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So kam der 19. Mai. Wir standen bereit, nach Süden zu ziehen:
Immer weckt des Frühlings Kommen
Sehnsucht mir im jungen Sinn.
Frei macht er von allen Banden,
Drinnen ich gefangen bin,
Bringet Licht in Dunkelheit.
Sei willkommen, Frühlingszeit!
Nie hat solch ein stark Empfinden
Mir ein Frühling noch gebracht;
Nie hat er sein Siegeszeichen
Aufgepflanzt mit gleicher Macht.
Tilget doch sein lichter Strahl
Dreier Jahre Wintersqual.
Nach des Südens milden Auen
Lockt der helle Frühlingsschein,
Füllt die Herzen uns mit Freude,
Gibt uns neues Leben ein.
Trag' uns, Lenz, hold unsern Wegen,
Heim, dem Sommerlicht entgegen!
Diese Zeilen finde ich auf dem letzten Blatte in meinem Tagebuche. Sie sind von Ruß und Thran fast unleserlich; ich glaube aber, sie werden dem Leser ein Bild von unserer Sehnsucht nach dem Lichte, der Wärme und dem Kommen des Frühlings geben.
Nun war er da, der Frühling! Nun sollten wir diesem unwirthlichen Strande, über den so viele schwere Stürme dahingefegt, Lebewohl sagen; wir sollten Abschied nehmen von den Gletschern und den Basaltbergen, den Geröllfeldern und den Knochen und Fellen der Bären, die wir erlegt; unserer Höhle mit dem harten Steinbette sagen wir Lebewohl und überlassen alles den Füchsen!
Ja, es war ein seltsames Gefühl, als wir spät am Nachmittag mit unsern schweren Schlitten nach dem geheimnißvollen Vorgebirge zogen, das wir die ganze Zeit hindurch immer aus der Ferne betrachtet hatten. Wir waren anfangs nicht gar zu eifrig, da wir im Ziehen noch ungeübt waren; wir lagerten uns daher bald auf dem ebenen Eise und schlugen unser neues Zelt auf in dem frohen Bewußtsein, auf dem Heimwege zu sein.
Die Kajaks bildeten die Wände, die Segel das Dach, und nachdem wir uns ein wenig in die Schneewehe eingegraben, hatten wir ein ganz comfortables Haus, das, wie Nansen meinte, verewigt werden müßte. Auf dieser Reise an der Küste hinunter lösten wir uns beim Kochen täglich ab.
Am 21. Mai erreichten wir das Vorgebirge, müde und abgespannt von den ungewohnten Anstrengungen. Nansen erstieg den Berg, um sich mit dem Feldstecher die Gegend anzusehen, während ich das Lager in Ordnung brachte. Als er wiederkam, erzählte er, er sehe gar nicht weit von uns hinter der Insel vor dem Vorgebirge eine große offene Rinne liegen; die blaue Luft, die wir hier so oft beobachtet haben, ließ sich jetzt erklären. Zwei neue Gletscherinseln hatte er auch entdeckt. Weiter südlich zeigte sich, den fernern Verlauf der Küstenlinie verdeckend, ein Vorgebirge, ähnlich dem, bei welchem wir uns befanden.
23. Mai. Gestern Morgen begann es schon, als wir Frühstück aßen, zu wehen und zu schneien, und das Unwetter nahm noch zu, als wir herausgekommen waren und das Lager abbrachen. Als wir uns mit den Schlitten aufmachten, kamen wir nur eine kleine Strecke weiter. Es war nicht rathsam, in solchem Wetter zu wandern; wir mußten deshalb bleiben, wo wir waren, ein ordentliches Haus bauen und uns in Geduld fassen.
Der Südweststurm tobte den Tag und die Nacht hindurch; heute hat er sich ein wenig gelegt, und die Temperatur betrug + 0,4°, sodaß der Schlafsack am Morgen ganz naß war. Wir sind auch heute noch hier geblieben und haben einen Ausflug nach Süden unternommen und dabei gesehen, daß das Land sich in dieser Richtung noch weiter hinzieht.Auf diesem Ausfluge waren wir, ohne etwas davon zu ahnen, nur wenige Schritte von einem Lebensmitteldepot entfernt, das die Engländer auf ihrer Tour im Frühling 1895 in einer engen, schmalen Gebirgskluft angelegt hatten. Der Schnee hatte sich außerhalb derselben zu einer so großen Wehe angehäuft, daß die Stelle einer Bergmulde glich. Nansen überschritt dieselbe und brach ein paar Stücke von dem Gesteine los, um sie mit nach Hause zu nehmen. Aus der Beschreibung der Engländer hörten wir später, daß das Depot gerade in dieser Kluft gelegen hatte.
