Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Achtes Kapitel.

Vom Abschied bis zum Johannistag 1895.

Aller guten Dinge sind drei, heißt es. Einem so willensstarken und auf die Erreichung des Zieles, das er sich gesetzt, so sehr bedachten Charakter wie Nansen waren die beiden mißglückten Versuche nur eine Erfahrung mehr, die er sich für seine Polarexpedition zunutze machen konnte. Besonders der letzte Versuch hatte ihn gelehrt, daß eine Schlittenreise über das Polareis mit dem Nordpol als Ziel – wenn man soweit kam – eine Expedition ganz anderer Art war als die, welche er und Sverdrup mit einigen Kameraden seinerzeit über das grönländische Inlandeis gemacht hatten. Die vielen Eishügel und Rücken legten ihnen hier tausend Hindernisse in den Weg, und das Allerschlimmste waren vielleicht die großen Rinnen, die sich im Handumdrehen gähnend öffneten und die Reisenden zwangen, zeitraubende Umwege zu machen, um sie zu umgehen und weiterzukommen.

Nansen hatte jetzt durch praktische Erfahrung gelernt, daß es hauptsächlich darauf ankam, die Menge und das Gewicht des Gepäcks auf ein Minimum zu beschränken, dabei aber doch genügend Vorrath für die Zeit mitzunehmen, die seiner Berechnung nach erforderlich war, um, wenn möglich, den Pol und von dort Franz-Joseph-Land zu erreichen. Und mit seiner gewohnten Energie machte er sich augenblicklich an die hierauf bezüglichen Berechnungen sowie an die Bestimmung des Nahrungswerthes der verschiedenen Nährstoffe. Hieran arbeitete er unermüdlich, Tag und Nacht, bis er mit allem im Reinen war.

Auch wir andern hatten mit den Vorbereitungen zur neuen Expedition an allen Ecken und Enden zu thun. Die Schlitten sollten stärker gemacht und in Betreff der Bekleidung allerlei Aenderungen vorgenommen werden. Namentlich die Wolfsfellanzüge hatten sich für die Nacht nicht bewährt, da sie den Tag über in der Luft steiffroren, hart wurden und sich mit Reif überzogen. Statt ihrer nähten wir Nachtkleider von Decken.

Es wurde nun bestimmt, daß die Expedition ungefähr Mitte März aufbrechen sollte. Die Anzahl der Schlitten wurde im ganzen auf drei mit 28 Hunden herabgesetzt. Nach der neuen Berechnung mußten sie mit dieser Ausrüstung täglich mindestens 15 Kilometer ohne Ueberanstrengung zurücklegen können; die mitgenommenen Lebensmittel reichten der Annahme nach mindestens 100 Tage und wenn sich die Gelegenheit bot, Bären und Seehunde zu schießen, noch länger. Das Gesammtgewicht alles dessen, was sie, gleichmäßig auf drei Schlitten vertheilt, mitnahmen, betrug 660 Kilogramm.

Am Morgen des 14. März sollte die Expedition sich endlich auf den Weg machen. Den Abend vorher verbrachten wir bei einer dampfenden Bowle »Fram-Punsch« in gemüthlichem Geplauder. Wir andern waren recht wehmüthig gestimmt; die Heitersten in der ganzen Gesellschaft waren unbedingt die beiden, die uns nun endgültig Lebewohl zu sagen gedachten. Beide, Nansen und Johansen, sprachen wiederholt, bald ernsthaft, bald scherzend, von der verflossenen Zeit, sowie von dem, was die Zukunft in ihrem Schose tragen mochte.

Der Morgen brach mit schönem Wetter und 32° Kälte an. Es war ursprünglich bestimmt worden, daß Scott-Hansen, Hendriksen, Mogstad, Petterson und ich die Fortziehenden geleiten sollten, und ebenso wollte Kapitän Sverdrup noch ein Stück Wegs mit ihnen gehen. So große Lust ich auch dazu hatte, gab ich es indeß doch freiwillig auf, weil der, welcher an diesem Tage die Küche zu besorgen hatte, sich darüber beklagte, daß er dann ohne Hülfe bliebe. Hätte ich dies nicht gethan, so wäre ich vielleicht von dem Andenken an die Abreise der Expedition, das ich erhielt, verschont geblieben. Dann würde ich vermuthlich genug damit zu thun gehabt haben, mein eigenes Bündel für die Tour zu schnüren; ich und die vier andern sollten nämlich die erste Nacht in Johansen's und Nansen's Gesellschaft zubringen und ich hätte daher die Wolfsfellanzüge, Zelt, Kochapparat und Proviant auf dem Rücken tragen müssen. Dagegen mußte ich jetzt die Hunde vor die Schlitten spannen helfen und bei dieser Gelegenheit wurde mir das Andenken an die Expedition in der eigentlichsten Bedeutung des Wortes »ins Fleisch eingeprägt«.

