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Das erste Opfer des Krieges von 1914 war der Mann, der ihn am meisten verabscheut und bekämpft, mit der größten Beharrlichkeit zu verhindern gesucht hatte, Jean Jaurès. Am 31. Juli des Schicksalsjahres, nach einem arbeitsreichen Tage, an dem er in einem letzten Artikel seiner »Humanité« mit verzweifelter Anstrengung den furchtbar bedrohten Frieden verteidigt hatte, saß er in einem Gasthaus an der Ecke der Rue Montmartre und der Straße der Zeitungsdruckereien, Rue du Croissant, und schickte sich an, sein Abendbrot einzunehmen. Er hatte an einem Tisch im Saale des Erdgeschosses vor einem offenen Straßenfenster Platz genommen, dem er den Rücken zuwendete. Ein Vorübergehender namens Villain erkannte ihn, zog einen Revolver aus der Tasche und schoß von außen aus nächster Nähe zwei Kugeln auf ihn ab. Beide drangen ihm durch das zerschmetterte Hinterhaupt ins Gehirn und töteten ihn auf der Stelle. Es ist möglich, daß die Waffe des Meuchelmörders eine Tat der Barmherzigkeit getan hat. Jaurès wäre vielleicht über die Zerstörung des Traumes seines ganzen Lebens nicht hinweggekommen. Dieser Traum war die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, die Völkerverbrüderung, die allgemeine Abrüstung, die Herbeiführung einer Ära des Friedens und des fruchtbaren Wetteifers in der Arbeit des sittlichen, geistigen und sachlichen Fortschritts der Menschheit. Alle Praktiker waren überzeugt, daß das ein Hirngespinst war, und die Wirklichkeit hat es ja auch mit einem Griff ihrer gepanzerten Faust zerrissen. Sie zuckten die Achsel über sein Apostolat und fuhren fort, im Krieg das einzige Mittel zur Förderung des Volkswohls zu sehen. Ein überspannter Patriot mit Banditeninstinkten hielt Jaurès für einen Vaterlandsverräter und schoß ihn kurzerhand nieder.
Jaurès war ein Schwärmer, ein Jünger des Jesaias, der das Schwert in eine Pflugschar umschmieden und alle Menschen zu einer Herde unter einem göttlichen Hirten vereinigen wollte. Er ließ es sich nicht zur Warnung gereichen, daß die Lehren des Propheten in Israel seit etwa dritthalbtausend Jahren in die Ohren und Seelen der Menschen dröhnen, ohne die geringste Wirkung auf sie geübt zu haben. Er führte die klägliche Ohnmacht des Wortes der Liebe und Vernunft auf die Verfassung der Gesellschaft zurück und richtete sein Streben darauf, sie von Grund auf umzugestalten. Sein heißes Friedensverlangen machte ihn zum Sozialisten. Wirtschaftliche Gerechtigkeit sollte das Individuum befreien und entwickeln, Organisation das Proletariat zum Bewußtsein seiner Macht, seiner Rechte, seiner Pflichten erwecken, die Erkenntnis der Gemeinsamkeit ihrer Interessen die Arbeiter aller Länder einander nähern, eine neue Auffassung der Menschen-, Bürger- und Völkerrechte eine Politik des persönlichen Ehrgeizes, der Eroberung, der Unterjochung, eine knifflige Geheimdiplomatie gegenseitiger Überlistung und gewalttätiger Erpressung unmöglich machen. Hätte er länger gelebt, die Einsicht wäre ihm nicht erspart geblieben, daß auch der Sozialismus nicht das geeignete Mittel der Erziehung des Menschengeschlechts zum Ideal der Nächstenliebe und Eintracht, zum tausendjährigen Gottesreich des Jesaias ist.
Einen vollkommeneren Gegensatz als den zwischen Faurès und Clemenceau kann man sich schwer vorstellen. Dieser ein Negativer, den die Launen des Lebens auf einen Posten positiver Arbeit gestellt, jener ein Positiver, den die Umstände bis ans Ende in der Opposition, das heißt im Negativen festgehalten haben. Der eine ein finsterer Pessimist, der andere ein zukunftstrunkener Optimist. Der eine ein Menschenverächter, der andere unerschütterlich in seinem Glauben an das Gute und Große im Menschen. Das einzige, was sie außer ihrem ungewöhnlichen Talent des Wortes und der Feder gemein haben, ist ihre tiefe Aufrichtigkeit, die immer die kleinen Künste der Opportunitätspolitik und parlamentarischen Strategie verschmäht hat. Sie folgten nicht der von den Klugen und Gewandten gerühmten »mittleren Linie«, sondern schritten unbeirrbar, mit Verachtung aller Widerstände, in der Richtung fort, welche die Logik ihrer Überzeugungen ihnen vorschrieb.
