Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Wir Framleute

Von

Bernhard Nordahl

Erstes Kapitel.

An der heimatlichen Küste entlang.

Es war im Grunde der reine Zufall, daß ich mit unter die Framleute kam, denn mein Name war nicht unter den unzähligen Bewerbern zu finden, die um diese Ehre angehalten hatten.

Und doch hatte ich lange den glühendsten Wunsch danach mit mir herumgetragen. Nansen's hohes Führergeschick verlieh der Fahrt schon im voraus Glanz und bürgte dafür, daß die Männer, die an Bord der »Fram« die Expedition mitmachen durften, großen Thaten entgegengingen. Daß Otto Sverdrup das Schiff führen sollte, vergrößerte die Lust zur Fahrt nur noch mehr. Und nach allem, was über die »Fram« selbst geredet und geschrieben worden war, wußte ich, daß, wenn das Meer je ein Schiff getragen hat, das sich im Eise dort oben in den fernen unbekannten Gewässern würde halten können, es die »Fram« sein mußte.

Wie gesagt, der Gedanke daran reizte und lockte mich, aber dennoch gewann ich es nicht über mich, den entscheidenden Schritt zu thun und mich zu melden.

Es war eines schönen Nachmittags. Die »Fram« war in den Hafen von Christiania gekommen und in die mechanische Werkstatt von Aker geschleppt worden, wo sie ihr geräumiges Innere mit all den tausend zur Fahrt nöthigen Dingen an Proviant und Geräthschaften anfüllen ließ.

Müssig schlenderte ich am Quai entlang und kam so auch dahin, wo die »Fram« lag.

Das Deck war ein wüstes Durcheinander von Kisten aller Art und der verschiedensten Größen, und unten im Großraume arbeitete ein Mann im Schweiße seines Angesichts daran, das eine Ding hier, das andere dort auf die beste Weise zu verstauen.

Es war mir klar, den Mann mußte ich kennen, obschon er so vornübergebeugt stand, daß ich sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte.

In diesem Augenblick richtete er sich auf, und nun konnte ich ihn sehen.

»Aber, lieber Freund, bist du's denn wirklich?« fragte ich. Es war nämlich mein guter alter Kamerad Hjalmar Johansen.

»Natürlich bin ich es, ganz gewiß!« rief er lächelnd zu mir herauf, indem er sich mit dem Aermel den Schweiß von seinem heitern Gesichte wischte.

»Komm' doch auch mit uns, mein Junge«, sagte er. »Einen wie dich kann Nansen gerade brauchen.«

Nun ja, wir sind alle Menschen und als solche wol auch für ein bischen Schmeichelei empfänglich. Und ich leugne durchaus nicht, daß die Worte, einen wie mich könne Nansen gerade brauchen, mich doch ein wenig an der Stelle kitzelten, wo die Eitelkeit sitzt.

Und Lust dazu hatte ich ja lange gehabt, das habe ich auch schon erzählt – eine Lust, die wie ein glimmendes Feuer in mir gelegen und nun bei Johansen's Worten in helle Flammen ausbrach.

Der Gedanke an alles, dem ich den Rücken kehren mußte, an die mannichfachen Bande des Familienlebens, an den Schmerz, meiner Frau, den Kindern und allem, was mir daheim theuer war, Lebewohl sagen zu müssen, um sie – wenn es das Unglück wollte – nie wieder zu sehen, dieser Gedanke hatte mich bisher immer zurückgehalten, und niemand wird mich deshalb wol tadeln.

Doch in jenem Augenblick waren alle diese Zweifel wie ausgelöscht aus meinem Bewußtsein.

Konnte Nansen mich brauchen, so sollte er mich auch haben!

Inzwischen war Johansen aus dem Raume heraufgekommen und hatte sich fertig gemacht, an Land zu gehen. Er trat zu mir hin und legte den Arm um meine Schultern.

»Höre, Freund«, sagte er, »ich werde vorerst mit Nansen reden, und dann fährst du heute Nachmittag gegen 5 Uhr selbst zu ihm hinaus. Du triffst ihn um diese Zeit zu Hause, und die Sache wird dann gleich entschieden.«

Nun, ich sagte überhaupt nicht mehr nein. Ich fuhr nach Lysaker hinaus, wo Nansen wohnte, und traf ihn auch richtig zu Hause. Nansen empfing mich sehr freundlich. Als ich mein Anliegen vorgebracht hatte, begann er, sich nach allerlei Einzelheiten zu erkundigen, die ich ihm alle zu seiner Zufriedenheit beantworten konnte. Wir kamen vorläufig überein, daß ich bis Tromsö mitfahren und an Bord der »Fram« die elektrische Beleuchtung einrichten sollte. Unterwegs würden wir uns endgültig entscheiden können, ob ich ganz mitfahren sollte, was ja dann auch geschah. Ich selbst war schon von Anfang darauf vorbereitet, die ganze Reise mitzumachen.

