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Adolphe Thiers, der 1797 in Marseille geboren war und 1877 in St. Germain-en-Laye bei Paris starb, hat in seinem achtzigjährigen Leben, während dessen er immer im Vordergrund der politischen Bühne Frankreichs stand und handelte, viele Beinamen erhalten. Gambetta nannte ihn während des 1870er Krieges »den unheimlichen Greis«, für den Royalisten de Meaux war er nach dem Friedensschluß »der unvermeidliche Mann«, die Männer des von ihm niedergeworfenen Kommune-Aufstandes bezeichneten ihn kurz als den »Massenmörder«, die Geschichte aber wird ihm den Ehrentitel des »Befreiers des Staatsgebietes« lassen, den ihm Gambetta, ehemals sein heftiger Gegner, bei einem denkwürdigen Anlaß widmete. Das war in der Kammersitzung vom 16. Juni 1877, während eines leidenschaftlichen Redekampfes über Mac Mahons parlamentarischen Staatsstreich vom 16. Mai. Auf Angriffe gegen die Rückschrittspartei und die Nationalversammlung von 1871, in der sie die große Mehrheit hatte, rief de Fourtou, der gewalttätigste Minister im Faustkabinett des Herzogs von Broglie: »Die Nationalversammlung hat das Staatsgebiet befreit!« Mit seiner gewohnten Schlagfertigkeit erwiderte Gambetta auffahrend: »Der Befreier des Staatsgebietes ist dieser hier!« und wies mit weit ausgestrecktem Arm auf Thiers, der still, gekrümmt, geschrumpft auf seinem Platze saß. Die ganze Linke der Kammer sprang auf, wandte sich dem in sich versunkenen Greis zu, klatschte minutenlang wütend in die Hände und wurde nicht müde, donnernde Hochrufe auszubringen. Der Auftritt wurde von Ehrmann in einem großen Gemälde von mäßigem künstlerischen Verdienst, doch starkem anekdotischen Interesse festgehalten, das sich jetzt in Versailles befindet. Eine derartige Apotheose ist der Lohn eines dem Gemeinwesen gewidmeten Lebens und weist ihrem Helden seinen dauernden Platz in der Geschichte seines Vaterlandes und des Weltteils an.
Thiers ist eine so vollendete Verkörperung des französischen Bürgertums, seiner Vorzüge und seiner Begrenzungen, seine Laufbahn so bezeichnend für die Möglichkeiten, die eine freie Demokratie einer hochbegabten und starken Persönlichkeit bietet, daß man glauben möchte, ein synthetisierender Romandichter von tiefster Geschichtsauffassung, großartiger menschenbildnerischer Kraft und gelegentlicher leiser Ironie habe die Gestalt, ihre Entwicklung und Geschichte frei erfunden, um einen Schulfall zur Verdeutlichung einer politischen und sozialen Theorie zu schaffen.
Der Abkömmling einer Familie, die wahrscheinlich aus dem provenzalischen Städtchen Thiers stammt und jedenfalls von ihr den Namen angenommen hat, studierte er die Rechte und ging 1821 nach Paris, um in der überlieferten Weise der Südfranzosen – vielleicht war er einer der Urheber dieser Überlieferung – die große Stadt und den trägern, mattern Norden zu erobern, wie Alphonse Daudet es später in seinem als Beitrag zur Volkskunde wertvollen Roman »Numa Roumestan« ohne Wohlwollen schildern sollte. Er begann, wie in Frankreich selbstverständlich, als Tagesschriftsteller. Villemain hat französische Verhältnisse richtig gekennzeichnet, als er den Ausspruch tat: »Der Journalismus führt zu allem, unter der Bedingung, daß man aus ihm heraustritt.« Man kann sich eines Lächelns nicht erwehren, wenn man zu verzeichnen hat, daß der junge Ringer aus dem Süden sich zunächst, wie alle Welt, auf die Kunstkritik warf und über den Salon von 1822 und 1824 schrieb. Er war nämlich der Philister ohne eigenes Kunstempfinden, doch von ehrerbietigem Konventionalismus, wie er im Buche steht, bildete sich jedoch ein, über Schönheitswerte und Schöpfergabe ein Urteil zu besitzen, und wandte sein Leben lang der Kunst ein rührendes Interesse zu. Wie jeder ehrbare und wohlhabende Spießbürger sammelte er alles mögliche. Als er jedoch letztwillig seine Schätze dem Louvremuseum vermachte und sein Trödel von bedauerlichen Bildern und Plastiken bis zu banalem Porzellangeschirr an dieser erlauchten Stätte aufgestellt wurde, stießen die berufenen Hüter des Geschmacks einen Schrei des Entsetzens und der Entrüstung aus und forderten stürmisch die Ausschließung der seltsamen Kostbarkeiten, die ihnen jedoch wegen der dem Andenken Thiers' schuldigen Achtung nicht bewilligt werden konnte.