Jean Léon Jaurès war in Castres 1859 geboren, also 55 Jahre alt, als der Mörder seinem Leben jäh ein Ende machte. Er stammte aus einer angesehenen südfranzösischen Bürgerfamilie, die dem Lande Admirale, hohe Richter, Professoren gegeben hat. Er wuchs in einem Luftkreis von Gläubigkeit und konservativer Gesinnung auf, die auch die seine war, bis er sich durch mühevolle Arbeit an sich selbst über sie erhob. Seine sich früh kundgebende Neigung führte ihn der Universitätslaufbahn zu. Er wurde in die Ecole Normale aufgenommen, beschloß seine Studien mit einer Abhandlung, in der er sich zur spiritualistischen Philosophie bekannte, wirkte zuerst am Gymnasium zu Albi und dann als Professor der Philosophie an der Universität von Toulouse. Er wandte sich früh der Politik zu und wurde 1885, kaum 26 Jahre alt, zum erstenmal in die Kammer gewählt. Hier schloß er sich anfangs der gemäßigten Linken an. Erst allmählich rückte er von diesem ursprünglichen Standpunkt immer weiter links ab, bis er über den Radikalismus beim Sozialismus anlangte. Das ist eine Entwicklung, die der meistens beobachteten entgegengesetzt ist. Normal ist die vom Jugendrausch zur Altersnüchternheit. Ein französischer Staatsmann sagte am Anfang der dritten Republik: »Ich beklage jeden, der mit zwanzig Jahren kein Republikaner, und der es mit fünfzig Jahren noch ist.« Der Neuling tritt mit inbrünstigem Glauben an die Güte, die Weisheit, die unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit der Menschen ins Leben. Dieses macht ihn bald zum Zweifler. Er erkennt, daß die Menschen dumpfe Gewohnheitstiere, denkfaul und beschlußunfähig sind und rettungslos in jeden Unfug abirren, wenn ein fremder Wille sie nicht zur Zucht anhält, eine überlegene Einsicht ihnen nicht gebieterisch den geraden Weg weist. Eine beklagenswerte Folge dieser Erkenntnis ist bei gewöhnlichen Naturen das Schwinden des vielleicht bis zum Opferdrang gesteigerten Gemeinbürgschaftsgefühls und seine Verengung zu verknöcherter Selbstsucht. Wie viele Beispiele dieses Entwicklungsganges weist die Geschichte auf! Der »rote« Becker frohlockt als Jüngling: »Wir färben rot, wir färben gut – Wir färben mit Tyrannenblut!« und landet im Alter der Reife im Lehnstuhl eines erzloyalen Oberbürgermeisters. Miquel, der 1848 Marx brieflich Aufwieglung und Bewaffnung der hannoverschen Bauern anbietet, bringt es weiter, bis zum agrarisch«konservativen königlich preußischen Staatsminister. Der freisinnige Oppositionsmann Emile Ollivier endet in der Haut eines Ministerpräsidenten des Kaiserreichs, der Verschwörer und Umstürzler Crispi in der einer Stütze der savoyischen Monarchie und eines Gesellschaftsretters, der Radikale Disraeli in der eines Grafen von Beaconsfield, Ritters des Hosenbandordens und Neuschöpfers der konservativen Partei. Faurès hatte noch weit näher liegende Beispiele. Von den Genossen am Beginn seiner politischen Laufbahn fanden die Sozialisten Millerand, Briand, Viviani nacheinander den Weg zur Macht und vertauschten ehrbar den Kittel des Barrikadenkämpfers mit dem gestickten Frack der Ministeruniform. Er folgte ihnen nicht. Er entfernte sich immer weiter von dem Bürgertum, in dem er geboren und das seine natürliche Lebensgeschichte war, und wählte mit Bedacht seinen Platz inmitten des Proletariats. Nach vierjährigem Aufenthalt in der Kammer, wo er vorerst wenig hervortrat, unterlag er bei den allgemeinen Wahlen 1889 und nahm vorübergehend wieder seinen Lehrstuhl an der philosophischen Fakultät ein. Er wurde indes bald an die Spitze der äußerst radikalen, doch nicht sozialistischen »Petite Republique« berufen, eine Teilwahl verschaffte ihm 1892 wieder einen Abgeordnetensitz, den er diesmal bereits auf der äußersten Linken auf den Bänken der Sozialistengruppe einnahm, und 1894 gründete er »L'Humanité«, die das amtliche Organ der sozialistischen Partei, der französische »Vorwärts« wurde, ohne freilich auch nur entfernt die wirtschaftliche Entwicklung, den Einfluß und die Verbreitung des deutschen Blattes zu erreichen.