Offenes Wasser sahen wir wol, doch nicht mehr so viel wie am ersten Tage, als wir hierher kamen. Die beiden weißen Inseln, die Nansen im Südwesten erblickt hatte, waren heute nicht sichtbar. Wir haben Ruder zurecht gemacht, die Fugen der Kajaks mit Stearin verkittet und unsere Sachen für die Seereise umgestaut.
Als wir am Morgen des 22. unser Frühstück kochten, sahen wir in unserer Nähe einen Bären die Spuren beschnüffeln, die ich am Tage vorher beim Eisholen hinterlassen hatte. Der Bär hatte keine Witterung von uns und setzte seinen Weg ruhig fort. Vom Schlafsacke aus, in dem wir lagen, während neben uns im Schnee »Primus II.« unter dem Topfe mit dem Frühstück flammte und knisterte, hätten wir ihn bequem schießen können. Wir hatten jedoch für den Augenblick Fleisch genug und ließen den Bären in Frieden ziehen.
Am Nachmittag des 24. Mai konnten wir aus unserm Lager am Vorgebirge aufbrechen und auf die Insel davor lossteuern, um so an das offene Wasser hinter dieser zu gelangen. Wir hatten etwas östlichen Wind und hißten die Segel auf unsern Schlitten auf. In der Nacht kamen wir vor der Insel an. Hier überfiel uns ein so stürmischer Südwest, daß die Kajaks kenterten und wir Hals über Kopf ans Land flüchten mußten. Ich mußte halt machen, um Mast und Segel zu bergen und sie ordentlich auf dem Kajakdeck festzumachen.
Unterdessen war Nansen schon weit voraus. Da sah ich seinen Schlitten und sein Kajak stillstehen. Er ist wol auf den Schneeschuhen ausgeglitten, dachte ich, da dies uns manchmal passirte, wenn wir große Schneehügel überschritten. Ich war fertig und spannte mich wieder vor; doch was war das? Nansen war ja noch immer an derselben Stelle! Wie seltsam, daß er nicht aufsteht und weiter geht!
Da hörte ich ihn schreien. Ich machte mich auf den festgebundenen Schneeschuhen auf und war bald bei ihm; ich sah jetzt, daß er in einer überschneiten offenen Eisspalte lag. Die Schneeschuhe waren an den Füßen festgebunden, er konnte sich daher nicht rühren und sank immer tiefer in den Schneeschlamm ein. Schlitten und Kajak hatte er hinter sich; er wußte nicht, ob sie unter oder über dem Wasser waren; das Zugseil war an dem Geschirr auf seinem Rücken befestigt.
Vorsichtig trat ich an den Rand der Spalte, packte Nansen's Eisstock mit festem Griffe und half ihm damit wieder heraus. Er hatte, als er so lag; schon lange auf Hülfe gewartet und mehrere male gerufen, ohne daß ich es jedoch gehört hätte. Wir lernten daraus, daß wir auf solchem Eise die Schneeschuhe nicht festbinden durften.
Den Rest des Weges mußten wir vorsichtig weiter tappen und fanden dann auf einem schmalen Streifen festen Eises neben einer großen Spalte bei der Insel einen einigermaßen guten Lagerplatz; Nansen kam in den Sack, und sein nasses Zeug wurde zum Trocknen aufgehängt.
27. Mai. Auch heute noch liegen wir, von Wind, Schnee und Regen festgehalten, auf dieser verwünschten Insel. Walrosse gibt es hier in Menge; auf dem Eise liegen sie scharenweise, und aus den Spalten tauchen sie einzeln auf, um uns anzuglotzen. Wir gingen nach Norden an der Insel entlang. Es waren hier viele häßliche Spalten und in Abnahme befindliches Eis; hier und da zeigten sich Walroßköpfe, ja einige dieser Thiere begleiteten uns und tauchten unterwegs dann und wann in den Spalten auf oder stießen gegen das Eis unter unsern Füßen, um uns zu zeigen, daß sie uns im Auge behielten.