Unter den Hunden war ein kleiner Satan, der seines schmächtigen Körperbaues wegen den Namen »Barnet« (»das Kind«) erhalten hatte. Er war scharfsinnig, voll Eifer und aufmerksam, von schwächerm Bau als alle andern, verstand es aber doch vorzüglich, sich vor ihnen zu schützen. Der lebhafte kleine Kerl beehrte mich mit seinem Hasse – weshalb, weiß ich nicht, denn ebenso wie ich selbst die Hunde liebte, hingen sie sonst auch an mir –, und dieser Antipathie gegen mich verlieh er jetzt in der Abschiedsstunde »fühlbaren« Ausdruck, indem er mich in dem Augenblick, da ich ihn vor seinen Schlitten spannen wollte, mit seinen scharfen Zähnen durch meine Wolfsfellbeinkleider hindurch tief in die Lende biß. Der Biß war durchaus nicht unbedeutend, und man sah deutlich, daß er mir »von Herzen« zugedacht gewesen, aber unter Dr. Blessing's Behandlung wurde er doch bald wieder geheilt.

Endlich war die Karawane fertig und unter Kanonenschüssen, Hurrahrufen und einem »Es lebe Nansen und Johansen!« setzte sie sich in Bewegung und verschwand allmählich in der Ferne.

Diesmal sollten wir unsern Führer und unsern Kameraden nicht vor der so merkwürdigen gleichzeitigen Heimkehr ins Vaterland wiedersehen.


Diejenigen, welche Nansen und Johansen ein Stück Wegs begleitet hatten, trafen am folgenden Tage wieder an Bord ein. Sie hatten nur Gutes und Ermuthigendes zu berichten. Das Umpacken der Schlitten war entschieden eine glückliche Idee gewesen und, soweit sie mitgegangen und hatten sehen können, hatte auch das Eis keine nennenswerthen Hindernisse geboten. Die Reise war also bisjetzt gut verlaufen, und die erste Nacht draußen auf freiem Eise hatte gezeigt, daß die Ausrüstung gegen die Kälte den angestellten Berechnungen entsprach. Außerdem ging es ja dem Sommer entgegen, und die Temperatur mußte in dem Maße zunehmen, wie die Sonne am Himmel höher stieg, sodaß wir in dieser Hinsicht unserer Kameraden wegen ziemlich ruhig sein durften.

Nun aber mußten wir auch an uns selbst denken. Es ist schon oben erwähnt worden, daß unsere verschiedenen Vorräthe durch die Ausrüstung der Schlittenexpedition Nansen's nicht wenig mitgenommen waren, und von den ausgewachsenen Hunden war uns nur noch eine einzige Hündin geblieben. Von Schlitten und Kajaks hatten wir, wie gesagt, gar nichts mehr und nur sehr wenig Holzmaterial zur Herstellung neuer. Nach langem Hinundherüberlegen mußten wir später eines der Schiffsboote hierzu auseinandernehmen.

Unsere erste Arbeit war, einen Vorrath von Proviant und Kleidern auf das Eis zu bringen für den nicht unmöglichen Fall, daß wir das Schiff in aller Hast verlassen müßten. Dann machten wir uns daran, die Ueberbleibsel der Schnee- und Eismassen hinwegzuräumen, die sich bei der letzten heftigen Pressung an der Backbordseite aufgethürmt hatten. Sowie dies besorgt war, kam die Reihe an unsere Kleidungsstücke, die nachgesehen, gewaschen und gestopft werden mußten, was im höchsten Grade nöthig war, da die vielen andern eiligen Beschäftigungen uns nun schon solange von dieser nicht so unwichtigen Arbeit abgehalten hatten. Mehrere Tage hindurch war jeder von uns seine eigene Waschfrau, sein Schuster und sein Flickschneider.