Durch seinen goldechten und gewinnend liebenswürdigen Charakter, seine rednerische Begabung und seine publizistische Stellung wurde er bald das geistige Oberhaupt, oder sagen wir, da diese Partei keine monarchische Spitze duldet, eines der Oberhäupter der Sozialistengruppe. Er hatte nicht den starren Dogmatismus Guesdes, den Witz Marcel Sembats, den gemütlich hemdärmeligen Plebejismus Coutants, den eisigen Fanatismus Vaillants. Er ließ sich in Wort und Haltung nie zu der hahnebüchenen Art herab, die Sprecher in Volksversammlungen und Führer äußerster Parteien annehmen zu müssen glauben. Er war immer der Mann von ausgezeichneter Erziehung und besten Formen, und seine Beredsamkeit behielt immer einen akademischen Charakter. Man konnte nicht verkennen, daß ihn die Lehrkanzel für die Rednerbühne vorgebildet hatte. Das ist kein Fehler in Frankreich, wo, wenn nicht die Partei, doch die parlamentarische Vertretung des Sozialismus zum größten Teil aus Professoren, Rechtsanwälten und Schriftstellern besteht.
Innerhalb seiner Partei vertat er die Evolution gegenüber der Revolution, die ihren Theoretiker in Jules Guesde fand. Seine Rechtgläubigkeit war den Ketzerrichtern der Partei immer verdächtig. Auf den Landeskongressen und in der Parteileitung hatte er dauernd die Gegnerschaft Guesdes und seiner Anhänger zu bekämpfen, und in der letzten Zeit wich er mehr und mehr vor Guesdes Richtung zurück, die sich als die stärkere erwies. Die Entwicklung schien übrigens vor dem Ausbruch des Krieges über Faurès wie über Guesde hinweggehen zu wollen. Die berufsgenossenschaftliche Bewegung bemächtigte sich der Arbeiterschaft und zog sie von der rein sozialistischen ab. Der Syndikalismus, das heißt Proudhons Soziologie der verjüngten Zünfte und ihrer unmittelbaren Erwerbsinteressen, war im Zuge, Marx, d. h. Hegels Mystizismus der Staatsallmacht mit Anwendung auf das Proletariat, zu besiegen. Ob die Entwicklung nach dem Kriege wieder dort einsetzen wird, wo dieser sie angehalten hat, ist eine Frage, die die Zukunft zu beantworten hat.
Während des Dreyfus-Handels setzte Jaurès, nicht ohne harte Anstrengung, es durch, daß die sozialistische Arbeiterschaft in den Kampf für das Recht gegen die klerikal-nationalistischen Verschwörer eintrat. Die Guesdisten verteidigten die Auffassung, daß es sich um einen Familienhader der Bürgerklasse handelte, der kein Interesse des Proletariats berührte, also dieses nichts anging und in den es sich deshalb nicht einzumischen hatte. Jaurès hatte eben nicht das gegen die ganze außenstehende Welt feindlich verschanzte Klassenbewußtsein des Durch-und-durch-Sozialisten, der nichts sehen will, was außerhalb seines absichtlich eingeschränkten Gesichtskreises liegt. Das hinderte nicht, daß er emsig bestrebt war, die Massen in Frankreich zu einer sozialistischen Weltanschauung zu erziehen. Er bediente sich dazu u. a. der Geschichtsdarstellung aus dem Gesichtspunkte seiner Partei. Seine »Sozialistische Geschichte der großen Umwälzung« ist, wie immer man sie als Erzählung wirklicher Ereignisse und als Urteil über Menschen und Handlungen einschätzen mag, ein schriftstellerisches Meisterwerk, das sich nicht selten zur Höhe Micheletscher Rhapsodik erhebt.