Er erwarb einen kleinen Anteil an der Aktiengesellschaft, die den oppositionellen »Constitutionnel« gründete, und trat, ein merkwürdiger und wenig bekannter kleiner Zug, zum erstenmal in Beziehung zu Deutschland, indem ihn der Stuttgarter Klassiker-Cotta, der gleichfalls an dem Pariser Blatte mit seinem Kapital beteiligt war, zum bevollmächtigten Vertreter seiner Interessen im Aufsichtsrat bestellte. Bald darauf wurde er Mitbegründer des »National«, wo das System eingeführt wurde, daß die Gründer der Reihe nach je ein Jahr lang die oberste Leitung des Blattes ausübten. 1830 war das Jahr der Leitung Thiers' und damals geschah es, daß der Minister Karls X., Fürst von Polignac, die Verordnung erließ, die mit Vergewaltigung der Charte von 1814 der Presse die letzten geringen Freiheiten entriß. Thiers verfaßte die gemeinsame Verwahrung aller Blätter gegen die ministerielle Gewalttat und unterschrieb sie an erster Stelle. Er forderte die Bürger zum Widerstande gegen Polignacs Maßregel auf, dachte aber nur an den gesetzlichen Widerstand durch Wort, Schrift und Stimmzettel. Das Volk ging im ersten Anlauf weit über diese Einschränkung hinaus und vollzog den Juli-Aufstand, der den Bourbonenthron wegfegte. Damals griff Thiers zum erstenmal, und gleich entscheidend, in die Geschicke seines Vaterlandes ein. Die Straßenkämpfer der drei Julitage schlugen sich auf ihren Barrikaden mit Hochrufen auf die Republik. Thiers aber schrieb noch am 30. Juli in seinem Blatte: »Die Republik würde uns entsetzlichen Spaltungen aussetzen.« Einundvierzig Jahre später sollte er genau das Gegenteil sagen. Er forderte 1871 die Republik mit der Begründung: »Sie ist es, die uns am wenigsten spaltet.«
Dieser Widerspruch ist ein besonders schroffer, doch durchaus nicht der einzige in seinen Anschauungen. Seine vielfachen Wandlungen und Schwankungen erklären sich sämtlich aus einem ursprünglichen Gegensatz zwischen seinem Gefühl und seinem Verstand. In seinem Unterbewußtsein war er ein Mann der Ordnung, der Autorität, der guten alten Gewohnheiten, der sich an Symmetrie ergötzte, Regelwidrigkeiten verabscheute, Zucht und Botmäßigkeit forderte. In seinem bewußten Denken erkannte er die große Umwälzung als die Ursache der Weltstellung und Größe Frankreichs, als die Grundlage seiner lebendigen Einrichtungen, als die Bedingung, die allein einem geringen Sohne des dritten Standes, einem kleinen Bürger ohne Geburt und Namen wie ihm jeden Ehrgeiz gestattete und jeden Erfolg versprach. Bald ließ er sich von seinem Gefühl eines starren Konservativen, bald von seiner Einsicht eines vernünftigen Schätzers der Geistesverfassung des französischen Volkes bestimmen. Nur in zwei Punkten herrschte volle Übereinstimmung zwischen seinem Fühlen und Denken: in seiner Unzugänglichkeit für religiöse Vorstellungen und in seiner leidenschaftlichen Vaterlandsliebe. Er war ein Sohn Voltaires, der nie seinen geistigen Vater verleugnete, und er war ein stolzer Franzose, der für sein Land den ersten Platz beanspruchte, von dessen unvergleichlicher Bestimmung durchdrungen war und sich in seinem andächtigen Glauben durch keine Niederlage und Demütigung irremachen ließ.
Kaum 26 Jahre alt, begann er seine »Geschichte der Revolution« zu schreiben. Die Größe dieses Werkes vergegenwärtigt man sich heute schwer. Er hatte keinen Vorgänger. Er brach Urboden auf. Er sammelte die Tatsachen weit mehr aus den mündlichen Erzählungen der überlebenden Zeugen als aus den Urkunden und zeichnete viele Charakterbilder nach seinen persönlichen Eindrücken von den Modellen und nach den Aussagen der Männer, die sie gekannt hatten, nicht nach Büchern und abgezogenen Folgerungen. Nach ihm kam Lamartine mit seiner sentimentalen Teilnahme für eine Partei, die Girondisten, Louis Blanc mit seinem Bemühen um die Aufdeckung tiefliegender und entfernter Ursachen, Michelet, ein begeisterter Skalde, der Balladen singt, kein nüchterner Geschichtschreiber, Taine, der gallsüchtige Absprecher und Hasser des profanum vulgus, Aulard, der gewissenhafte Erforscher alles kleinen und kleinsten Tatsächlichen. Diese Nachfolger überflügelten und verdunkelten ihn. Nichts aber kann sein Verdienst schmälern, die Ereignisse von 1789 bis 1799 zuerst als eine zusammenhängende monumentale Freske dargestellt, sie schlicht, klar, fließend in einer Sprache erzählt zu haben, die nicht durch stilistische Künsteleien, sondern durch die Gewalt der vorgetragenen Tatsachen wirken will.
In der ersten Ausgabe seiner »Geschichte der Revolution« stand Thiers auf dem Standpunkt, den 60 Jahre später Clemenceau einnahm, als er in der Kammerdebatte über die Aufführung von Sardous »Thermidor« im staatlich unterstützten Théâtre français die Umwälzung für einen »Block« erklärte, den man im ganzen annehmen müßte, ohne das Recht, gegen einzelne Teile Vorbehalte zu machen oder sie abzulehnen. Thiers hatte auch für die Schreckensherrschaft Erklärungen und Entschuldigungen, merzte jedoch in den späteren Auslagen diese Stellen aus seinem Werke aus. Ein Gegenrevolutionär, G. de Mortillet, machte sich das boshafte Vergnügen, in einer besonderen Schrift, »Monsieur Thiers altéré par lui-même«, »Herr Thiers, von ihm selbst geändert«, Paris, 1846, die Stellen zusammenzutragen, in denen er sich selbst verleugnete. Auf Widersprüche dieser Art stoßen wir bei Thiers fortwährend. Man hätte indes unrecht, ihm aus ihnen einen Vorwurf zu machen. Er war kein Doktrinär und gab sich nie als einen solchen. Er war ein Politiker und die Politik ist die Kunst der Anpassungen an gegebene Verhältnisse, die man nicht ändern kann. Nur ging er in diesen Anpassungen häufiger, als seinem Andenken zuträglich ist, bis zum Verzicht auf Menschlichkeit.