Ich will nicht behaupten, daß das, was wir in dieser Hinsicht lieferten, gerade Primaarbeit war, aber es mag wol sein, daß mancher daheim, Mann oder Frau, gar nicht schlecht dabei gefahren wäre, wenn er zugesehen hätte, wie man alles bis aufs äußerste benutzen, wie man wenden, sparen und sich zu helfen wissen kann, wenn die Noth es erfordert. Die Hosen, in denen wir gingen, würden auf der Karl-Johann-Promenade zweifellos Aufsehen erregt haben, wenn auch nicht um ihrer Eleganz willen. Wir mußten, wie es sich gerade traf, neue Vordertheile einsetzen und mit neuem Zeuge flicken und stücken, wozu wir ohne Rücksicht auf die Farbe nehmen mußten, was wir hatten. Meistens war es ja Grau und Braun, sodaß wir bald mehr Leibeigenen als freien Männern glichen.

Unsere Handschuhe hätte man sehen sollen! Wir stopften und flickten sie, solange noch eine Möglichkeit vorhanden war, daß eine Naht hielt. Dann trennten wir die Flicken wieder ab und zogen ein Paar neue Handschuhe über die alten Lumpen, solange wir welche hatten. Und zuletzt bestand unsere Handbekleidung nur noch aus mehrern übereinandergezogenen Lumpenschichten. Es ist dies ja leicht begreiflich, da die Arbeit draußen auf dem Eise Handschuhen wie Fußbekleidung übel mitspielte.

Ja, ja, die Fußbekleidung! Ihr hättet unsere Strümpfe sehen sollen; zuletzt war es absolut unmöglich, herauszufinden, von welcher Sorte Garn sie gestrickt waren.

Allerdings stand es, genau genommen, nicht so, daß wir durchaus hätten so gekleidet gehen müssen, denn wir hatten ja noch einen Vorrath neuer Sachen in Reserve. Doch da dieser im Verhältniß zu der Zeit, auf die wir uns gefaßt machen mußten, hier im Eise zu liegen, nicht groß genug schien, mußten wir als verständige Haushälter auch an die Zukunft denken und uns danach einrichten.

Obgleich der Wind den ganzen Monat März hindurch günstig war, blieb die Drift seltsamerweise ziemlich unbedeutend. Eine Beobachtung ergab nur wenige Minuten Unterschied gegen die vorhergehende. Die Erklärung des Räthsels war natürlich, daß es weiter nördlich in dem großen Polarbecken aus einer andern Richtung wehte, sodaß es war, wie wenn zwei Kräfte von verschiedenen Richtungen zugleich auf das Eis einwirkten. Es ließ sich also erklären, wenn es auch just nicht besonders ermuthigend war. Trotz alledem nahmen wir es verhältnißmäßig ruhig, merkwürdigerweise viel resignirter auf, als wir es das Jahr vorher gethan haben würden. Wir hatten damals eben weniger Erfahrung und machten größere Ansprüche, litten dafür aber auch mehr unter den Enttäuschungen. Jetzt hatten wir es begriffen, daß wir nicht so fest auf unsere Wahrscheinlichkeitsrechnungen bauen durften; wir waren ihnen gegenüber skeptischer geworden. Wenn es sich einmal ereignete, daß sie auch nur annähernd in Erfüllung gingen, empfanden wir es als freudige Ueberraschung. Das Resultat unserer Drift während des ganzen Monats März betrug 12' nach Norden. Es war nicht viel, aber doch immer besser als gar nichts.

Am 2. April sagte uns der Winter endlich für diesmal endgültig Lebewohl. Da sahen wir nämlich die Mitternachtsonne wieder. Wie es uns den Sinn erhob, sie willkommen heißen zu können! Wir freuten uns wie Kinder. Wir trällerten und tanzten, wo wir gingen und standen, und Amundsen, der als Hoforganist an Bord fungirte, »leierte« in seiner überströmenden Freude alle die Melodien herunter, mit denen unsere Orgel versehen war.

