Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Vierter Abschnitt

Schulweisheit, Examen, Gespräch übers Latein

Anselmino war nach und nach beinahe vierzehn Jahre alt geworden und Sophiechen beinahe zehn Jahre. Sie gefielen sich wechselseitig täglich mehr und fingen an, ungeduldig zu werden, wenn sie nicht beständig beieinander sein konnten. Wie aber überhaupt die Ordnung der Dinge in der Welt gemeiniglich nicht so zu gehen pflegt, wie sie die Verliebten gerne haben möchten, so ereignete sich ein Umstand, an den sie gar nicht dachten und der doch Ursache war, sie auf eine ziemliche Zeit zu trennen.

Die lateinische Schule hatte nun an unserem Anselmino geformt, was durch sie zu formen war. Er hatte konstruiert, exponiert, analysiert, Phrases ausgezogen, lateinische Reden gehalten und lateinische Verse gemacht. Er hatte sogar etwas von den römischen Altertümern gelernt und wußte, wie die Konsuln und die Ädilen in Rom waren gewählt worden. Freilich wußte er nicht, wie die Generalstaaten gewählt werden, auch nicht, ob sie in Vaals etwas zu befehlen hätten. Denn, warum sollten in gelehrten Schulen Kinder mit der Verfassung des Vaterlandes bekannt gemacht werden, da diese zu wissen keine Gelehrsamkeit ist? Dagegen hatte Anselmino einen guten Begriff von den Sätzen der Dordrechtschen Synode; sogar, daß er schon mit katholischen Seminaristen aus dem Konvente der Stiftsherren des heiligen Grabes zu Schlenaken, die in der Vakanzzeit nach Vaals kamen, über die Religion disputiert und, weil sie älter und stärker waren, von ihnen Ohrfeigen bekommen hatte. Er war nun der Erste in der Schule, und der alte Kandidat erklärte, daß er ihn weiter nichts lehren könne, er möchte denn etwa mit dem Knaben, ehe dieser nach der Universität ginge, des Ruarus Andala Logik durchnehmen, wovon er sich selbst noch etwas erinnerte. Er schlug daher vor, unser dickes Männchen von gelehrten Leuten examinieren zu lassen, damit die Eltern sehen sollten, wie geschickt der Knabe sei. Es wurden also einige holländische Domine aus der Nachbarschaft zusammengebeten, und, nachdem sie gut zu Mittage gegessen hatten, ward Anselmino examiniert. Er exponierte, analysierte und perorierte ohne Anstoß, beantwortete im besten Schullateine alle Fragen aus Braunii Theologia didactica; und alle Examinatoren sagten einstimmig, nie habe noch ein Knabe von so zartem Alter so gelehrte Antworten gegeben; aber alle waren auch darin einstimmig, er sei noch allzu jung, um auf die Universität zu gehen.

Die kleine Sophie erschrak zwar vor dem vielen Lateine, weinte aber doch vor Freuden, daß ihr Anselm so gelobt wurde. Anselmino war bei der ganzen Sache ziemlich unbefangen und gleichgültig gewesen, weil man ihn lauter Dinge fragte, die er vermöge seines guten Gedächtnisses auswendig wußte. Nun aber fing ihm das Examen an, merkwürdig zu werden, da Sophiechen, unvermerkt ihm die Hand drückend, ihn mit dem freundlichsten Blicke lobte. Mutter Sabine ließ ein paar Tränen der Freude fallen, sah aber ganz ernsthaft aus; und Meister Anton, so wie auch Oheim Georg, sagten nicht ein Wort.

Als die Herren weggefahren und die Kinder in den Garten gesprungen waren, saßen die Alten eine Zeitlang stillschweigend und in Gedanken. Endlich sagte Meister Anton, den Kopf schüttelnd: »Ich hätte doch nicht gedacht, daß Anselm so sehr gelehrt wäre. Wie muß der arme Junge seinen Kopf haben anstrengen müssen, um das alles zu behalten!«

Oheim Georg fuhr heraus: »Du sagst, er ist gelehrt; und ich sage, er ist dumm.«

»Dumm?« riefen beide Eltern zugleich aus.

