Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Fünfundzwanzigster Abschnitt

Fröhliches Unglück und trauriges Glück

Anselm ging nun zu Fuße nach Emmerich. Durch das Postgeld für seinen Koffer aus Amsterdam war seine Barschaft ziemlich erschöpft. Er suchte eine wohlfeile Schlafstelle und fand sie endlich in einem abgelegenen Gäßchen. Hier sann er über seinen trostlosen Zustand nach. Er hätte jetzt gern die Praxis der Arzneiwissenschaft auch bei den geringsten Leuten angefangen, aber das in den preußischen Landen geltende Gesetz, daß ein Arzt in der Hauptstadt erst einen anatomischen Kursus machen mußte, legte ihm unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg. Er konnte gar keine andere Aussicht finden, sein letzter Stüber war aufgezehrt. Er hatte hier nicht zu leben und auch kein Geld zur Reise. Er ward täglich tiefsinniger und geriet beinahe in völlige Schwermut.

In diesem traurigen Zustande ließ ihn aber sein Wirt nicht lange. Dies war ein Musikant, der alle Sonntage, und wann Hochzeiten oder Kirchweihen vorfielen auch an Wochentagen, die Beine der umliegenden Dorfschaften in Bewegung brachte; ein lustiger Kerl, der wöchentlich ungefähr verzehrte, was er verdiente, nicht eben für die Zukunft sorgte und immer zufrieden war. Dieser predigte seinem trostlosen Hausgenossen den Satz: Man müsse nie verzagen, aber auch jederzeit sich in seine Lage schicken. Anselm, mit einem Seufzer über seinen vorigen glücklichen Zustand, versprach, sich gern in alles zu schicken, aber, setzte er hinzu, er müsse wohl verzagen, weil er gar keine Aussicht habe. Indem entdeckte der Hauswirt im Gespräche, daß unser dicker Mann ein wenig auf der Violine spielen konnte, und sogleich tat er ihm den Vorschlag, sich zu der Musikantenbande zu gesellen. Anselm stutzte; aber es war nicht auszuschlagen. Er fand, das geringste praktische Talent könne zuweilen nützlich sein. Sein bißchen Musik diente ihm doch zu etwas, da ihn sogar seine so gründliche theoretische Philosophie verließ.

Es ward unserm dicken Manne, wie es dem jüngsten Musikanten gehört, eine Baßgeige an einem ledernen Bande über die Schulter gehangen; und so wanderten sie von Dorfe zu Dorfe. Sein voriger Zustand fiel ihm oft bitter in die Gedanken. Aber sein Hauswirt wiederholte ihm so oft, man müsse sich in das schicken, was nicht zu ändern ist, daß diese Lehre endlich Frucht zu bringen begann. Der heitere Anblick des gesegneten Landes, die rohe Fröhlichkeit, die er mit erregen half, und die sorgenlose Zufriedenheit seiner Kameraden wirkten nach und nach auf ihn. In diesem niedrigen Zustande vermochte er es zum erstenmale über sich, genügsam zu sein und ein unvermeidliches Schicksal geruhig zu ertragen; und so verlebte er, durch Zufriedenheit bei sehr geringem Auskommen, frohere Stunden, als er selbst je für möglich gehalten hätte.

