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Die Geschichte kann das Witzemachen nicht lassen. In einem der kritischsten Augenblicke der dritten Republik mußte just der Mann ihr Präsident werden, der seine politische Laufbahn damit begann, daß er in der Nationalversammlung von 1848, kaum zu ihrem Zweiten Vorsitzenden gewählt, den Antrag stellte, die Präsidentenwürde abzuschaffen und an die Spitze der Regierung ein häufiger Erneuerung zu unterwerfendes Ministerkollegium zu stellen. Beging er eine Folgewidrigkeit, als er 31 Jahre später das Amt annahm, dessen Überflüssigkeit er einst scharfsinnig und überzeugend nachgewiesen hatte? Nein. Denn als Präsident bemühte er sich mit Erfolg, der lebendige Beweis zu sein, wie richtige Ansichten er als Abgeordneter vertreten hatte.
Daß Grévy die Präsidentschaft annahm, war von ihm ein Opfer. Ein helläugiger Beobachter und selbsttäuschungsloser Kenner seines Volkes, wußte er, daß die Franzosen, wie die Frösche der Fabel, noch nicht ohne Oberhaupt sein konnten, und er zog vor, selbst der harmlose Holzpflock zu sein, damit nicht, wenn er diese verdienstliche, doch undankbare Rolle ablehnte, ein bedenkenfreier Storch sie übernahm. Oder sagen wir, wenn man Holzpflock für ein verletzendes Gleichnis halten sollte, Grévy habe sein Amt als ein rein dekoratives aufgefaßt. Er brachte es über sich, seine Persönlichkeit aufzugeben und nur ein Grundsatz zu sein. Er war die Ausgleichung des Widerspruchs, daß eine auf dem allgemeinen Stimmrecht beruhende Republik, also die Leugnung des persönlichen Regiments, an die Spitze ihres Regiments eine mit Willen und Macht ausgerüstete Persönlichkeit setzt. Der 16. Mai 1877 hatte gezeigt, welche Störungen eine derartige Persönlichkeit hervorrufen könne. Grévy wollte im Gegensatz zu seinem Vorgänger Mac Mahon keinen Willen und keine Macht entfalten. Er war wie das Bild auf einer Münze: er trat mit kaum merklicher Erhöhung von der Fläche der verfassungsmäßigen Gewalten hervor; man sieht es, doch man fühlt es nicht. Dieses freiwillige Sichverflachen, dieses Verbergen der individuellen Physiognomie hinter der typischen Maske des obersten Würdenträgers der Republik war das Verdienst und die Bedeutung der Präsidentschaft Grévys.
Jules Grévy, der 1807 geboren war und 1891 starb, war der Sohn von Landleuten und ein Abkömmling eichenfester Jurabauern. Seine Rechtsstudien machte er in Paris. Er kam während der Tage der Juli-Erhebung nach der Hauptstadt und beteiligte sich mit dem Feuer schwärmender Jugend an den Straßenkämpfen. Er schrieb darüber seinem Vater in seinem ersten Brief aus Paris: »Je suis venu à Paris pour faire mon droit et – mon devoir.« »Ich bin nach Paris gekommen, um das Recht zu studieren und meine Pflicht zu tun«; eine kahle Übersetzung, die das hübsche Wortspiel der Ursprache nicht wiedergibt. Nach Beendigung seiner Studien kehrte er in sein Heimatsdepartement zurück und wirkte als vielbeschäftigter Rechtsanwalt, bis ihn nach der Februar-Umwälzung seine Mitbürger in die Nationalversammlung wählten. Hier lenkte er die allgemeine Aufmerksamkeit zuerst durch seinen Zusatzantrag zur Verfassung auf sich, der die Abschaffung der Präsidentenwürde bezweckte. Er ließ sich von der Regierung als Kommissar in den Jura senden, wo er sich tapfer persönlicher Gefahr aussetzte, um Leben und Eigentum der Besitzenden gegen anarchistische Anwandlungen des Pöbels zu verteidigen. Napoleons Staatsstreichsgehilfen urteilten am 2. Dezember 1851, daß Grévy einer der gefährlichen Politiker sei, deren man sich versichern müsse, und er erfuhr die Auszeichnung, wie sein weit berühmterer Kollege Thiers ins Mazas-Gefängnis gesteckt zu werden. Nach diesem Zwischenfall blieb er in Paris und ließ sich in die Anwaltskammer (»le barrau«) aufnehmen. Seine kühle, überlegene Ruhe, seine knappe, sachliche, trocken witzige Beredsamkeit, sein juristischer Scharfsinn brachten ihm rasch im Gerichtspalast eine erste Stellung ein. Es schadete ihm nicht, daß er ein wohlhabender Mann war. Man schätzte sein Vermögen auf eine Million, die er zum kleinem Teil selbst erworben, zum größern geerbt hatte. Die Bauern des französischen Ostens sind vielfach reiche Leute, die für die Erziehung ihrer Kinder jedes Opfer bringen und sie gut ausstatten können. Auch die beiden Brüder des Präsidenten hatten eine Laufbahn, wie sie anderwärts den Söhnen eines einfachen Ackerbürgers kaum beschieden ist: der eine wurde Kommandierender General, der andere Senator und Generalgouverneur von Algerien.