Im übrigen ging es jetzt wie früher mit der Laune auf und nieder. Es war ein Glück, daß die Melancholie, wenn sie sich einstellte, uns nicht alle gleichzeitig, jedenfalls nicht mit gleicher Heftigkeit befiel. Wenn nun die, welche bei verhältnißmäßig heiterer Laune und gutem Muthe waren, sahen, daß es mit einem oder mehrern Kameraden einen Tag schlimm stand, so fiel ihnen damit die Aufgabe zu, sozusagen die Rolle David's vor Saul zu spielen, sie soviel wie möglich aufzuheitern und ihre Gedanken auf Dinge zu lenken, die sie sonst zu zerstreuen oder zu interessiren pflegten. Und da wir überreichlich Zeit gehabt hatten, gegenseitig unsere Eigenschaften, Eigenheiten und speziellen Interessen gründlich zu studiren, wußten wir auch stets so ungefähr wenigstens, wie wir die Sache angreifen sollten. Meistens verliefen denn auch diese Launenkuren glücklich, aber es kam allerdings gelegentlich auch vor, daß der Trübsinn diesen und jenen so fest gepackt hatte, daß man die Heilung der Zeit und der eigenen geistigen Widerstandsfähigkeit des Kranken überlassen mußte.

Auf Grund meiner Erfahrungen von unserm dreijährigen Aufenthalt, während dessen wir so weit von der civilisirten Welt entfernt waren, unter Naturverhältnissen wie die dort oben, und die trostlose Einsamkeit der Eiswüste beständig vor Augen, kann ich im großen und ganzen nur sagen, daß wer eine Nordpolfahrt mitmachen will, sich vorher genau prüfen muß, wie groß sein Vorrath an Charakterstärke, Geduld und heiterm Sinn ist. Gebricht es ihm an einer dieser Eigenschaften, so bleibe er lieber zu Hause, wie sehr er sich auch sonst vielleicht für die Fahrt eignen möge. Diese Wahrheit fühlten wir schon jetzt alle miteinander, obgleich wir alle mit Recht sagen konnten, daß wir uns bisher gut gehalten. Aber wir wußten auch, daß noch eine Winternacht kommen und einen dritten, schlimmern, wenn auch hoffentlich letzten Sturmangriff auf uns machen würde. Und erst dann hatte unsere Veranlagung in den erwähnten Punkten ihre eigentliche Feuerprobe zu bestehen.

Derjenige von uns, welcher gewöhnlich zur fidelsten Medizin gegen den Trübsinn griff und dem sie sich als ein wahres »Lebenselixir« der Seele erwies, war unser Freund, der Maschinist und Organist Amundsen. Er griff zur Orgel.

Sie war so eingerichtet, daß man darauf wie auf einem gewöhnlichen Harmonium spielen konnte, und hatte Tasten und Pedale. Zugleich konnte sie aber auch als Leierkasten benutzt werden und besaß ein großes Repertoire an Notenscheiben mit ernsten und lustigen Musiknummern. Amundsen hielt sich an die Drehorgel und »drehte« allen möglichen Trübsinn aus sich selbst hinaus – und uns aus dem Salon!

Setzte er sich erst an die Drehorgel, so gab er sich in der Regel nicht eher zufrieden, als bis er das ganze Repertoire von Anfang bis zu Ende abgeleiert hatte. Das war auf die Dauer einfach nicht auszuhalten: wir mußten uns verziehen. Als Leierkastenmann in einer Menagerie oder bei einem Caroussel wäre er unbezahlbar gewesen: Er freute sich selbst ganz unbändig über den herrlichen Klang der Töne, legte aber gar keinen Werth auf Publikum. Denn wenn er es endlich erreicht hatte, uns alle zum Salon hinauszuspielen, war er in seiner allerstrahlendsten Laune.

Die Sonne stieg nun von Tag zu Tag höher am Himmel hinauf, und die Kälte nahm ab. Freilich zeigte das Thermometer noch unter 20°, aber wir konnten doch an vielem deutlich merken, daß es Frühling wurde. Alle Arbeit, die im Laufe des Winters der Kälte wegen im Salon hatte ausgeführt werden müssen, wurde nun in den Schiffsraum verlegt. Oben auf Deck wurde der Schnee von der Kajüte und dem Oberlicht entfernt, und bald hatten wir wieder Sonnenlicht, das herrliche, aufmunternde Sonnenlicht, bei uns im Salon, in den Kabinen und in der Küche.

Ich habe schon erwähnt, daß es mit dem Material für Schneeschuhe, Schlitten und Kajaks schlecht aussah; wir mußten uns jedoch auf irgendeine Weise mit diesen Dingen versehen, für den Fall, daß auch wir gezwungen waren, die »Fram« zu verlassen und über das Eis heimwärts zu ziehen.