Mit dem Frohsinne unsers dicken Mannes erwachte aber auch wieder seine lebhafte Einbildungskraft; und diese, die ihm schon so manche schlimmen Streiche gespielt hatte, unterbrach den Frohsinn, durch den sie selbst war erweckt worden. Anselm konnte nichts ruhig betrachten. Er sah täglich die muntern klevischen Bauerndirnen um sich hertanzen, eben nicht schön, aber gesund, froh und anstellig. Dies brachte ihm wieder die Bilder aller hübschen Mädchen vor, die er gesehen hatte. Hierauf stellte sich ihm das Bild Sophiens, der ersten Gespielin seiner Jugend, lebhaft dar. Er rief die Jahre jugendlicher schuldloser Zuneigung in Gedanken zurück. Jetzt sah er ein, wie glücklich er durch sie hätte werden können, wenn er damals nicht törichter Weise vergängliche äußere Schönheit wahrem innern Werte vorgezogen hätte. Seine Reue ward um desto bitterer, wenn er bedachte, daß er auch sie vermutlich unglücklich gemacht habe; denn ihm war wohl bewußt, daß ihr Mann, ein trockner ungebildeter Kaufmann, nur für Geld und dessen Erwerbung Sinn hatte. Dies faßte ihn schrecklich. Er verwünschte seine Undankbarkeit und fing an, sich als einen verworfenen Menschen zu betrachten, der Ursache geworden, das Leben der edelsten Seele zu verbittern. Dieser Gedanke vergällte ihm selbst die kleinen Freuden seines niedrigen Standes. Unglücklicher Weise hatte er auf der Hochzeit eines ungleichen Paares mit aufzuwarten. Die Niedergeschlagenheit der Braut stellte ihm Sophiens Zustand lebhaft vor. Er geriet darüber abermals in Traurigkeit, vergaß seinen guten Spruch: daß man sich in seine Lage schicken müsse, schwor, nie eine Hochzeit wieder zu sehen, und trennte sich ohne weitere Überlegung von seiner musikalischen Gesellschaft, ob er gleich gar keine andere Aussicht hatte.

Sein Hauswirt, der solche feinen Empfindungen nicht fassen konnte, schalt ihn einen Narren. Weil er aber meinte, man müsse auch allenfalls einem Narren forthelfen, so verließ er ihn nicht ganz. Anselm hatte in seiner Jugend eine gute Hand schreiben lernen. Durch diese von ihm sonst verachtete Geschicklichkeit hatte er schon hin und wieder als Abschreiber etwas verdient. Sein Wirt verschaffte ihm in den Häusern einiger Bürger Stunden zum Unterrichte im Schreiben und Rechnen. Er bekam sogar in einer der dortigen kleinen Manufakturen von leichten Zeugen, die Bücher zu führen. Hierdurch nährte er sich, freilich sehr dürftig; doch hatte er Gelegenheit die wichtige Lehre, sich in seine Lage zu schicken, recht praktisch zu üben. Er tat es und entsagte noch einmal den Bildern seiner Einbildungskraft und seinen Plänen. Nur das Andenken an seine Sophie war zu lebhaft geworden, als daß es ausgetilgt werden konnte, und es gewährte ihm oft in einsamen Stunden ein obgleich mit Wehmut vermischtes Vergnügen.

Es lebte damals in der Nachbarschaft, und lebt vielleicht noch, eine Originalfamilie von zwei einzelnen Leuten: Bruder und Schwester, nebst sechs Katzen, die ganz notwendig zur Familie gehörten. Der Bruder, Meister Ulrich Derb, war ein Lohgerber, ein gesunder und reicher Mann, und was noch mehr ist, ein Dichter, der alle gereimten Dichtungsarten, vom Alexandriner bis zur vierzeiligen Strophe, versucht hatte. Seine Schwester, Jungfer Ursula Derb, damals in ihrem einundvierzigsten Jahre, war ziemlich hager und langnasig, hatte etwas dürre Wangen und Hände und liebte außer ihrem Bruder, dem sie durch öfteres zänkisches Zurechtweisen ihre Liebe bezeugte, nichts als sich selbst, ihre Katzen und ihre Verse; denn auch sie war eine Dichterin. Aber sie machte bloß Hexameter, indem sie, selbst sehr feierlich, nur fürs Feierliche Sinn hatte. Ihre Gedichte handelten hauptsächlich vom Tode, von der Unsterblichkeit der Seele und von der künftigen Welt. Von der jetzigen Welt hielt sie nicht viel, welches ihr die jetzige Welt auch reichlich erwiderte. Sie war sehr ernsthaft und keusch, daher kamen verliebte Gedanken nie in ihren Sinn. Auch von Geselligkeit hielt sie wenig; denn sie fand in Emmerich niemand ihrer Gesellschaft wert, lebte also bloß sich selbst, ihren hohen Gedanken und ihren Katzen. Nur alsdann ward sie etwas human, wenn jemand sich ihre Verse wollte vorlesen lassen, welches Vergnügen sie aber selten genießen konnte. Da sie nun, ein wenig Schnarren ausgenommen, wegen des hohlen Tons ihrer Stimme ein großes Talent zur Deklamation besaß, so brachte sie täglich ein paar Stunden zu, ihre Verse und ihres Bruders Reime ihren Katzen vorzudeklamieren.