Alle, die zur Mannschaft der »Fram« gehörten, hatten sich so verheuern müssen, daß sie sich verpflichteten, sich ohne Murren jeder vorkommenden Arbeit zu unterziehen, wenn sie auch zunächst bei einer ihrer bisherigen Beschäftigung entsprechenden Thätigkeit verwandt werden sollten. Hierzu mußten wir uns kontraktlich verpflichten, und bis auf einen einzigen Ausnahmefall hat sich auch nie einer darüber beschwert.

Als langjähriger Elektrotechniker hatte ich an Bord hauptsächlich die Dynamomaschine und die elektrische Beleuchtung zu beaufsichtigen. Dies hinderte jedoch nicht, daß ich auch, wenn es sich gerade traf, bei Arbeiten angestellt wurde, mit denen ich bisher nicht vertraut gewesen war. Ich mußte zum Beispiel als Heizer, Koch, Bäcker und Matrose Dienste thun und fungirte später als Scott-Hansen's Gehülfe bei den meteorologischen Beobachtungen und Messungen, eine Arbeit, die bald mein größtes Interesse erregte.

Meine Verabredung mit Nansen war also getroffen. Er drückte mir beim Abschied freundlich die Hand und stellte mich Sverdrup vor, der gerade bei ihm war. Ich kam in heiterster Stimmung wieder in der Stadt an und eilte nach Hause, um meiner Frau und den Kindern den großen Entschluß mitzutheilen.

Daß diese darüber nicht mit ebenso großer Begeisterung erfüllt waren wie ich, wird niemand unbegreiflich finden. Trotzdem stieß ich nicht auf ernstlichen Widerstand. Und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, würde es in meinem Entschlusse keine Aenderung mehr bewirkt haben.

In den darauf folgenden Tagen wurde an Bord der »Fram« eine Thätigkeit sondergleichen entwickelt.

Es war ein wahres Chaos an Bord, ein wüstes Durcheinander aller möglichen Dinge, sodaß einem schon bei dem Gedanken, wie und wo für alles Platz geschaffen werden sollte, beinahe schwindlig wurde. Und das will ich mir gleich zu sagen erlauben: es ist sicherlich nicht die geringste der großen Eigenschaften, die Nansen's Führergenie bilden, daß er diese ganze tausendfältige Ausrüstung durchdacht und von allem, was die Expedition möglicherweise hätte gebrauchen können, auch beinahe kein einziges Ding vergessen oder nicht beachtet hat.

Alle übrigen Theilnehmer der Expedition, sowol die wissenschaftlich gebildeten als auch die andern, waren nun an Bord eingetroffen, nur Kapitän Sverdrup fehlte noch. Die meisten von uns wurden bald gute Freunde, was natürlich nicht wenig dazu beitrug, allseitig den Muth und die Zuversicht zu heben. Wir mußten ja alle einsehen, daß ein einziges Element an Bord, das den Keim feindlicher Gesinnungen in sich barg, hinreichen würde, um Verwirrung und verhängnißvolle Zersplitterung in unser kleines Gemeinwesen zu bringen.

Nach mehrtägiger angestrengter Arbeit waren wir endlich zur Abreise fertig. Es war am Vorabend des Johannistages 1893. Die »Fram« war nach dem Hafen von Piperviken hinausgewarpt worden und spiegelte dort ihre hohen Masten in der stillen Flut. Auf den Höhen, Inseln und Holmen ringsumher loderten die Johannisfeuer dem längsten Tage des Jahres und dem schönen Sommer zu Ehren, der jetzt in seiner vollen, reichen Pracht stand und dem wir Lebewohl zu sagen im Begriffe waren.

Wir hatten alle unsere Familien, Verwandten und Freunde bei uns an Bord, um noch ein letztes mal mit ihnen zusammen zu sein, bevor wir die Anker lichteten. Wer wollte leugnen, daß wir alle in tiefbewegter Stimmung waren? Und daß unsere Stimme bebte und unsere Augen sich mit Thränen füllten, als wir unsern Lieben beim letzten »Lebewohl und auf glückliches Wiedersehen« die Hand reichten: dies einzugestehen ist gewiß auch keine Schande!