Nach der Juli-Revolution war er es, der den Herzog von Orleans seinem anfänglichen, aufrichtigen oder geheuchelten, Widerstande zum Trotz bestimmte, sich zum König der Franzosen ausrufen zu lassen. Der neue Herr lohnte ihm seinen Dienst mit einem Ministerportefeuille, dessen junger Träger seine vernünftige Wertung der Revolution völlig vergaß und sich ganz seinen konservativen Instinkten hingab. Als Minister des Innern im Kabinett des Marschalls Soult verhaftete er die Herzogin von Berry, die die Bretagne und Vendée zu einem legitimistischen Aufstand gegen das Bürgerkönigtum aufzuwiegeln suchte, und entehrte sie durch amtliche Veröffentlichung des Protokolles über ihre Niederkunft im Gefängnis, vierzehn Jahre nach der Ermordung ihres Gatten, des einzigen Sohnes Karls X. Die überwältigten Arbeiter des Lyoner Viertels der Croix Rousse und der Pariser Rue Transnonain, die gegen seine Regierung Barrikaden aufgeworfen hatten, schickte er erbarmungslos auf das Blutgerüst, und 1835 gab er ein Gesetz gegen die Pressefreiheit, er, der seine Erhebung seinem Widerstand gegen die Preßordonnanzen Polignacs und den von ihm heraufbeschworenen Barrikadenkämpfen der drei Julitage 1830 verdankte. 1840, als Ministerpräsident, setzte er die Rückkehr der Asche Napoleons von St. Helena so wirksam in Szene, daß sie der Ausgangspunkt der epischen Napoleonssage wurde, veranlaßte die Umwandlung von Paris in eine Festung mit Außenforts, Wall und Graben und rief in Deutschland durch seine offene Forderung der Rheingrenze für Frankreich einen Sturm vaterländischen Zorns hervor, dem August Becker in seinem vom Fels zum Meer hallenden »Rheinlied« Ausdruck gab. Guizot, die ragendste Gestalt der Juli-Monarchie und eine der dauernden Größen der französischen Ruhmeshalle, mißbilligte scharf diese Herausforderungen und Heftigkeiten, und seine Gegnerschaft hielt Thiers in den letzten Jahren des Bürgerkönigtums von der Macht fern.
Nach der Februar-Umwälzung fand er sich rasch mit der Verjagung Ludwig Philipps ab, dem er die Krone auf das Haupt gesetzt hatte, ließ sich in die Nationalversammlung wählen und folgte hier ohne Hemmung seinem Herzenszug, der ihn an die Seite der maßlos rückschrittlichen Rechten führte. Er stimmte immer mit ihr, bekämpfte mit den plattesten und rückständigsten Gründen Proudhon und die sozialistisch gefärbten Ansprüche des vierten Standes, unterstützte den Gesetzentwurf de Falloux', der unter dem Vorwand der Unterrichtsfreiheit die Schule für ein halbes Jahrhundert der Kirche auslieferte, und nahm an der Einschränkung des Stimmrechts teil, die den endgültigen Bruch zwischen dem Volk und der zweiten Republik verschuldete. Er hatte aus diesem Anlaß das Duell, eine harmlose Begegnung auf Pistolen, das im Leben keines französischen Mannes der Öffentlichkeit fehlen darf, mit dem freisinnigen Abgeordneten Bixio, der ihm seine Abtrünnigkeit von den Grundsätzen seiner Jugend heftig vorwarf. Er unterstützte aus Haß gegen Cavaignac, der ihm trotz seiner blutigen Niederwerfung des Juni-Aufstandes der Pariser Arbeiter viel zu republikanisch war, im Dezember 1848 die Bewerbung des Prinzen Louis Napoleon Bonaparte um die Präsidentschaft, vermutlich mit dem Hintergedanken, ihn zum Kaiser zu krönen, wie er 1830 den Herzog von Orleans zum König gekrönt hatte, trat ihm jedoch später als Gegner gegenüber, wie Napoleon immer behauptete, weil er ihm trotz der Begönnerung kein Ministerportefeuille angeboten hatte, und erfuhr nach dem Staatsstreich vom 3. Dezember 1851 das für einen unnachgiebigen Ordnungsmann mit weißer Halsbinde und Vatermörder sonderbare und ein wenig humoristische Abenteuer, wie ein roter Umstürzler ins Gefängnis von Mazas geworfen zu werden. Natürlich schlief er nicht lange auf dem feuchten Stroh des Kerkers. Nach seiner Haftentlassung zog er sich aber auf zwölf Jahre schmollend vom öffentlichen Leben zurück und benutzte seine würdige Muße zur Abfassung seiner »Geschichte des Konsulats und Kaiserreichs«, einer gleichwertigen Fortsetzung und Vollendung seiner »Geschichte der Umwälzung«.