Auch einen Ausflug nach Süden unternahmen wir auf der Insel. Es wehte tüchtig, aber wir sahen viel offenes Wasser und wünschten nur, daß wir bei schönem Wetter mit Segelwind draußen an der Eiskante wären.
2. Juni. Der Mai ist zu Ende, wir sind noch immer nicht weiter. Leider haben wir ein noch stärkeres Unwetter gehabt; noch liegen wir »wetterfest« am Südende dieser Insel, die wir »Gänse-Insel« genannt haben, weil wir dort Spuren von wilden Gänsen fanden.
Am 28. Mai verließen wir unsern Lagerplatz am Nordende der Insel und zogen hierher, wo wir noch zwei Schneestürme ausgehalten haben. Am 31. war der erste zu Ende, dann kam eine kleine Pause mit klarem Wetter, sodaß wir schon Hoffnung hegten, zur Rinne hinauskommen zu können. Statt dessen erhob sich ein neuer Sturm; es war der ärgste, hoffentlich aber auch der letzte. Jetzt ist er schon bedeutend im Abnehmen begriffen, und das Barometer, das bis auf 723 Millimeter gefallen war, steht jetzt auf 746 Millimeter. Wir hoffen also, morgen erlöst zu werden, nachdem wir gleich am Anfange unserer Reise vom Unwetter festgehalten worden sind. Das ist betrübend. Unser Fleischvorrath ist auch zu Ende, wir haben nur noch etwas gekochtes Fleisch.
Schlimm genug ist es, tagaus tagein in einem erbärmlichen Zelte im nassen Schlafsacke zu liegen, immer tiefer in den schmelzenden Schnee einzusinken und sich hin und wieder einmal umzudrehen, wenn die Seite, auf der man liegt, gar zu naß wird. Dabei treibt der Sturm das Schneegestöber durch die kleinste Oeffnung herein und läßt es über den Sack sprühen, sodaß wir alle Augenblicke aufstehen müssen, um die Ritzen zu verstopfen. Und dazu noch zu wissen, daß man nicht weiter kommt, während die Zeit dahingeht und der Sommer herannaht, der Sommer unserer Freude; sich hier an das Unbekannte gefesselt zu fühlen, während die Sehnsucht das Herz in der Brust höher schlagen macht: das fällt uns schwer aufs Herz, nachdem wir anderthalb Jahre in dieser Eiswüste wie Thiere, nicht wie Menschen gelebt haben. Doch Geduld, dich müssen wir noch eine Weile bewahren, und alle Herrlichkeit wird unser sein!
Als wir am letzten Donnerstag hierherzogen, sahen wir viele Walroßgruppen auf dem Eise liegen. Nansen wollte eine von ihnen photographiren und stahl sich daher vorsichtig bis zu einem Eishaufen neben den Kolossen. Als er sich aufrichtete, um eine Aufnahme zu machen, sprang ein Weibchen mit einem kleinen Jungen durch ein ganz in der Nähe gelegenes Loch ins Wasser. Aber das Verschwinden der übrigen hatte Nansen nicht zu befürchten, sie legten sich ruhig zum Schlafen hin.
Ich kam ebenfalls herbei und bombardirte die Bestien mit Eisklumpen, damit Nansen doch ein einigermaßen »lebendiges« Bild von ihnen bekäme. Jetzt hatten wir keine Sorge mehr, sie zu verscheuchen; im Gegentheil, wir erschreckten sie, wo wir nur konnten. Nansen schlug sie mit dem Schneeschuhstocke auf die Schnauze und photographirte unentwegt darauf los. Sie lagen still, erhoben bisweilen den Kopf, gruben die Zähne in das Eis ein und glotzten uns verwundert und verdrießlich an.
Am Morgen des 3. Juni erstiegen wir beide den Gipfel der »Unwetterinsel«, um uns nach dem Weiterwege umzusehen. Eine traurige Enttäuschung wurde uns zutheil: die große Rinne war nicht mehr da; der Südweststurm hatte alles Eis hineingetrieben.
Wir begannen nun über das Eis nach einem jäh abstürzenden Berge und dem letzten neuen Vorgebirge dieses merkwürdigen Landes hinzuziehen. Unterwegs hatten wir guten Wind und hißten Segel auf den Schlitten auf. Das Eis war jedoch dünn und gefährlich zu befahren, die Schneeschuhe drückten sich in die obenliegende nasse Schneeschicht ein, und die Spuren, die wir hinterließen, füllten sich mit Wasser. Wir waren daher froh, als wir nach einer guten Tagereise unter Land kamen und bei einem Gletscher zwischen einer hohen BasaltklippeDiesen Berg hat Jackson »Kap Fisher« genannt. und dem Vorgebirge Lager schlagen konnten.