Ehe er in den Elyséepalast einzog, hatte Jules Grévy fünfzehn Jahre lang eine bescheidene Wohnung drei Treppen hoch in der Rue St. Arnaud inne. Er gab sie auch nicht auf, als er zum Präsidenten gewählt wurde, und kehrte in sie zurück, als seine Präsidentschaft ein etwas gewaltsames Ende erreichte. In der höchst einfachen Zimmereinrichtung fiel nur ein Prachtstück auf: eine reizende Marmorgruppe von Carpeaux, zwei spielende halbwüchsige Mädchen darstellend.
Politisch trat er während des Kaiserreichs nicht hervor. Erst 1868 ließ er sich in die gesetzgebende Körperschaft wählen, in der er sich der Opposition anschloß, ohne an den Heftigkeiten Gambettas und Rocheforts teilzunehmen, an Streitbarkeit mit Jules Ferry, an rednerischer Emphase mit Jules Favre wetteifern zu wollen. Nach dem Sturz Napoleons III. in die Nationalversammlung geschickt, wurde ihm allseitig eine führende Rolle in der Minderheit zuerkannt. Der dringenden Empfehlung Thiers' verdankte er seine Wahl zum Ersten Vorsitzenden. Er unterstützte Thiers, doch ohne sich zu ereifern. Er war Republikaner, doch gemäßigt. Er bekämpfte die monarchistische Mehrheit, doch ohne unnötige Herausforderung. Gambetta liebte er nicht. Er war ihm zu heftig. Er hatte gegen ihn das Mißtrauen und die Kälte des gesetzten, allem Überschwang abgeneigten Nordfranzosen gegen den stürmisch brausenden Südfranzosen. Er wurde der natürliche Mittelpunkt der Gruppe, die die Republik, die Demokratie, die fortschrittliche Erneuerung der französischen Staats- und Gesellschaftseinrichtungen wollte, aber nicht in der galoppierenden Gangart, die sie fälschlich Gambetta zutraute.