Dem zweiten Kaiserreich blieb er bis zum Schluß ein unbestechlicher Kritiker. 1855 sagte er seinen Sturz und das Heraufkommen der Republik voraus. 1863 ließ er sich in die gesetzgebende Körperschaft wählen und die damals allmächtige Verwaltung bekämpfte seine Bewerbung nicht. Er wußte ihr dafür keinen Dank und hörte nicht auf, die Finanzen und besonders die auswärtige Politik Napoleons III. herb zu tadeln. Der Krieg für Italien, 1859, schien ihm eine Tollheit. 1866 forderte er nach Sadowa mit großer Heftigkeit Frankreichs bewaffnetes Eingreifen, nicht aus Wohlwollen für Österreich, sondern um Preußen zu schwächen. Er war ein Feind der Einigung Italiens und Deutschlands und wollte, daß Frankreich sie um jeden Preis verhindere. Das wurde ihm später als großes Verdienst und als Beweis seines staatsmännischen Weitblicks angerechnet. Es scheint mir im Gegenteil Kurzsichtigkeit zu bezeugen. Bei wirklicher Voraussicht hätte es ihm nicht entgehen können, daß die nationale Bewegung in Italien und Deutschland ein Naturvorgang war, den Mißgunst der Nachbarn verzögern, doch nicht dauernd aufhalten konnte und der sich gegen jedes Hindernis durchsetzen mußte. Eine weise Staatskunst hätte ihre Bemühung dahin gerichtet, daß die doch nicht zu vereitelnde Einigung der Nachbarvölker sich nicht gegen Frankreich vollziehe, daß das neue starke Italien und Deutschland Frankreichs Freunde, vielleicht Verbündete werden. Thiers' Politik machte sie zu Feinden Frankreichs und bereitete ihm schwere Niederlagen. Hier sah Napoleon III. klarer als sein Gegner, der sich ihm weit überlegen glaubte. Er begünstigte die Einheitsbestrebungen Italiens und Deutschlands, nur war er nicht beharrlich und verdarb mit einem schlechten Abschluß die ganze voraufgegangene Arbeit.
Im Juli 1870 war Thiers einer der sehr wenigen Volksvertreter, die sich dem Kriege mit Deutschland widersetzten. Es gehörte sittlicher Heldenmut dazu, sich dem entfesselten Strom des Chauvinismus entgegenzuwerfen, aber er besaß ihn. Er sah da klar, wo die ungeheure Mehrheit verblendet war. Er wußte, daß es Frankreich an allem fehlte, und er setzte alles, was er an Volkstümlichkeit und Ansehen besaß, unbedenklich aufs Spiel, um sein Vaterland von dem Sprung in den Abgrund zurückzuhalten. Man ersparte ihm den Vorwurf der Feigheit, ja des Verrates nicht, und die öffentliche Meinung war derartig gegen ihn aufgebracht, daß die Menge vor sein Haus zog und es mit gewaltsamem Einbruch bedrohte. Sie lernte bei dieser Gelegenheit den Weg zu seinem Heim an der Place St. Georges, den sie bald wieder einschlagen sollte, um es in blinder Raserei dem Boden gleichzumachen.
Schon nach wenigen Wochen verwirklichten die Ereignisse seine verzweifeltsten Weissagungen. Gambetta und seine Mitarbeiter luden ihn am 4. September dringend ein, an der einstweiligen Regierung teilzunehmen. Das lehnte er ab, obschon die Einsetzung dieser Regierung in seinen Augen keine Umwälzung war, sondern eine rechtmäßige Vorsorge in einem Augenblicke, wo durch das Verschwinden des Kaiserreiches die oberste Staatsleitung erledigt war. Er bedachte sich denn auch nicht, von der Regierung der Landesverteidigung, in die er nicht hatte eintreten wollen, Sendungen anzunehmen. Er unterhandelte im Oktober mit dem Grafen Bismarck erfolglos wegen eines Waffenstillstandes und machte bald darauf eine seltsame, man möchte sagen romantische Reise nach London, St. Petersburg, Wien und Florenz, um sich über die Gesinnungen der Mächte für Frankreich zu unterrichten, vielleicht ein nützliches Eingreifen zu veranlassen. Überall wurde er mit der größten Achtung und Rücksicht aufgenommen, überall mit verbindlichen Worten abgespeist. Das konnte nicht anders sein und man muß sich nur wundern, daß ein Mann seines Alters, seiner Vergangenheit, seiner Erfahrung sich herbeiließ, einen entweder so verschwommenen oder so aussichtslosen Auftrag zu übernehmen, wie mit fremden Ministern Plauderstündchen abzuhalten oder mit leeren Händen vor sie hinzutreten und sie um Dienste anzugehen, die man in der Weltpolitik nicht gewöhnt ist, aus reiner Gefälligkeit zu erweisen.