»Ja freilich! dumm! – denn der Junge weiß nichts, als was er auswendig gelernt hat. Er hat mir schon vorher zehn Fabeln von Gellert hergebetet, und er konnte auf mein Verlangen keine einzige nach seiner Art mit andern Worten erzählen. Nein, bei den Herrnhutern hab ich auch Schulen gesehen, da geht man aber nicht bloß auf Gedächtniswerk. Weißt du was, Bruder Anton! Leicht gelernt, ist bald vergessen! Wenn nun der Junge vergißt, was er jetzt auswendig weiß, so weiß er alsdann gar nichts. Das nenn ich dumm sein! Und ob ihm das, was er uns heute auf lateinisch vorgesagt hat, was helfen kann, wenn er groß wird, das versteh ich nicht. Aber ich habe nun einmal keinen Glauben ans Lateinische.«

Meister Anton schlug die Augen nieder und dachte bei sich: »Wenn er Doktor wird, wird er mit den Kranken nicht lateinisch reden.«

Mutter Sabine schwieg, aber dachte bei sich: »Lateinisch predigen wird er nicht!« Und dabei fiel ihr ein, daß sie alle vom Examen nichts verstanden hätten und daß es doch vom Kandidaten wäre angestellt worden, damit sie wissen sollten, was Anselm gelernt hätte.

Oheim Georg schwieg nicht, sondern fuhr in einem verdrießlichen Tone fort: »Und wenn der Junge gar nichts gelernt hat als das Latein, wozu wird ihm das helfen, wenn er einmal deine Manufaktur übernehmen soll? Denn am Ende wird es doch wohl am klügsten sein, ihn dazu zu erziehen, wenn du nicht willst, daß die Manufaktur untergehe, ohne daß deine Kinder etwas davon haben sollen.«

Meister Anton schwieg abermal, denn er fühlte wohl, daß der Bruder nicht Unrecht hatte; aber daß sein Sohn nicht Doktor werden solle, wollte ihm auch nicht eingehen. Er dachte also nur: »Schade, daß der Junge noch zu jung ist, um nach der Universität zu gehen, da er doch schon so viel schönes Latein weiß! Wo soll er bis dahin bleiben, da er jetzt in der Schule nichts mehr lernen kann?«

Es ist oft die Sorge der Eltern, nicht, wie ihre Kinder zu erziehen, sondern nur, wo sie zu lassen sind. Haben sie so ganz unrecht? Wenn man die Kinder nicht selbst erziehen kann, muß man sie ja jemand abzurichten geben!

Im Fortgange der Unterredung kamen sie alle überein, Anselm müsse außer dem Hause irgendwo untergebracht werden; denn Meister Georg sagte: »Bruder Anton, der Junge ist für dein Haus allzu gelehrt und wird dir mit seinem Lateine und mit allem dem Zeuge, das er im Kopfe hat, alle deine Arbeiter aufsässig machen!«

Man sieht, Meister Georg, obgleich nur ein gemeiner Tuchmacher, war scharfsichtig genug, schon vor mehr als zwanzig Jahren Sinn für den jetzt von so manchen Staatsleuten angenommenen Satz zu haben, daß zu viel Gelehrsamkeit und Aufklärung endlich zum Aufruhre führe. Wie würden auch gegenwärtig in Frankreich die vielen Greuel entstehen, wäre nicht, wie weltbekannt ist, Jourdan, der Kopfabschneider, ein vertrauter Schüler des garstigen Hans Jakob Rousseau gewesen und der schleichende Abt Sieyes nebst dem heftigen Robespierre die vornehmsten Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Paris? Hätte Philipp Egalité, als Prinz und als Bürger gleich nichtswürdig, wohl mit so unverschämter Stirn für den Tod seines Königs und Vetters gestimmt, wenn er nicht ein so großer Freund und Beförderer der Aufklärung und der Philosophie gewesen wäre? Und würden die Unhosigen in Frankreich wohl so arg gegen Monarchen und monarchische Regierung toben, wenn sie nicht, vermöge ihrer großen Liebe zu den alten Sprachen, sich so innig mit dem Geiste der Griechen und Römer genährt hätten?


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