Unser einziges brauchbares Material bestand aus einigen runden Eichenstämmen. Aber nun fehlte es wieder an einer Säge. Amundsen und Petterson wurden daher in ihrer Eigenschaft als Mechaniker beauftragt, eine Säge anzufertigen. Mehrere Tage quälten sie sich, von Hendriksen und Mogstad unterstützt, mit dieser gar nicht so leichten Aufgabe ab. Endlich gelang es ihnen, ein brauchbares Sägeblatt herzustellen und ein Sägewerk auf dem Eise einzurichten, wo sie dann allmählich anfingen, sich durch das Holz hindurch zu »nagen« und zu »knarren«.

Unterdessen besorgen wir andern unsere Arbeiten. Sverdrup hat Nansen's Schreibmaschine geputzt, Scott-Hansen und Blessing sind mit den wissenschaftlichen Experimenten beschäftigt, und ich habe als »Freiezeitarbeit« neben meinen täglichen Pflichten Photographierahmen für die Bilder meiner Lieben daheim gemacht.

Am 25. April erlebten wir eine Enttäuschung. Da brachte die Hündin »Susine« volle elf Junge zur Welt – für jeden von uns auf der »Fram« Zurückgebliebenen eines. Leider aber hatte die Hündin ihre Hütte auf Deck, und dort ging die Geburt in der ziemlich strengen Kälte mitten in der Nacht vor sich. Als wir am Morgen dazukamen, waren schon acht Junge todt und nur noch drei am Leben. Diese brachten wir sofort mit der Mutter in den Salon, wo sie es warm und gut hatten und sich bald erholten. Es war aber ein verwünschtes Pech und machte uns wirklich verdrießlich, denn wir hätten so ausgezeichnete Verwendung für alle Elf als Zughunde gehabt, wenn wir die »Fram« einmal hätten verlassen müssen.

Die Tage gehen dahin, und wieder steht der 17. Mai vor der Thür.

Es ist merkwürdig! Während andere Festtage, wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten, unsere eigenen Geburtstage oder die unserer Lieben daheim, uns eher mit Wehmuth und Trübsinn als mit Festesfreude erfüllten, hatte der 17. Mai auch in diesem Jahre wieder die gerade entgegengesetzte Wirkung auf uns. Woher kam dies? Ist die Vaterlandsliebe und Freiheitsfreude in der Brust eines jeden guten, ehrlichen Menschen ein so starkes, glühendes Gefühl, daß es wie die Sonne die Macht hat, auch die dunkelsten Wolken zu zertheilen? Der Gedanke, daß daheim jetzt tausend und abertausend Fahnen gehißt wurden, die Nationalhymne über Berg und Thal, Land und Strand, Dorf und Stadt klang, daß sie von Alt und Jung, Arm und Reich gesungen wurde, war so weit davon entfernt, niederdrückend auf uns zu wirken, daß wir im Gegentheil schon eine geraume Zeit, ehe der große Tag anbrach, eifrig damit beschäftigt waren, herauszufinden, wie wir diesen Tag auf unserm hohen Breitengrade am würdigsten und imponirendsten feiern könnten. Deshalb sah man jetzt an Bord nur frohe, eifrige Gesichter. Ein Festcomite wurde gewählt und folgendes Programm für die Feier ausgearbeitet und angenommen:

»Morgens 8 Uhr Wecken durch Orgelmusik und 1 – ein – Schuß der Salutbatterie.

»Um 11 Uhr Zug mit Fahnen vom Schiffe nach dem nächsten Eishügel und wieder zurück. Sämtliche Theilnehmer müssen sich mit ihren respectiven Fahnen und Abzeichen einstellen. Beim Auflösen des Zuges Salut von der Batterie.

»Um 1 Uhr Festmahl mit Reden zu Ehren des Tages und Tafelmusik.

»Um 4 Uhr Preisschießen, sodann Sportbelustigungen und gymnastische Productionen.

»Abends gesellige Zusammenkunft mit Punschbowle, Violinspiel und Reden.«

Ein so großartiges Programm verdiente, Glück zu haben, und hatte es auch. Der Freiheitstag brach mit herrlichem Sonnenschein bei nur 14° Kälte an. Das Festcomité stand früh auf, um noch im Salon wie im Freien die letzte Hand an die getroffenen Arrangements zu legen, und zur bestimmten Zeit setzte der »Siebzehnte-Mai-Festzug« sich in Bewegung.