Im Kampfe gegen den 16. Mai stand er seinen Mann. Den ersten Lohn seiner Festigkeit fand er in der Auszeichnung, nach dem Tode Thiers' von dessen Wahlkreis, dem 9. Pariser Stadtbezirk, als sein Nachfolger in die Kammer gewählt zu werden, die ihn wieder zu ihrem Vorsitzenden ernannte. Er blieb indes auch jetzt bedächtig. Als das Gerücht zu schwirren begann, daß das Ministerium de Rochebouet einen Staatsstreich sinne, trat ein achtzehnmitgliedriger Ausschuß der Republikaner zusammen, um den Widerstand zu organisieren. Gambetta wollte, daß man Mac Mahon und seiner Regierung gegebenenfalls mit den Waffen entgegentrete. Die Mehrheit stimmte ihm zu. Grévy widerriet mit großer Bestimmtheit jeder Gewalttat. Man müsse, sagte er, fest auf dem Boden der Gesetzlichkeit stehen und alle Schuld den Gegnern lassen. Man dürfe den Titel eines Abgeordneten oder Kammervorsitzenden nicht als Waffe im Bürgerkriege gebrauchen. Komme es zum äußersten, so müsse man den Auftrag niederlegen. Als Privatmann habe dann jeder zuzusehen, wie er seine Bürgerpflicht erfülle. Diese Haltung ist bezeichnend für den vorsichtigen Politiker, der auch in Ausnahmelagen nicht aufhört, Jurist zu sein. Nach dem Rücktritt Mac Mahons war Grévy der einzige Bewerber um die Präsidentenwürde, da Gambetta es abgelehnt hatte, sich gegen ihn aufstellen zu lassen. Seine Wahl bildete ein Datum in der Geschichte Frankreichs. Sie bedeutete, daß Frankreich sich endlich offen zum Geiste seiner Verfassung bekannte. Die Feinde der Republik in Frankreich und außerhalb hatten sie nicht ernst genommen, solange ihr Präsident ein Marschall gewesen war. Das klang noch harmonisch mit monarchischen Überlieferungen und Anschauungen zusammen. Sobald es nur ein Soldat ist, der an der Spitze des Reiches steht, kommt es auf seinen Titel nicht an. Ob er nun Podestà oder Doge oder Präsident oder König heißt, das macht für eine etwas höhere Auffassung keinen Unterschied. Die Hauptsache ist, daß der Grundsatz der persönlichen Autorität, des Befehlens und Gehorchens ohne Widerrede zur Geltung besteht und der Untertanrespekt vor dem Säbel und der goldgestickten Uniform gewahrt bleibt. Der Marschall Mac Mahon hatte während seiner Präsidentschaft eine richtige Hofhaltung im Elysée. Er war von drei Adjutanten und etlichen Zeremonienmeistern umgeben, hatte einen Hofkaplan, einen Hausalmosenier, er sprach von »seiner« Armee, »seiner« Regierung, sogar »seinem« Volke. Am 1. Juli 1877 richtete er nach einer Truppenschau in Longchamps an das Heer einen Tagesbefehl, in dem es hieß: »Soldaten! Ihr begreift eure Pflichten, ihr fühlt, daß das Land euch die Hut seiner teuersten Interessen anvertraut hat. Ich zähle auf euch, um sie bei jeder Gelegenheit zu verteidigen. Ich bin sicher, daß ihr mir helfen werdet, den Respekt vor der Autorität und den Gesetzen in der Ausübung der Sendung aufrechtzuerhalten, die mir anvertraut ist und die ich bis zu Ende erfüllen werde.« Ein Selbstherrscher kann kaum anders sprechen. Jeden Augenblick wurden Leute, die von seiner Gottähnlichkeit nicht zu überzeugen waren, wegen Marschallsbeleidigung – man war versucht, »wegen Majestätsbeleidigung« zu sagen – zu schweren Strafen verurteilt, und öffentliche Beamte der Republik beteuerten fortwährend ihre Ergebenheit für die Person des Herrn de Mac Mahon, Herzogs von Magenta und Abkömmlings irischer Könige einer unbestimmten Fabelzeit. Das sah allerdings einer Monarchie zum Verwechseln ähnlich, und die Feinde der Republik hatten recht, zu schmunzeln, wenn von dieser die Rede war. Erst die Wahl Grévys machte der monarchistischen Komödie im Elysée ein Ende. Erst seitdem war die Republik eine wirkliche Republik.