Nach Sedan hielt er es für unmöglich, noch eine Frankreich günstige Wendung herbeizuführen, er verlangte laut den Frieden und schalt Gambetta, dessen Zuversicht unerschüttert blieb und der den Krieg bis aufs äußerste predigte, einen Tobsüchtigen. Er hatte den Schmerz, wieder recht zu behalten. Paris übergab sich, Jules Favre unterschrieb einen Waffenstillstand, der bereits die schweren Friedensbedingungen vorschattete, und das Land wählte am 8. Februar 1871 die Nationalversammlung, die im Namen des souveränen Volkes den Frieden schließen sollte. Die Wahlen waren ein hastiger Stegreifvorgang zwischen Trümmern. Die deutschen Truppen hielten die Hälfte Frankreichs besetzt. In 43 Departements gab es keine Postverbindung. Den Wählern blieb keine Zeit, sich die Männer anzusehen, denen sie durch ihre Stimmzettel ihr Vertrauen ausdrückten. Es wurde eine Vertretung bestellt, die fast durchweg aus neuen, unerprobten Männern bestand, aus Provinzlern, »ruraux«, von örtlichem Ansehn, denen man nur einen deutlichen Auftrag mitgab: dem Krieg um jeden Preis ein Ende zu machen. Thiers wurde in 26 Departements gewählt. Es war beinahe ein Plebiszit auf seinen Namen. Die in Bordeaux zusammentretende Versammlung verstand die Stimme des Landes und wählte ihn zum »Oberhaupt der vollziehenden Gewalt der Französischen Republik«. Die Versammlung zählte gegen 450 Monarchisten, 200 Republikaner und etwa 30 Bonapartisten. Vor ihr lag freie Bahn. Gambetta war am 5. Februar von der Regierung zurückgetreten, weil die in Paris zurückgebliebenen Minister seine eigenmächtige Verordnung für ungültig erklärt hatten, welche den Ministern, Senatoren, Staatsräten und offiziellen Kandidaten des Kaiserreichs die Wählbarkeit aberkannte. Frankreich hatte tatsächlich keine Staatsleitung und die Versammlung konnte eine solche nach ihrem Belieben einsetzen. Bei ihrer Zusammensetzung schien es unzweifelhaft, daß sie ohne Zögern den Grafen von Chambord als rechtmäßigen König aus der Verbannung heimberufen würde. Zu diesem Entschluß fehlte ihr jedoch der Mut und die Kraft. Die einen schwankten zwischen dem Enkel Karls X. und dem Ludwig Philipps I., die beide Erbrechte geltend machen konnten, die anderen hielten es für geboten, mit der Aufrichtung des Thrones bis zur Herstellung geordneter Zustände zu warten, denn sie wollten nicht, daß der König seine Herrschaft mit Unterzeichnung eines fürchterlichen Friedensvertrages beginne, der zwei Provinzen preisgebe und in eine fast die Verblutung bedeutende Schätzung einwillige, daß er einen alsbald ausbrechenden Aufstand mit Waffengewalt zu unterdrücken habe, daß er sich aufs neue der Stichelrede aussetze, die seinen Großoheim verfolgt hatte, daß er nämlich in den Gepäckwagen des Feindesheeres nach Frankreich zurückgeführt worden sei. Sie schlössen daher gern mit Thiers den sogenannten Pakt von Bordeaux, in dem sie übereinkamen, die Frage der Regierungsform einstweilen ruhen zu lassen und nur an der Wiederaufrichtung Frankreichs zu arbeiten.
Ob Thiers aufrichtig war, als er den Pakt von Bordeaux einging, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls handelte er, als hätte er seine Unausführbarkeit in der Praxis sofort erkannt. Die Versammlung wollte ihn nur zum »Oberhaupt der vollziehenden Gewalt« wählen. Thiers bestand jedoch darauf, daß hinzugefügt werde: »der Französischen Republik«, und warf der murrenden und sich sperrenden Versammlung in einer peitschenden Rede vor, sie »wage nicht, sich selbst die Regierung einzugestehen, die sie sich doch gegeben habe«. Sie gab widerwillig nach, doch von diesem Tage, dem 17. Februar 1871, ab standen Thiers und die Nationalversammlung einander wie ein Bändiger und ein Rudel Raubtiere gegenüber, die sich vor dem Blick, der Stimme, der Faust des Mannes ducken, jedoch auf den Augenblick lauern, wo sie sich auf ihn stürzen und ihn zerreißen können.
Thiers fand Frankreich in einem Zustand vor, der auch die stärkste Seele entmutigen konnte. Im Lande schaltete der fremde Sieger als Herr, das Heer befand sich ungefähr vollständig in der Gefangenschaft, die Staatskassen waren leer, die Verwaltung so gut wie aufgelöst, Parteiung zerklüftete das Volk, aus Paris hörte man unterirdischen Donner wie von einem Vulkan vor dem Ausbruch und der Süden verriet eine nicht für möglich gehaltene Neigung, die Staatseinheit zu sprengen und sich vom geschichtlichen Frankreich loszureißen. Aber diese furchtbare Lage machte Thiers nicht bange. Er wuchs zu der Größe, die der Augenblick forderte. »Ich habe«, schrieb er später an den Grafen von St. Vallier seinen Vertreter beim Höchstbefehlenden des deutschen Besatzungsheeres in Nancy, von Manteuffel, »meine politische Aufgabe darauf beschränkt, Frankreich wieder einzurichten. Vor allem der Friede; dann die Wiederherstellung der Ordnung, das Gleichgewicht in den Finanzen, die Neuschaffung des Heeres.« Diese Aufgabe war so gewaltig, daß der Mann, der sie nicht nur unerschrocken unternahm, sondern auch unerhört rasch und glücklich löste, zu den höchsten Gestalten aller Zeiten und Länder gezählt werden muß.