Kapitän Sverdrup marschirte mit einer großen norwegischen Fahne an der Spitze, dann kam Scott-Hansen mit der Standarte der »Fram«. Mogstad saß stolz auf einer von einem Bärenfelle bedeckten Kiste auf einem Schlitten, der von den sieben ältesten der jungen Hunde gezogen wurde; vor sich hatte er eine Fahne, Scott-Hansen's Banner, aufgepflanzt, die aus zwei rothen Taschentüchern zusammengenäht worden war und auf der wieder auf Papier auf blau und weißem Grunde ein »Horizont«, ein Sextant, ein Kompaß und eine Quecksilberflasche kunstvoll abgebildet waren. Ihm folgte Jacobsen mit seiner ebenfalls rothen Fahne, auf die ein in Messing gepreßter Löwe mit einer Axt in den Pranken genäht war. Amundsen und ich führten unser »Bezirksbanner«, ich war außerdem mit Gewehr und Säbelbajonnet auf dem Schneeschuhstocke bewaffnet. Dann kam Petterson mit der Fahne der Mechaniker, die als Emblem einen Kugelregulator zeigte. Den Zug schlossen Blessing mit seinem photographischen Apparate und Bentsen, der mit seiner Harmonika das Lied »Ja, wir lieben dieses Land« kräftig und begeistert über die Eisfelder der Polarwüste erschallen ließ.

Oben auf dem Eishügel wurden sämmtliche Fahnen aufgepflanzt, und in einigen herzlichen Worten mit einem dreifachen Hurrah des Vaterlandes gedacht, worauf uns Messing in diesem feierlichen Augenblick alle zusammen aufnahm. Darauf zogen wir wieder nach der »Fram«, wo wir von neuem photographirt wurden und dann ein vierfaches Hurrah für Nansen und Johansen ausbrachten, mit dem herzlichen Wunsche, daß sie, wo sie jetzt auch seien, Glück und Erfolg haben möchten.

Um 12 Uhr dröhnte der Salut zu Ehren des Tages in zehn gewaltigen Schüssen aus den Kanonen der »Fram«. Dann gingen wir für eine Stunde an Bord, um das Festmahl einzunehmen, das sich wahrhaftig auch nicht zu schämen brauchte. Es gab Makrelen, Zunge, kleine Würste mit Blumenkohl, Reis mit Eingemachtem, Milch und für jeden eine halbe Flasche Malzextract. Außerdem überraschte uns Dr. Blessing beim Essen noch mit einem echten, veritabeln norwegischen Schnaps, indem er unter allgemeinem Jubel eine ganze Flasche zehn Jahre alten Kornbranntwein auf den Tisch stellte. Dies erhöhte die Feststimmung unbeschreiblich und löste in demselben Grade die Zungenbänder. Des Vaterlandes, der Familie, der Freunde und Bekannten wurde durch die Bank gedacht und bei jedem irgendwie officiellen Toaste mit zwei Schüssen salutirt. Es ging in der That sehr hoch her! Nach Tisch Kaffee mit einer Cigarre und dann ein Mittagsschläfchen.

Um 4 Uhr fing das »Volksfest« mit Preisschießen, Seiltanzen auf einem straff gespannten Seile u. dgl. an. Für das Schießen waren nicht weniger als sechs verschiedene Preise, für das Schwungbrettspringen vier, sowie ein aus 15 Mandeln Eier bestehender »Damenpokal« und schließlich für die besten Leistungen auf dem gespannten Seil drei Preise ausgesetzt worden. Die Hauptpreise bestanden aus Champagner und Cognak mit zwei und drei Sternen.

»Hattet ihr denn solch feine Waaren an Bord?« wird man mich fragen. Darauf kann ich ruhig mit »Nein« antworten. Die Preise waren alle miteinander »Wechsel auf unbestimmte Sicht«. Sie sollten nämlich erst bei der Ankunft in Norwegen eingelöst werden. Nun ja, »Versprechen ist ehrlich, Halten beschwerlich«, wie geschrieben steht. Als wir erst wieder in einen norwegischen Hafen eingelaufen waren, hatten wir alle wahrhaftig an anderes zu denken, und sowol die Preisgewinner wie die andern erhielten übrigens so oft und so reichlich Champagner und Cognak, daß gewiß keiner daran dachte, seine Forderungen in Erinnerung zu bringen.

Doch wieder zurück zu dem 17. Mai und unserm Volksfeste.

Das Schießen verlief ausgezeichnet. Mogstad war so glücklich, den ersten Preis, zwei Flaschen Champagner, zu gewinnen, und Sverdrup erhielt den zweiten. Ein bescheidener 5. Preis, aus einer Flasche »Zukunfts-Cognak« bestehend, fiel auf mich.