Grévy war ein Bürger in der großen und kleinen Bedeutung des Wortes. Seinen Namen zierte kein »de«, sein Knopfloch kein Endchen bunten Bandes. Er besaß im Augenblick seiner Erwählung keinen einzigen Orden, auch nicht den der Ehrenlegion. Das große Band legte er zum erstenmal am 14. Juli 1880 an, als an das erneuerte Heer die neuen Fahnen verteilt wurden. Auch dann faßte er es als ein unpersönliches Abzeichen auf, das die Würde des Staatsoberhauptes begleitet, ohne an dem Menschen zu haften, und als er ins Privatleben zurücktrat, verzichtete er wieder auf die Farbwirkung des roten Bändchens. Er war Demokrat im Privatleben und blieb Demokrat als Präsident der Republik, das erste Beispiel seit 1793. Lamartine war seinen Neigungen und seiner Abstammung nach Aristokrat, ebenso Cavaignac, dessen Soldatennatur die Demokratie ausschloß. Thiers war in seinem Gefühl Monarchist, vieljähriger Diener und Freund eines Königs, verliebt in Hofzeremoniell, Kenner und sorgfältiger Beobachter jeder Etikette; es war einer der schönsten Tage seines Lebens, als er das spanische Goldene Vlies erhielt, und wenn er von dem Baronstitel, den ihm König Ludwig Philipp beschert hatte, keinen Gebrauch machte, so war es wohl, weil ihm dieser Adelsrang nicht hoch genug schien, um mit ihm Staat zu machen. Grévy aber war ein wirklicher und überzeugter »égalitaire«; es hätte ihm nichts gemacht, »Bürger Präsident« angeredet zu werden, und er tat, was an ihm lag, um aus dem vornehmen Elyséepalast ein europäisches Seitenstück des Weißen Hauses von Washington zu machen.
Grévy war gewöhnlich ernst und schweigsam, er besaß jedoch die Gabe treffender epigrammatischer Bemerkungen. Als Regierungskommissar im Jura führte er sich 1848 mit der Erklärung ein: »Ich will nicht, daß die Republik Furcht einjage.« An Napoleons Plebiszit nach dem Staatsstreich übte er diese Kritik: »Die Antwort, die man vom Volk verlangt, ist ein Befehl, den man ihm erteilt.« Im Mai 1877 ließ er einmal eine außerordentliche Sitzung der Kammer einberufen. Der Vorsteher der Hausbeamten fragte ihn, ob die Einberufung im Amtsblatt veröffentlicht werden oder eine persönliche für jeden einzelnen Abgeordneten sein solle. »Sie soll persönlich sein, wie die gegenwärtige Regierung,« war seine Antwort.
Seine Erscheinung war eindrucksvoll. Er war groß, stark, breitschultrig, der Typus jenes tüchtigen ostfranzösischen Menschenschlags, in dem das fränkische und burgundische Blut vor dem gallischen weit vorwiegt. Sein geräumiger Schädel war kahl, Oberlippe und Kinn trug er rasiert, das kräftige, verschlossene Gesicht war von weißen starken »Favoris« eingerahmt, die korrekte Rechtsanwaltsmaske aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sein Mund hatte gewöhnlich einen etwas harten Zug, war jedoch eines gewinnenden Lächelns fähig. Fürst Hohenlohe hat in seinem Tagebuch unfreundlich von ihm gesprochen. Er sagt ihm nach, er habe sich mit dem Finger in der Nase gebohrt, während der deutsche Botschafter mit ihm plauderte. Fürst Hohenlohe hat da eine Flüchtigkeit begangen. Grévy hatte die Gewohnheit, sich, wenn er aufmerksam zuhörte, den rechten Zeigefinger an die Nase zu legen und sie mit dem Daumen zu streicheln. Diese vielleicht nicht gerade elegante, doch nicht anstößige Bewegung hat Fürst Chlodwig bedauerlich mißdeutet.