Sein erstes war, den Frieden mit Deutschland zu schließen. Er konnte den Vorfrieden am 26. Februar 1871 unterzeichnen. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er sich die schwersten Opfer abgerungen: die Abtretung von Elsaß-Lothringen, von dem er wenigstens Belfort rettete, die Bezahlung von 5 Milliarden, die die ersten Finanzleute Europas für unmöglich erklärten, nachdem er eine sechste abgehandelt hatte, den Einzug des Siegers in Paris, den er immerhin auf einen engen Bezirk die Seine entlang bis zum Louvre einschränken konnte. Er hatte gegen heftiges Mißtrauen Deutschlands zu kämpfen. Graf Bismarck hatte in einem Runderlaß vom 13. September 1870 die Überzeugung ausgedrückt, daß »Frankreich, um seine Niederlage zu rächen, uns wieder angreifen wird, sowie es sich, sei es allein, sei es im Verein mit einem Bundesgenossen, dazu stark genug fühlt.« Thiers war zu klug und schätzte seinen Gegner geistig zu hoch ein, um zu versuchen, ihn mit heuchlerischen Beteuerungen einzulullen. Er sagte dem ersten Botschafter des Kaisers Wilhelm in Paris nach dem Friedensschluß, Grafen Arnim, in einem Gespräch über die künftige Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen: »Wir wollen einen langen Frieden. Doch nach vielen Jahren, wenn Deutschland einmal mit anderen Mächten im Streit liegt, kann Frankreich von ihm Entschädigungen verlangen, damit es seinen Beistand gewinne.« Einem Staatsmanne, der so ehrlich sein Zukunftsprogramm aufdeckte, durfte man trauen.
Während er mit Deutschland mühselig und peinlich verhandelte, zog im Innern ein furchtbares Unwetter herauf. Am 10. März 1871 beriet die Nationalversammlung über die Wegverlegung ihres Sitzes und desjenigen der Regierung von Bordeaux und verwarf grimmig den Gedanken der Rückkehr nach Paris, dem Herde »des organisierten Aufruhrs, der Hauptstadt des Umsturzgedankens, wo sie auf den Pflastersteinen der Barrikaden Platz nehmen müßte«; nach vielem Reden und Schwanken entschied sie sich für Versailles. Paris war über seine Absetzung vom Range der Hauptstadt empört. Es sah vom Pakt von Bordeaux die Republik bedroht. Es empfand den Einzug der deutschen Truppen als eine tödliche Beleidigung. Es befand sich in einer schweren wirtschaftlichen Not. Zwei- bis dreihunderttausend rüstige Männer, seit Monaten jeder Arbeit entwöhnt, hörten plötzlich auf, ihren Soldatensold von anderthalben Franken täglich zu erhalten; die Aufhebung des Moratoriums hatte zwischen dem 13. und 17. März 150 000 Wechselproteste in Paris allein zur Folge. Die Geister waren noch in der krankhaften Verfassung, die ein ausgezeichneter Irrenarzt unbedenklich als eine bestimmte Form der Geistesstörung ansprach und »Belagerungswahnsinn«, »folie obsidionale«, nannte. Der Befehl, der Nationalgarde die Geschütze wegzunehmen, die man ihr zugeteilt hatte, war der Funke, der in den aufgehäuften Sprengstoff schlug. Am 18. März brach der Kommune-Aufstand los, der mit der Ermordung der Generale Lecomte und Clément Thomas begann und in der letzten Maiwoche mit der Einäscherung der herrlichsten Baudenkmäler von Paris, dem Gemetzel der Geiseln, deren die Kommune sich bemächtigt hatte, und der Überschwemmung der Straßen mit einem Blutmeer endete.
Die Nationalversammlung, die Minister, ganz Frankreich verloren den Kopf, nur Thiers behielt den seinen. Er vereinigte die wenigen kläglichen Trümmer der Streitmacht, die ihm in den Händen blieben, zu einem Heere, er verlangte von Deutschland die vorzeitige Befreiung der Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft und ihre schleunigste Rückbeförderung nach Frankreich, er bestellte den Marschall Mac Mahon zum Höchstbefehlenden, nahm aber an der Heeresleitung persönlich teil, hielt mit eiserner Faust in Marseille und Lyon drohende Versuche der Nachahmung des Pariser Beispiels nieder und war die Seele des energischen Angriffs auf die der Anarchie überlieferte Hauptstadt. Er wütete gegen die besiegten Empörer mit einer Grausamkeit, die vielleicht in diesem Maße nicht geboten war. Er widersetzte sich nicht genügend den Rachegelüsten der Nationalversammlung, die das überwundene Paris die Furcht büßen ließ, die es ihr eingejagt hatte. Aber als er am 29. Juni in Longchamps die Truppenschau über ein Heer von 120 000 Mann hielt, das in sechs Wochen einer harten Belagerung und erbitterter Straßenkämpfe, wenn auch gegen Mitbürger, wieder den Kopf hochhalten gelernt hatte, da war er sich bewußt, der Retter des Vaterlandes gewesen zu sein.