Die Logik seiner innigen Friedensliebe machte ihn zu einem Gegner des stehenden Heeres, das er abschaffen und durch Milizen nach Schweizer Muster ersetzen wollte. In diesem Punkte war er bei dem Programm der Demokraten von 1869 stehengeblieben, das seitdem von allen andern französischen Parteien mit Reue, Scham und Abscheu verleugnet worden war. Die Miliz war seine buchstäbliche Auffassung des Begriffs des »Volkes in Waffen«, dem Preußen seine Wiedergeburt nach dem Zusammenbruch von Jena verdankte. Er verhehlte sich nicht, daß Frankreich mit einer wenn auch noch so zahlreichen Herde flintenbewaffneter Bürger keinen Angriffskrieg würde führen können. Aber einen solchen wollte er auch um keinen Preis, und für die Verteidigung glaubte er sein System ausreichend.
Trotz seiner, man kann sagen: leidenschaftlichen Friedfertigkeit – dieses Beiwort, zu diesem Hauptwort gesellt, ist nur scheinbar drollig – wies er den Gedanken eines endgültigen Verzichts auf Elsaß-Lothringen immer weit von sich. Nur erwartete er die Anerkennung der seiner Überzeugung nach unverjährbaren Ansprüche Frankreichs nicht von der Gewalt, die nur neue Gewalt erzeugen und die Kette wilder Bluttaten bis in eine unabsehbare Zukunft verlängern mußte, sondern vom Fortschritt der Gesittung. Er verfolgte den Gedankengang, man müsse daran arbeiten, das Rechtsgefühl im deutschen Volke zu entwickeln und zu verfeinern, so daß es ohne äußeren Zwang, aus seinem eigenen geweckten Gewissen heraus sich zur Achtung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker bekennen und den Bewohnern von Elsaß-Lothringen anheimgeben werde, durch Volksabstimmung zu entscheiden, welchem Staate sie angehören wollen. Er war überzeugt, daß die beharrliche, unentmutigte Anrufung der deutschen Arbeiterschaft, die er als den vorgeschrittensten Teil des deutschen Volkes ansah, schließlich den erwarteten Widerhall in ihrer Seele wecken würde. Er tat, was er konnte, um dieses Ergebnis herbeizuführen. Unbekümmert um die gehässige Ausbeutung dieses Schrittes durch die Nationalisten, ging er nach Deutschland und sprach auf deutsch zu einer nach Tausenden zählenden Versammlung von Deutschen Worte der Versöhnung und Freundschaft. Die deutschen Behörden sahen diesen Annäherungsversuch mit Mißvergnügen, und im Publikum außerhalb der Parteigenossen des Redners belächelte man sein Unternehmen, das sprachlich recht unzulänglich war und politisch als kindlich beurteilt wurde. Niemand wollte die sittliche Bedeutung der Bewegung eines französischen Volksvertreters, eines Parteiführers erkennen und würdigen, der, seine Stellung im eigenen Vaterland in die Schanze schlagend, ruhig in die Mitte des deutschen Volkes trat und die Bruderhand zu ihm ausstreckte.
Die Ereignisse haben sich brutal gegen ihn gewendet. Heute triumphieren seine Feinde, denen alle seine Ideale Narrenspossen, alle seine Lebenswerte Verbrechen sind. Seine Bruderliebe zu allen Völkern brandmarken sie als niederträchtige Vaterlandslosigkeit, seinen Haß gegen den Krieg und die ihn notwendig herbeiführenden Rüstungen als schändlichen Antimilitarismus und Landesverrat, seine Friedensschwärmerei als albernes Schafgeblök. Und wer weiß: wenn er den Krieg erlebt hätte, würde er vielleicht sich selbst zu dieser Anschauung bekannt und in Sack und Asche für seine vorherigen Irrtümer Buße getan haben. Noch mehr: er würde es vielleicht als treuer Sohn seines Volkes für seine Pflicht angesehen haben, in der Stunde der Gefahr zusammen mit seinen Parteigenossen Jules Guesde, Marcel Sembat, Albert Thomas selbst an der Leitung des furchtbarsten Krieges der Weltgeschichte tätigen Anteil zu nehmen. So hat sein tragischer Abschluß die Einheit seines Lebens erhalten.