am 18. Juni, mit der Auflösung. Während der Wahlbewegung übte er den härtesten Druck auf das Land. Die Presse wurde geknebelt, der Verkauf der Zeitungen erschwert oder brutal verhindert, 2000 Strafprozesse wegen Präsidentenbeleidigung und angeblicher Übertretung der Polizeivorschriften für den Zeitungsvertrieb eingeleitet, Gambetta selbst am 11. September wegen seiner Rede von Hâvre von einer gefälligen Pariser Strafkammer im Abwesenheitsverfahren zu drei Monaten Gefängnis und 2000 Frank Buße verurteilt, eine Strafe, die freilich nie vollstreckt wurde. Mac Mahon zog im Lande umher und suchte mit seinem persönlichen Eintreten auf die Wähler Eindruck zu machen. Es half jedoch alles nichts. Aus den Wahlen vom 14. Oktober ging die republikanische Mehrheit der 363 beinahe vollzählig wieder hervor, und Broglie mußte zurücktreten. Aber hinter der Kulisse lenkte er noch die Bewegungen Mac Mahons wie die einer Gliederpuppe. Der Präsident versuchte, den Kampf fortzusetzen. Er ernannte General de Rochebouet am 14. November zum Ministerpräsidenten und Kriegsminister mit der später vergebens abgeleugneten Absicht, einen Staatsstreich auszuführen. Als das Kabinett sich der Kammer vorstellen wollte, weigerte sie sich, mit ihm in Berührung zu treten. An alle Garnisonen ergingen geheimnisvolle Befehle, die durch die kühne Tat eines Stabsoffiziers, des Majors Labordère vom 14. Infanterieregiment, der weitesten Öffentlichkeit bekannt wurden. Aus der Reihe der Offiziere, die in Limoges zusammenberufen wurde, um einen Tagesbefehl zu empfangen, trat er nämlich hervor und erklärte, er verweigere den Gehorsam, da der Befehl nur einen Staatsstreich bedeuten könne. Wegen dieser Verweigerung des militärischen Gehorsams wurde Labordère sofort verhaftet und in der Folge schlicht verabschiedet, doch zum Abgeordneten gewählt; der Zwischenfall erschreckte jedoch die Leiter des Widerstandes gegen den Volkswillen, da er ihnen zeigte, daß sie auf das Heer nicht zu rechnen hatten. Broglie gab den Kampf auf, und Mac Mahon streckte die Waffen. Er entließ Rochebouet, kroch durch das kaudinische Joch der republikanischen Mehrheit, die ihm Dufaure als Ministerpräsidenten aufnötigte, verhielt sich 1878 ruhig und ergeben, um den Erfolg der Pariser Weltausstellung von 1878, einer großen Kundgebung der französischen Lebenskraft und der Erholung des Volkes von den 1879er Niederlagen und ihren äußeren und inneren Folgen, nicht zu beeinträchtigen, und dankte am 30. Januar 1879 ab, da in der Regierung der radikal gewordenen Republik für ihn kein Platz mehr war.

Das Mittelalter war von der Neuzeit nach einem letzten erbitterten Ringen in den Staub geschleudert worden, die Königsüberlieferung strich vor der Umwälzung die Flagge. Die Republik war unerschütterlich gegründet, der Volkswille in ihr die treibende Kraft, die Demokratie von der Vormundschaft befreit, die eine kleine, an Vorrechte gewöhnte Klasse sich über sie anmaßen wollte. Mac Mahon lebte noch eine Reihe von Jahren in einer ruhmlosen Zurückgezogenheit und starb 1893, halb verschollen und ganz unbeachtet.

Während des Kampfes nach dem 16. Mai war er der Gegenstand erbarmungsloser Angriffe der spitzesten republikanischen Federn. Das Bild, das sie damals von ihm zeichneten, prägte sich der Menge ein und blieb unverwischbar. Es zeigt ihn als unmäßigen Verehrer der Chartreuse und als bis zur Trottelei einfältigen Schwachkopf. Man erzählte von ihm die lächerlichsten Anekdoten, die willig geglaubt wurden. Einem schwarzen Kadetten, der ihm in St. Cyr als besonders tüchtig vorgestellt wurde, hätte er gesagt: »Sie sind Neger? Schön. Fahren Sie fort, es zu sein.« Bei der Flottenschau in Hâvre hätte er das Meer lange angestarrt und schließlich ausgerufen: »Das viele Wasser! Das viele Wasser!« Beim Besuch eines Militärkrankenhauses hätte er am Bett eines Typhuskranken bemerkt: »Typhus? Schlimme Geschichte. Man stirbt daran oder bleibt zeitlebens ein Idiot. Ich muß das wissen. Ich habe in Algier den Typhus gehabt.« Wahrscheinlich ist all das Erfindung, Entstellung oder Mißdeutung. Es war anstößig übertrieben, ihn den »Bayard der Gegenwart« zu nennen, wie der Graf von Chambord es in seinem Manifest vom Oktober 1873 getan hatte, es war bedauerlich ungerecht, ihn als einen albernen Tropf zu malen, wie es später geschah. Er war einfach ein mittelmäßiger Mensch ohne besondere Gaben, ein tüchtiger Kommißoffizier, der großen Heerführeraufgaben nicht gewachsen war, und seine geschichtliche Bedeutung liegt nur darin, daß die Sache der Gegenrevolution bei ihrem letzten verzweifelten Unternehmen gegen die Revolution in der ganzen konservativen Partei keine bedeutendere Verkörperung finden konnte als diese Mittelmäßigkeit.


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