Das Hauptvergnügen des ganzen Volksfestes war jedoch unstreitig das Seiltanzen. Von der Vorderschanze der »Fram« bis zu einem in einiger Entfernung vom Schiffe auf dem Eise aufgestellten Bocke war ein Tau gespannt und mit einem Eisanker weiter hinten über einer doppelten Talje festgemacht worden, die uns erlaubte, das Seil nach Belieben straff zu ziehen. Als Balancirstange gebrauchten die Herren Seiltänzer ein zweiblättriges Ruder, und nun ging es los, vom Vorderdeck der »Fram« bis zum Bocke.

Bei den meisten war es wirklich ein Schauspiel für Götter. Was sie auch in ihrer Jugend gelernt haben mochten, Aequilibristik war offenbar nicht darunter gewesen. Wenn sie zum größten Spaße der andern die tollsten Wendungen und Drehungen gemacht und mit den Füßen nach allen vier Enden der Welt ausgeschlagen hatten, um dann schließlich, pardautz, auf ihr Hinterende zu fallen, gab es allemal ein brüllendes Gelächter. Alle waren jedoch nicht gleich klotzig, Mogstad und Jacobsen, die den zweiten und dritten Preis eroberten, konnten sogar für ganz respectabel gelten, und der Gewinner des ersten Preises, Kapitän Sverdrup, legte eine solche Sicherheit an den Tag, daß man hätte glauben können, er sei früher als Seiltänzer aufgetreten. Er balancirte über das ganze Seil mit einer Eleganz, die allgemeine Bewunderung erweckte.

Leider sollte dieses so nett begonnene »Maifest« für mich persönlich ein nichts weniger als angenehmes Ende nehmen.

Als wir zur nächsten Nummer des Programms, dem Schwungbrettspringen, übergingen, sollte ich starten, hatte aber das Unglück, auszugleiten und mir die rechte Hüfte ganz abscheulich zu verrenken. Um den andern nicht das Vergnügen zu stören, blieb ich sitzen und sah zu, doch als wir uns wieder an Bord begaben, mußte ich gestützt werden. Ebenso mußte ich beim Zubettgehen Hülfe haben, und am andern Tag war die Hüfte steif und schmerzte sehr. Nach einigen Tagen war ich einigermaßen hergestellt, sodaß ich unter Beobachtung einiger Vorsicht meinen täglichen Pflichten wieder genügen konnte.

Von diesem Vorfall abgesehen, verlief unser Fest durchaus vorzüglich. Abends wurden die Namen der verschiedenen Preisträger unter vielem Jubel und großer Heiterkeit am Punschtische vorgelesen. Toaste, Gesang, Violinspiel und Drehorgelmusik wechselten bis 2 Uhr morgens miteinander ab, und alle waren einig, daß dieses Maifest im höchsten Grade dazu beigetragen habe, uns aufzufrischen und den Trübsinn zu verscheuchen, der sich infolge der Einförmigkeit des täglichen Lebens, sowie der oft wenig hoffnungsvollen Aussichten auf die Drift im Sommer wie eine schwere dunkle Wolkendecke auf uns herabgesenkt hatte.

Augenblicklich waren übrigens die Verhältnisse ganz dazu angethan, uns bei guter Laune zu erhalten. Das Wetter war andauernd wunderschön und der Wind gut. Die Temperatur stieg bis auf –10°. Wir machten uns daran, das Deck ganz von Eis und Schnee zu säubern. Die Hunde erhielten ihren Reisepaß aufs Eis hinaus, und als wir nun 11 Mann hoch mit Schaufeln, Spaten und Besen an die Arbeit gingen, dauerte es gar nicht lange, bis wir wieder in dem heiter strahlenden Sonnenschein auf dem leeren, reingescheuerten Deck spazieren gehen konnten. Dann kam die Reihe an das Nachsehen des Proviants unten im Raume und im Depot auf dem Eishügel. Der draußen befindliche Vorrath wurde wieder an Bord gebracht und auf dem Vorderdeck aufgestapelt, denn wir fürchteten, er möchte draußen unter der steigenden Temperatur leiden, da er dort der Sonne direct ausgesetzt war. Aber auf Deck mußten wir ihn lassen, damit wir ihn vorkommendenfalls schnell wieder auf das Eis flüchten konnten.