Diese poetische Familie hatte eine Tugend, die nicht allen Dichtern eigen ist: sie ließ ihre Gedichte nicht drucken, sondern widmete dieselben nur sich selbst und ein paar auserlesenen Seelen. Indes wollte Jungfer Ursula doch für die Nachwelt sorgen. Sie hatte ihre eigenen Gedichte in einer gewissen Ordnung gesammelt und wünschte, sie nun ins Reine geschrieben zu sehen. Zu diesem Behufe warf sie ihre Augen auf unsern Anselm, von dem seine schöne Handschrift, und daß er eine Art von Gelehrten sei, endlich in der Stadt ziemlich war bekannt geworden. Jedoch wollte sie, da ihr Naturell sie zu einigem Mißtrauen stimmte, ihn erst probieren. Sie las ihm einige Gedichte vor. Er war schon genugsam gedemütigt, um mit Klugheit zu schweigen. Sie ließ ihn auch ihr ein paar Gedichte vorlesen und war mit seinem Vortrage zufrieden, weil er sie, wie sie sagte verstände. Nun ging er an das große Werk, die Gedichte abzuschreiben, auf dem schönsten großen Papiere, welches die erhabene Ursula eigenhändig mit rosenroter Seide zusammenheftete. Seine deutliche Handschrift fand den Beifall der Dichterin, zumal da er den Gedichten noch unvermerkt die zufällige Zierde einer richtigen Orthographie gab. Er arbeitete an dieser Abschrift täglich einige Stunden in dem Hause und unter der unmittelbaren Aufsicht der Jungfer Ursula, welche ihre Gedichte unter keiner Bedingung fremden Händen würde anvertraut haben. Je mehr die Abschrift fortrückte, je mehr ward die Dichterin entzückt, die Kinder ihres Geistes in so schöner Gestalt zu erblicken. Sie hatte eine Vorsicht gebraucht, an welche nicht alle Dichter denken, nämlich ihre schönsten Sachen in die letzten Bände zu sparen, damit jeder Band am Werte zunähme. Als daher unser dicker Mann anfing, unter ihren Augen das siebente Rieß Papier zu beschreiben, gefielen ihr selbst die Gedichte so außerordentlich wohl, daß sie ihm oft das Papier aus der Hand nahm, um ihm ihre Gedichte mit lauter Stimme vorzulesen. Er war klug genug, nicht nur zu schweigen, sondern auch zuweilen ihr Beifall zuzulächeln, zuweilen sie mit Worten zu loben. Dies gefiel ihr sehr wohl; denn sie hatte seit langer Zeit nicht so angenehme Stunden genossen. Sie fing nun an, unserm dicken Manne viel freundlicher als sonst zu begegnen; und da er auch vor ihren Katzen Gnade fand, welche während ihres Deklamierens auf seinen Schoß sprangen und sich von ihm streicheln ließen, so ward ihr Herz erweicht; und die Freude über die schön geschriebene Sammlung ihrer Gedichte, wovon der Buchbinder ihr einen Band nach dem andern prächtig gebunden mit vergoldetem Schnitte vorlegte, gab dieser erhabenen Verfasserin eine Munterkeit, die man sonst an ihr nie war gewahr geworden. Unser Anselm hingegen ward alle Tage nachsinnender und trauriger. Entweder mochten ihm die vielen hochtönenden Hexameter der Jungfer Ursula eine Indigestion des Geistes zugezogen haben, oder vielmehr erregte die jetzt immer lebhafter werdende Reue, durch seinen ehemaligen Leichtsinn Sophien verloren zu haben, in ihm sehr schwermütige Gedanken.