Der bonapartistische Abgeordnete Mitchell sagte von Grévy im Dezember 1877, als zuerst davon die Rede war, ihn zum Nachfolger des sich mit Rücktrittsgedanken tragenden Mac Mahon zu machen: »Ich habe Angst vor diesem Menschen. Er hat kein galantes Verhältnis, man hat ihn nie eine Karte anrühren sehen, und er trinkt weder Wein noch Likör. Ein unheimlicher Mensch!« Die Tatsachen waren richtig. Er verabscheute die Karten, und man kannte keine Frau, der er den Hof gemacht hätte. Das Schlimmste, was der Wandelgangklatsch ihm aufmutzte, war, daß er als Kammervorsitzender mit schönen und eleganten Galeriebesucherinnen gern liebäugelte, es bis zum Austausch pikanter Briefchen kommen ließ und sich mitunter so sehr in ein anziehendes Lärvchen vergaffte, daß er der Verhandlung nicht folgte, Ungehörigkeiten ohne Rüge durchgehen ließ und in seiner Unaufmerksamkeit gelegentlich wohl auch einen Bock schoß, was bei einem hohen Sechziger eine merkwürdige Empfänglichkeit für Frauenreiz bezeugte. Er war ein ausgezeichneter Schachspieler und ließ auch als Präsident einen langjährigen bescheidenen Partner ein- bis zweimal wöchentlich ins Elysée kommen, wo er die Ehre hatte, das Staatsoberhaupt matt zu machen, wenn er nicht den Höflingstakt hatte, sich von ihm matt machen zu lassen. Seine Enthaltung von allen geistigen Getränken machte Grevy durch eine wahre Leidenschaft für Kaffee wett. Um sich seines Lieblingsgetränks stets in gleicher Vorzüglichkeit zu erfreuen, bereitete er es sich in der Regel selbst. Man erzählte sich in diesem Zusammenhang eine drollige Anekdote von ihm. Er war einmal von dem Abgeordneten Menier mit seinem Freunde Bethmont zu einer Jagdpartie geladen. Die beiden Gäste verirrten sich im Wald und gerieten auf der Suche nach dem rechten Wege in ein einsames Wirtshaus. Sie waren müd und durstig und verlangten zu trinken. Bethmont war mit dem vorhandenen Krätzer gedient, Grévy, der den Wein verabscheute, wünschte Kaffee. Zum Staunen seines Freundes wandte er sich an den Wirt mit der Frage: »Haben Sie Zichorie?« »Gewiß, mein Herr.« »Bringen Sie mir sie.« Der Wirt ging und kam mit einem Röllchen Zichorie wieder. »Haben Sie noch?« »Ein klein wenig.« »Bringen Sie mir auch das.« Der Wirt entfernte sich wieder und brachte diesmal nur ein halbes Röllchen, nicht ohne seinen Gast verwundert anzusehen. »Ist das alles?« »Ja. Mehr habe ich nicht.« »Schön. Nun gehen Sie und bereiten Sie mir eine Tasse Kaffee.« Bethmont und der Wirt lachten herzlich, und Grévy hatte das Kunststück vollbracht, von einem Bauerwirt Kaffee ohne Zichorie zu erlangen. Seine einfachen Gewohnheiten gestatteten ihm eine weise Sparsamkeit. Da er auch im Elysée nicht viel anders lebte als in seinem dritten Stock der Rue St. Arnaud, legte er ungefähr sein ganzes Präsidentengehalt auf die hohe Kante, und die bösen Zungen rechneten ihm nach, daß er sich von 1879 ab jährlich für eine Million Pariser Häuser kaufte. Sein Bauerinstinkt mißtraute jedem Papier und beruhigte sich nur mit einer sichern Anlage in Grundbesitz.
Es ist tragikomisch, daß dieses Vorbild ehrbar biedermännischen Bürgertums und kleiner negativer Mittelstandstugenden gerade von einem Aufruhr des empörten Sittlichkeitsgefühls weggefegt werden sollte. Grévy war nach Ablauf seiner ersten siebenjährigen Amtsdauer 1886 wiedergewählt worden. Seine tadellose Handhabung der Präsidentengewalt, seine absichtliche Farblosigkeit hatten ihm alle republikanischen Parteien gewonnen. Im Ministerrat, dem er vorsaß, beschränkte er sich darauf, die Beschlüsse der Kabinettsmehrheit zusammenzufassen, wie ein Richter den Wahlspruch der Geschworenen verkündet, ohne seine eigene Meinung durchschimmern zu lassen. Er lehrte, im Präsidenten der Republik nichts zu sehen als den Schlußstein der verfassungsmäßigen Gewalten, der sich jeder tätigen Eigenbewegung enthalten muß, soll er nicht das Gewölbe erschüttern, dessen Halt und Siegel er sein muß. Das Unheil, das über ihn hereinbrach, ging denn auch nicht von ihm aus und war nicht von ihm verschuldet.