Der Abend, die helle Johannisnacht vergingen, der Morgen kam: mit ihm der Tag unserer Abreise.

Johannistag 1893.

Er machte seinem Namen gerade keine Ehre. Kalt und trübe brach er an, als sehe er unserm Vorhaben mürrischen Auges zu.

Aber dafür waren die Menschen um so herzlicher! Als die »Fram« mittags um 1 Uhr Dampf aufgemacht und die Anker gelichtet hatte, waren die Festungsberge und die Quaie schwarz von Menschen. Draußen im Hafen wimmelte es von Kuttern, Segel- und Ruderbooten. Und wie wurden wir mit Hurrah begrüßt, wie schwenkte die Jugend ihre Mützen, und wie winkten die Damen mit ihren Taschentüchern! Es erwärmte uns bis ins Herz hinein, als wir sahen, daß diese vielen Tausende von Herzen für uns schlugen, als wir hörten, wie stolz sie auf uns waren, sowol um ihrer selbst wie um der alten Mutter Norwegen willen! Kein besserer Stärkungstrunk konnte uns in dem Abschiedsbecher gereicht werden, als die so trostvolle Gewißheit, daß sie alle an uns glaubten – vielleicht nicht alle an unsere Fähigkeit, das große Vorhaben durchzuführen, aber doch alle an unsere Ausdauer und an unsern redlichen Willen.

Unter donnernden Hurrahrufen und Salutschüssen glitt die »Fram« langsam an der Hoved-Insel vorbei. Bald sahen wir Christiania nur noch gleich einem blauen Nebelstreifen in der Ferne verschwinden.

Am 27. Juni erhob sich abends ein richtiger Sturm aus Westnordwest, sodaß unser gutes Schiff bald genügend Gelegenheit erhielt, seine Seetüchtigkeit zu beweisen, und wir selbst unsere größere oder geringere Standhaftigkeit dem »Opfer« fordernden Meeresgotte gegenüber zeigen konnten. Da ich selbst gewissermaßen ein alter Seemann und als solcher längst gegen alle derartigen Forderungen abgehärtet war, ist es ja gerade nicht sehr zu rühmen, daß ich mich seiner bösen Angriffe erwehren konnte. Aber auch die »Landratten« unter uns hielten sich im ganzen genommen recht gut.

Die »Fram« erwies sich als ein gutes Schiff, war aber zu schwer belastet und mußte eine Sturzsee nach der andern über sich ergehen lassen. Um sie zu erleichtern, sahen wir uns also genöthigt, einen Theil unserer aus Planken und einer Menge leerer Theerölfässer bestehenden Deckslast über Bord zu werfen. Dies half dem Uebelstand sofort recht gut ab, aber der Sturm war so überwältigend, daß wir, nachdem wir die ganze Nacht in Bewegung gewesen waren, uns um etwa 8 Uhr morgens entschließen mußten, einen Hafen aufzusuchen. Gegen 6 Uhr nachmittags kamen wir endlich in Ekersund an, wo schon einige den Küstenverkehr vermittelnde Dampfer in Nothhafen gegangen waren. Gegen Morgen legte sich der Sturm, weshalb wir, von den Ekersundern aufs freundlichste begrüßt, wieder in See stachen und unsern Kurs direkt auf Bergen hielten.

In der alten Hansastadt herrschte festliches Leben und Begeisterung, Sang und Klang, von dem Augenblicke unserer Ankunft bis zur Stunde unserer Weiterreise. Die Leute wußten einfach nicht, was sie uns alles Gutes anthun sollten. Es hätte uns wirklich zu Kopf steigen können.

Am 5. Juli erreichten wir Beian, wo wir der Verabredung gemäß Kapitän Sverdrup antrafen und noch einen Theil des Proviants einnahmen. Hier kam auch Professor Brögger an Bord, um uns bis Tromsö zu begleiten.

Dort kamen wir am 12. Juli an und warfen im Hafen Anker. Das Wetter war schneidend kalt; bisweilen gab es ein Schneetreiben, als wären wir in der Weihnachtszeit – ein hübscher, kleiner Vorgeschmack von dem, welchem wir bald immer mehr entgegengingen.

In Tromsö versahen wir uns mit etwas getrocknetem Renthierfleisch. Außer Professor Brögger verließ uns hier noch ein anderer Mann, den wir alle in der kurzen Zeit, die wir mit ihm zusammen verlebt, aufrichtig lieben gelernt hatten. Es war Kapitän Gjertsen, der nächst Nansen und Sverdrup die »Fram« von uns allen am besten kannte, da er von dem Tage ab, an dem ihr Kiel gestreckt worden war, ihren Bau und ihre Einrichtung genau verfolgt hatte.