Eines Tages, als er sich nichts Arges versah und eben bei der Jungfer Ursula eintreten wollte, um in dem Tagwerke seines Abschreibens fortzufahren, nötigte ihn Meister Derb in seine Stube, und nach einem kurzen Eingange trug er ihm seine Schwester, auf Verlangen derselben, zur Ehehälfte an. Unser guter dicker Mann stutzte ein wenig; denn der Vorschlag kam ihm ganz unerwartet. Seine Einbildungskraft war immer angespannt, wenn er nicht unmittelbar in Verlegenheit war. Durch Empfindung des Unglücks oder unangenehmer sinnlicher Eindrücke, die er Unglück nannte, ward sie gleich abgespannt, weil er unmittelbar unangenehme Empfindungen nicht vertragen mochte; in dieser Abspannung konnten einige ruhige Gedanken oder gute Entschlüsse Raum finden, wodurch er sich dann einbildete, in ein philosophisches Gleichgewicht des Geistes gekommen zu sein. Kaum aber waren seine unmittelbar unangenehmen Empfindungen ausgelöscht, so war das Gleichgewicht verloren. Seine angespannten Ideen kamen wieder; er brütete darüber, und fand sich glücklich darin. Er hatte die vergangene Nacht schlaflos zugebracht in Gedanken an Sophiens Schicksal, das er für unglücklich halten mußte. Er hatte sich selbst als die Ursache davon verwünscht, und in dieser Selbsterkenntnis eine traurige Zufriedenheit mit sich empfunden. Schnell fiel ihm jetzt ein, sich selbst dafür, daß er ehemals Sophiens Hand verschmäht hatte, zu strafen, indem er die Hand der Jungfer Ursula annähme. Diese Gesinnung schien ihm so edel, daß er sogleich, nach ganz kurzem Bedenken, Ja! sagte und in wenigen Tagen mit der langnasigen Poetin verbunden ward.

Schwer war freilich die Prüfung, die er sich auferlegte. Wäre er nicht ein so ausgemachter Feind aller geheimen Philosophien gewesen, so hätte er aus der Chiromantie des Johann Baptist Porta lernen können, wie gefährlich eine alte Jungfer ist, die in der rechten Hand eine lange Tischlinie hat und mehr als eine Katze hält. Er fand nach wenigen Wochen, daß er sich allzuhart gestraft hatte. Den ganzen Tag sausete sein Kopf von den Reimen seines Schwagers, die wie Schellen in seine Ohren klingelten, und von den reimfreien Versen seiner Frau, die, wie Virgils Pferd mit vierfüßigem Schalle das mürbe Land, seine Ohren mit fünf- und sechsfüßigem Laute mürbe stampften. Dazu hatte er noch seiner hagern Poetin beständige Aussichten in die Ewigkeit zu ertragen, ohne die geringste Aussicht, daß sie selbst dorthin übergehen möchte. Schleppende Reime, hinkende Hexameter und springende Katzen waren seine tägliche Gesellschaft. Dabei hörte er immerfort kreischende Deklamation von Hexametern, die ihm wie Zank in die Ohren gellte. Und auch der wirkliche Zank seiner lieben Ehehälfte ward im höchsten Tone der Deklamation herausgewürgt; denn diese erhabene Dichterin verlor niemals ihren feierlichen Anstand, selbst alsdann nicht, wenn sie in die größte Heftigkeit geriet.

Glücklich war es für unsern armen dicken Mann, daß die Person, durch deren Verbindung er sich wegen des Leichtsinns seiner Jugend hatte strafen wollen, eine Bürgerin der preußischen Staaten war. In jedem andern Lande hätte sie ihn totzanken und totdeklamieren dürfen. Hier aber konnte er durch eine gänzliche Scheidung wenigstens sein Leben erhalten. In Ländern, wo der Tridentinische Kirchenrat gilt und die Unauflöslichkeit der Ehen nach den Begriffen eheloser Priester abgemessen wird, würde man ihn höchstens vom Tische und Bette geschieden haben. Dies hätte ihm wenig geholfen; denn er hatte sich schon selbst davon geschieden, weil es in beiden nicht auszuhalten war. Sogar die Gardinenpredigten seiner Ursula hatten den Ton hoher pindarischer Oden und rollten, wie ein uferüberströmender Fluß, aus tiefem Gaumen mit unaufhaltbarem Sturze daher.

Glücklicher Weise hatte seine freiwillige Trennung der Frau Ursula Mißvergnügen aufs höchste gebracht. Als er daher auf die Ehescheidung klagte, willigte sie sogleich ein, und er ward erlöset.


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