Kaum diesem furchtbaren Orkan entronnen, wandte er seine ganze Kraft daran, die fünf Milliarden, das Lösegeld der französischen Niederlagen, aufzubringen. Am 27. Juni schrieb er eine erste Anleihe für 2225 Millionen Franken fünfprozentiger Rente zum Kurse von 82 Franken 50 aus. 331 906 Zeichner boten ihm 4897 Millionen an – vier Wochen nach der Erstürmung des brennenden Paris! Ein Jahr später, am 29. Juli 1872, erfolgte die Ausgabe einer neuen Anleihe zur Vervollständigung der fünf Milliarden, diesmal zum besseren Kurse von 84 Franken 50. Sie wurde von 934 276 Zeichnern dreizehnmal gedeckt, Frankreich und das Ausland boten Thiers 43 Milliarden an. Nörgler haben getadelt, daß er zu teuer geborgt hatte. In der Tat, mit allen Kommissionen und Kosten stellte der Zinsfuß dieser Riesenanleihen sich auf 6,17 v. H. Aber der fabelhafte Erfolg der Operation berauschte Frankreich förmlich, erregte die Bewunderung der Welt, flößte den leitenden Kreisen Deutschlands Staunen und unwillkürliche Achtung ein, richtete das zermalmte Selbstbewußtsein des französischen Volkes wieder auf, offenbarte den Reichtum, die Elastizität, die Zukunftssicherheit Frankreichs, und derartige Ergebnisse waren mit dem hohen Preise der Anleihe nicht zu teuer bezahlt.
Das Gelingen des bis zur Verwegenheit kühnen finanziellen Unternehmens gestattete Frankreich, am 5. September 1873 die letzte Abschlagszahlung auf die Kriegsentschädigung zu leisten. Am 16. September verließ der letzte deutsche Soldat den französischen Boden, ein Jahr früher, als der Friedensvertrag vorgesehen hatte. Thiers hatte nicht nur das Land freigekauft, sondern auch alle sonstigen Kosten des Krieges und des Kommune-Aufstandes, einschließlich der fünf Milliarden rund 15,5 Milliarden, beglichen und im Staatshaushalt durch rücksichtslose Erschwerung der Steuerlast das Gleichgewicht annähernd hergestellt.
Dieses beispiellos schwierige Werk verwirklichte er gegen die härtesten und gefährlichsten Widerstände. Der bedenklichste ging vom Fürsten Bismarck aus, der angesichts der ernsten und eifrigen Arbeit Thiers' an der Erneuerung des französischen Heeres den Verdacht nicht los wurde, daß er einen Rachekrieg plane und vorbereite, und das Pfand nicht vorzeitig aus der Hand geben wollte, das die vom deutschen Heere besetzten französischen Departements darstellten. Es brachte ihn auch gegen Thiers auf, daß er ihn beargwöhnte, durch seine Berliner Vertreter, zuerst Gabriac, dann Gontaut-Biron, mit Hilfe der Kaiserin Augusta und anderer hoher Persönlichkeiten des Hofes unmittelbare Beziehungen zu Kaiser Wilhelm zu suchen und ihn umgehen zu wollen. Er ließ ihn sogar manchmal auch den Ärger entgelten, den sein Pariser Vertreter Arnim ihm mit seinen Ränken und seiner eigenmächtigen französisch-deutschen Politik bereitete. Es gelang Thiers, die Voreingenommenheiten des Fürsten Bismarck allmählich zu entwaffnen.
Weniger glücklich war er mit seinen Feinden in der Nationalversammlung. Sie war zweifellos nur gewählt worden, um den Frieden zu schließen. Hatte sie diese Aufgabe erfüllt, so wäre es ihre Pflicht gewesen, auseinander zu gehen und die Entscheidung über seine weiteren Geschicke in die Hände des französischen Volks zurückzulegen. Sie aber erklärte sich am 30. August 1871 für souverän und berechtigt, dem Lande eine Verfassung zu geben. Die große Mehrheit wollte die Monarchie wiederherstellen. Thiers hielt nur die Republik für möglich. Freilich eine Republik ohne Republikaner, eine Republik, die in eine undurchdringlich dicke Hülle von konservativer Watte eingewickelt ist. In sein erstes Ministerium hatte er die drei sicher genug blassen Republikaner Jules Favre, Jules Simon und General Le Flô berufen, sie jedoch der Reihe nach dem schlechten Willen der Versammlung geopfert. In seiner Botschaft vom 13. November 1872 sagte er: »Jede Regierung muß konservativ sein und keine Gesellschaft könnte unter einer Regierung leben, die es nicht wäre. Die Republik wird konservativ sein oder sie wird überhaupt nicht sein.« Und am 19. desselben Monats fügte er in einer Rede hinzu: »Ich bin ein Monarchist, der die Republik anwendet, weil man eben heute nichts anderes tun kann.« Das alles genügte nicht, um die Versammlung kirre zu machen. Sie verharrte in ihrer feindseligen Haltung gegen Thiers und er konnte sich nur behaupten, indem er immer wieder mit seiner Abdankung drohte. Das war eine richtige Erpressung, die bei jeder Wiederholung schwächer wirkte und schließlich ganz versagte. Die lange drohende Katastrophe trat am 24. Mai 1873 ein. Die Versammlung erklärte ihm aus einem vom Zaun gebrochenen nichtigen Anlaß, daß sie kein Vertrauen zu ihm habe und »eine entschlossen konservative Regierung fordere«, und Thiers trat sofort von der Präsidentschaft zurück, in der er auf Betreiben des Herzogs von Broglie, des Führers der Mehrheit und Urhebers seines Sturzes, durch den Marschall de Mac Mahon, Herzog von Magenta ersetzt wurde. Von diesem verhängnisvollen Tag an wurde der konservative Monarchist Thiers das natürliche Oberhaupt der radikalen Republikaner. Gambetta ließ ihm den Vortritt. Er befolgte seine Ratschläge in dem Kampfe gegen Mac Mahon und Broglie. Der Sieg der Republik über die Verschwörungen und Anschläge der Monarchisten war wesentlich Thiers' Werk, den nur sein plötzlicher Tod am 3. September 1877 hinderte, von neuem als Triumphator in das Elysée einzuziehen. In seinen letzten Jahren waren seine unvergleichlichen Verdienste vom ganzen Volk anerkannt worden. Selbst Paris hatte ihm seine Unerbittlichkeit gegen die Kommunekämpfer verziehen und bereitete ihm das Leichenbegängnis eines Vaters des Vaterlandes.