Wir schüttelten ihm beim Abschied alle warm die Hand, viele von uns mit Thränen in den Augen, denn er war uns aufrichtig theuer geworden. Statt seiner kam Bentsen an Bord. Er sollte uns bis Nowaja Semlja begleiten und dachte selbst noch nicht im entferntesten daran, daß er im Ernst weiter mitthun würde.

Mit Kapitän Gjertsen verließ uns noch ein anderer guter Freund, Christiansen Trana, von Nansen's Grönland-Fahrt her bekannt, ein außerordentlich gewandter, prächtiger Mensch; es war wirklich schade, daß Nansen diesmal nicht mit ihm einig werden konnte.

Von den wärmsten Glückwünschen der Bevölkerung begleitet sagten wir am 14. Juli nachmittags 2 Uhr Tromsö Lebewohl. Das Wetter war noch immer kalt; es wehte frisch aus Nordwesten, und die See ging hoch. Die Last der »Fram« war verkehrt gestaut worden, und das Schiff schlingerte deshalb entsetzlich. Ja, manchmal war das Schwanken so heftig, daß man sich kaum in der Koje festhalten konnte und an Schlaf gar nicht zu denken war. Wir gingen in den Kjölle-Fjord hinein, um die Last umzustauen und das Vorschiff leichter zu machen, eine Arbeit, die im Laufe von zwei Tagen durch Leute vom Lande ausgeführt wurde – Leute, die wir übrigens auf die curiose Weise bekamen, daß wir sie sozusagen aus der Kirche holten (es war nämlich ein Predigtsonntag). Draußen herrschte ein entsetzliches Unwetter; die Gebirgskessel waren bis tief hinunter voll Schnee, und wir mußten wollene Handschuhe anziehen, wenn wir auf Deck etwas zu thun hatten. Wahrhaftig, ein angenehmes Sommerwetter!

Erst am 17. Juli klärte es sich auf, und wir stachen nun wieder in See mit dem Kurs auf Vardö, wo wir am Abend des nächsten Tages gegen 10 Uhr ankamen. Hier wartete unser eine Ueberraschung, und schöner hätte Mutter Norwegen ihren Söhnen das letzte Lebewohl nicht sagen können, als die Bewohner von Vardö es thaten.

Unsere Ankunft hatte sich um volle zwei Tage verspätet. Aber treulich hatten die Waräger von Vardö Tag und Nacht Wacht gehalten. Wir waren deshalb ebenso erstaunt wie gerührt, als wir in der späten Abendstunde an der Mole anliefen und, statt, wie wir es erwartet hatten, eine Stadt in ihrem Schlafe zu finden, von einer wimmelnden Menschenmenge empfangen wurden mit einem Musikcorps an der Spitze, das kräftig und taktfest »Ja, wir lieben dieses Land!« anstimmte.

Die gemüthvolle Innigkeit dieses einfachen Liedes hat uns alle vielleicht nie so ergriffen und gestärkt wie in jener späten Abendstunde, als es uns so überraschend entgegentönte. Und wie an den andern Orten konnte auch hier die Bevölkerung sich nicht genug thun in Bezeugungen ihrer Sympathie.

Wir lagen hier ein paar Tage. Es war der letzte norwegische Hafen, den wir anliefen. Deshalb hatten die Taucher hier den Boden der »Fram« von Muscheln, Tang und andern die Fahrt hemmenden Unreinlichkeiten zu befreien. Und die ganze Zeit über hielt uns die Stadt mit Freudenfesten in Athem – ja, sie setzte unsertwegen beinahe Himmel und Erde in Bewegung.

Am 21. Juli morgens 4 Uhr lichteten wir endlich die Anker und dampften bei klarem, stillem Wetter aus dem Fjord hinaus.

So wollte Mutter Norwegen selbst uns noch einmal ihr freundlichstes Gesicht zeigen und uns als letzte Erinnerung das Bild des hellen Sommermorgens des Nordlandes mit auf den Weg geben, mit den Gebirgen und Fjorden, mit den Inseln und Schären, die in seine seltsamen rothglühenden Farben getaucht waren.

Dank dir, Mutter Norwegen! Von uns allen an Bord hat sicherlich keiner das Bild vergessen, das unserm Blicke nach und nach am Horizont entschwand.


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