Er hatte 1881 seine einzige Tochter Alice mit dem Abgeordneten Daniel Wilson, damals einem einundvierzigjährigen ehrgeizigen Politiker, dem Schloßherrn von Chenonceau, verheiratet. Er wollte sich von seinem Kinde nicht trennen – diese Vaterzärtlichkeit vervollständigt sein anheimelndes Charakterbild – und ließ das Ehepaar bei sich im Elyséepalast wohnen. Wilson strebte nach hohen Zielen. Er wollte Parteiführer, Regierungsmitglied, Ministerpräsident werden und gedachte taktlos das Ansehen seines Schwiegervaters in den Dienst seiner Pläne zu stellen. Er gründete ein Tageblatt, »La petite France,« und wollte es gleichzeitig in verschiedenen Provinzausgaben erscheinen lassen. In seinem Organ bekämpfte er besonders Gambetta und nach dessen Tode seine Partei, die »Republikanische Vereinigung«. Diese vergalt Hieb mit Hieb. Sie erhob heftigen Einspruch dagegen, daß Wilsons Blatt unter dem Dach des Elyséepalastes redigiert wurde, wodurch es in den Augen der Menge den Anschein gewann, die Eingebungen des Präsidenten zu verbreiten, und ihn aus seiner Stellung über den Parteien mitten in ihren Kampf hineinstieß. Sie entdeckte, daß Wilson das dem Präsidenten allein zustehende Recht unentgeltlicher Briefbeförderung für sich benutzte und seine ganze Post unfrankiert versendete; ferner, daß er von einem Großkaufmann in Hâvre für seine Zeitungsunternehmungen 100 000 Franken bekommen hatte, wofür er ihm das Bündchen der Ehrenlegion verschaffte. Die mißbräuchliche Benutzung der Postfreiheit war ein läßliches Vergehen, das überall, wo diese Freiheit für die Parlamentarier besteht – wie früher in England und jetzt in Spanien – gang und gäbe ist und ohne Bemerkung geduldet wird. Die Verleihung von Orden und Titeln an unbescholtene Männer als Belohnung für Geldopfer zu Parteizwecken ist in England, um nur ein Land anzuführen, eine offen geübte Methode, an der niemand Anstoß nimmt. Wilson aber war der Sohn eines Engländers und hatte von seinem Vater englische Anschauungen überkommen. Seine Gegner jedoch erhoben ein wütendes Geschrei über Betrug, Hinterziehung, Ordensschacher, Bestechung, die Feinde der Republik wiederholten mit überschwenglicher Schadenfreude diese Anklagen und verallgemeinerten sie zur Beschuldigung tiefer Verderbnis der Republik, der Sturm tobte um das Elysée und hüllte auch Grévy in seine Wirbel. Die Kammer forderte in einer Tagesordnung seinen Rücktritt. In einer vorbildlich würdigen Botschaft ermahnte er sie, sich nicht von einer unüberlegten Laune hinreißen zu lassen und nicht das Beispiel einer leichtblütigen Mißachtung der Verfassung zu geben. Sie beharrte bei ihrem Beschluß, in Dauersitzung versammelt zu bleiben, bis der Präsident ihr seine Abdankung übermittelt haben würde. Grévy war damals, 1887, achtzig Jahre alt. Er wollte nichts mehr als Ruhe. Zum Kampf gegen die Kammer, vielleicht zu ihrer Auflösung und zur Anrufung des Landes gegen sie, hatte er weder den Willen noch die Kraft. Er warf also sein Amt hin, verließ das Elysée, zog still wieder in seine Rue St. Arnaud, die inzwischen ihren Namen geändert hatte, und lebte dann noch vier Jahre lang in strenger Zurückgezogenheit als ironischer Zuschauer der weitern Entwicklung der Dinge. Er sah noch den Boulangismus und den Panamaskandal, die ihn an den Catonen rächten, von denen er im Namen der gekränkten Tugend geopfert worden war. Genugtuung empfand er jedoch darüber nicht, denn er war seinem Vaterland innig ergeben und litt unter jeder Schmähung von dessen gutem Ruf mehr als unter der seines eigenen.