Es war nun schon lange her, seit wir eine Gelegenheit, Eisbären zu schießen, gehabt hatten, und nach unsern Erfahrungen vom vorigen Sommer mochte es noch eine Weile dauern, bis sich wieder Gelegenheit dazu bieten würde. Doch unser Vorrath an frischem Fleische war gänzlich zu Ende, und das Einzige in dieser Hinsicht, worauf wir einstweilen unsere Hoffnung setzten, war, daß wir vielleicht auf Vögel stoßen könnten. Schneeammern und Eismöven hatten sich schon gezeigt, aber etwas zu schießen, war uns noch nicht geglückt. Es kam vor, daß sie uns schußgerecht waren, wenn wir dann aber nach Gewehren und Munition hinunterliefen, schwupp, waren die Canaillen weg! Später brachten wir die nothwendigen Schußwaffen mit Zubehör oben auf Deck unter, um sie gleich bei der Hand zu haben.

Beim Durchsehen des Proviants stellte sich eine bedauerliche Thatsache heraus: wir mußten anfangen, mit dem Taback sparsam umzugehen. Von nun an bekamen wir von diesem, eigentlich unserm einzigen Genußmittel pro Mann ein bestimmtes Gewicht für den Monat. Es war hart, mußte aber sein.

Am 11. Juni zeigte das Thermometer zum erstenmal in diesem Jahre über Null. Wir hatten vorher zum Theil starke Schneefälle gehabt. Diese in Verbindung mit der Wärme machten das Eis porös und bildeten zugleich eine Unterlage von Wasser, die Ausflüge beinahe unmöglich machte. Jetzt, in der hellsten Zeit, ausschließlich auf ein enges Schiffsdeck angewiesen zu sein, war durchaus kein Vergnügen.

Unsere liebe »Lina« hatte sich seit einiger Zeit ziemlich wankelmüthig gezeigt. Trieben wir einen Tag nach Norden, so trieben wir gewöhnlich den nächsten Tag wieder dieselbe Strecke zurück. Solche verdrehte Wirthschaft konnte selbst eine bewährte Geduld auf die Probe stellen; aber wir kamen auch darüber hinweg und sagten wie das alte Weib, als es den Tisch mit der Katze scheuerte: »Du mußt es dir gefallen lassen, Mieze.«

Nachdem die Säge mit vieler Mühe angefertigt und das Eichenholz mit nicht weniger Mühe geschnitten worden war, ging es mit voller Kraft daran, Schlitten und Schneeschuhe in Stand zu setzen.

In dem Eise rund um das Schiff herum sowie in der Nähe hatten sich große Rinnen, und Risse gebildet. In diesen konnten leicht Pressungen entstehen, die für das Schiff verderbenbringend werden konnten. Es galt deshalb, auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein. Aus demselben Grunde wurde auch eines der großen Schiffsboote auf das Eis gebracht, um uns als vorläufiger Aufenthaltsort zu dienen, falls der »Fram« etwas zustoßen sollte.

Am 20. Juni schoß ich eine Lumme. Ich servirte sie Kapitän Sverdrup gebraten zum Frühstück. Es war das erste frische Fleisch seit langer Zeit und als solches ein doppelter Leckerbissen. So klein der Vogel war und so gut er ihm auch schmeckte, konnte es Sverdrup doch nicht übers Herz bringen, ihn allein zu verzehren, sondern bestand darauf, ihn mit uns zu theilen. Es zeigten sich im ganzen recht viele Vögel, aber wir hatten durchgehends Pech mit dem Erlegen, und erst am 7. Juli hatten wir so viele geschossen, daß wir an diesem Tage, einem Sonntage, gebratenes Geflügel zu Mittag essen konnten. Das war ein Fest für uns, die seit einem halben Jahre kein frisches Fleisch gekostet hatten!

Die am 22. Juni angestellte Beobachtung ergab, daß wir uns jetzt auf 84° 31' nördlicher Breite befanden. In vier Monaten waren wir also im ganzen 28' nach Norden vorgerückt. Das war allerdings nicht sehr ermuthigend, aber wir mußten hoffen, daß die letzte Hälfte des Sommers und der Herbst besser sein würden. Der nächste Tag war ja der Vorabend des Johannisfestes und der darauffolgende der Johannistag, der zweite Jahrestag unserer Abreise aus der Heimat. Möchte es eine gute Vorbedeutung sein!


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