Seine Überzeugungen und noch mehr deren Wandlungen hatten ihm sein Leben lang viele Angriffe zugezogen, und er sagte später selbst von sich: »Ich bin ein alter Regenschirm, auf den es viel geregnet hat,« aber selbst seine erbittertsten Feinde räumten willig ein, daß sein Leben spiegelblank war. Er war nie interessiert und suchte nie materielle Vorteile. Als die Akademie ihm für seine »Geschichte des Kaiserreichs« ihren großen Preis von 20 000 Franken verlieh, weigerte er sich, auch nur einen Sou dieses Geldes für sich zu behalten, und stiftete für den ganzen Betrag einen Adolphe Thiers-Preis, dessen Zinsen die Akademie jährlich zu verteilen hat. Als während der Kommune die Aufständischen sein Haus niederrissen, konnte man ihn nur mit größter Mühe dazu bewegen, dem Beschluß der Nationalversammlung zuzustimmen, daß sein Heim auf Staatskosten wieder aufgebaut werde. Allerdings wurde ihm diese Selbstlosigkeit dadurch erleichtert, daß er Fräulein Dosne, die Tochter eines Großindustriellen, heiratete, die ihm eine Millionenmitgift zubrachte und ihn zugleich mit ihrer bei ihr wohnenden unverheirateten Schwester bis an ihren Tod wie einen Abgott verehrte.
Nach seiner ersten Begegnung mit Bismarck urteilte dieser, wie wir von Moritz Busch erfahren, daß er etwas sehr redselig sei und sich verblüffen lasse. Bismarck wird wohl in der Folge dieses etwas rasche Urteil berichtigt haben. Er hätte sonst schwerlich dem Botschafter Gontaut-Biron gegenüber Thiers lächelnd »Adolf I.« genannt. Kaiser Wilhelm I. hatte von ihm eine hohe Meinung. Wie Manteuffel St. Vallier erzählte und dieser Thiers berichtete, sagte der Kaiser zum Feldmarschall: »Dieser Mann ist eine wahre Sirene. Er ist so geschickt und so klug, daß mein Geist sich daran gewöhnt, das Wort Republik, das mir bisher ein Greuel war, nicht mehr zu verabscheuen. Wenn er mir seine Unsterblichkeit in der Leitung der Staatsgeschäfte verbürgen könnte, würde er mich zu einem Republikaner machen.«
Er war geistsprühend und scharfsinnig und hatte einen Falkenblick für alles, was innerhalb seines Gesichtskreises lag; nur war dieser Gesichtskreis etwas eng und schloß namentlich wenig Zukunft in sich. Ich habe gezeigt, wie unzulänglich sein Urteil über die Entwicklung des deutschen und italienischen Nationalstaates war. Als in den dreißiger Jahren die ersten Eisenbahnen in Frankreich gebaut werden sollten, verhielt er sich ablehnend und nannte sie »ein Modespielzeug, an das nach wenigen Jahren niemand mehr denken würde«. Er widersetzte sich der Einführung des Hinterladers in die Bewaffnung des französischen Heeres, weil »dieses Gewehr nur zu einer Vergeudung der Munition verleiten würde«. Er bekämpfte als Präsident der Republik mit seinem ganzen Ansehn und Einfluß die allgemeine Wehrpflicht und den preußischen Gedanken des Volks in Waffen, wollte durchaus ein Berufsheer mit siebenjähriger Dienstzeit und konnte nur mit äußerster Anstrengung dahin gebracht werden, daß er sich zur Zulassung einer fünfjährigen Dienstzeit bequemte. Einer Einsicht aber erschloß er sich dennoch: daß Frankreich nur noch republikanisch regiert werden könne.
Thiers war selbstbewußt, doch nicht eitel. Er hatte Ehrgeiz, doch keine Streberei. Seine kleine Schwäche war, sich für einen großen Feldherrn zu halten, weil er für seine Geschichte die Feldzüge Napoleons eingehend studiert, in ihnen gelebt, an ihnen Kritik geübt hatte, und man konnte über ihn lächeln, wenn er während der Erstürmung von Paris auf dem Trocadéro neben Mac Mahon stand und in der Haltung Napoleons, eine Hand hinter dem Rücken, mit der andern das Fernrohr vor das Auge haltend, das Vorgehen der Truppen beobachtete. Wenn aber der kleine Mann vor dem pommerschen Recken Bismarck, dem er etwa bis zur Magengrube reichte, stand und sich gegen ihn behauptete, wenn er der entfesselten Nationalversammlung die Stirne bot, wenn er im Juni 1871 mit tränenumflorten Augen über die Goldeinfassung seiner Brille hinweg auf das an ihm vorüberziehende Heer, seine teuerste Schöpfung, blickte, während sein bartloses Gesicht zu einer römischen Imperatorenmaske erstarrte, dann lächelte niemand, sondern jeder empfand, daß dieser kleine Mann ein Großer war, der Großes gewirkt hatte.