Unser Fleischvorrath war zu Ende. Alke flogen an der Basaltklippe genug hin und her, aber sie flogen zu hoch. Zwei Eissturmvögel hatten wir unterwegs geschossen, dies verschlug jedoch nicht recht. Wir gingen deshalb auf eine in der Nähe des Zeltplatzes liegende Gruppe von Walrossen zu und schossen eins. Nur mit Mühe gelang es uns, die andern wegzujagen, damit wir uns von dem erlegten Thiere ein Stück Fleisch abschneiden konnten.
Am Abend dachten wir es uns so schön, eine Speise aus dem gewonnenen Blute zu bereiten, und kochten daher Fisch- und Maismehl mit Walroßblut und Thran. Wir glaubten, es müßte ein köstliches Gericht werden, aber als es fertig war und wir einzuhauen begannen, konnten wir uns für den Geschmack gerade nicht sehr begeistern.
Am nächsten Tag zogen wir nach dem Vorgebirge. Es wehte ein noch besserer Segelwind als früher, und vorwärts ging es mit großer Schnelligkeit. Als wir zum Vorgebirge kamen, war dort offenes Wasser, der Nordwind hatte die Rinnen wieder geöffnet. Zum ersten male auf dieser Fahrt setzten wir das Kajak ins Wasser. Es war ein herrliches Gefühl, die Ruder wieder gebrauchen zu können und sich vom salzigen Seewasser bespritzen zu lassen.
Dort flogen und tauchten Vögel; Krabbentaucher lagen scharenweise auf dem Wasser, Stummelmöven schwebten in graziösem Fluge umher, und zwei neue fremde Vögel flogen rasch über unserm Kopfe dahin. »Das waren wahrhaftig Eiderenten!« sagte Nansen. Am Ufer sahen wir auch zwei wilde Gänse. Es war uns auf einmal zu Muthe, als wären wir weit nach Süden vorgerückt.
Wir ruderten vor gutem Winde eine tüchtige Strecke am Lande entlang, bis wir auf eine feste Eiskante stießen, wo wir das Lager aufschlugen.
Am 6. Juni haben wir die beste Reise gehabt. Dem offenen Wasser konnten wir nicht folgen, es ging nach Nordwest, aber es wird sich weiter südlich wol an irgendeiner Stelle dem Lande wieder nähern, da wahrscheinlich einige Inseln, die weit draußen liegen, das Eis festhalten. Wir folgten also nicht dem Wasser, sondern richteten den Kurs auf ein paar niedrige Inseln im Süden; es war so nebelig, daß wir unsere Umgebung nicht sehen konnten.
Nansen befestigte ein Ruder, ich eine Bambusstange am Vorderende des Kajaks; wir standen auf Schneeschuhen davor und hielten uns an diesen Steuerstangen fest, während der Wind in die Segel fiel und uns, die Schlitten und die Kajaks dahintrieb. Nach einer guten Tagereise schlugen wir, müde und hungerig, aber seelenvergnügt, unser Lager bei der westlichsten der Inseln auf.
Es ist merkwürdig, wie lange wir hier ohne Nahrung in Bewegung sind; 12 bis 14 Stunden zwischen jeder Mahlzeit ist das Gewöhnliche, und dabei haben wir hart zu arbeiten, hauen dafür aber auch tüchtig ein. Die Blutspeise, die wir bereitet haben, hält freilich noch lange vor; wir essen bei jeder Mahlzeit davon, aber es will uns dünken, als ob noch immer ebenso viel da sei. Fortwerfen wollen wir sie nicht, wir müssen also sehen, daß wir sie aufessen; aber scheußlich schmeckt sie.
Eine Mittagshöhe zeigte, daß wir uns auf 80° 45' nördlicher Breite befinden. Jetzt ist es wol ziemlich sicher, daß wir nicht auf Franz-Joseph-Land sind, sondern auf einem aus unzähligen Inseln bestehenden Lande weiter westlich. Der Weg nach Spitzbergen wird also kürzer.
Die beiden folgenden Tage segelten wir vor heftigem Winde auf dem Eise. Gegen Westen hatten wir beständig ein großes Gletscherland, auf der Ostseite passirten wir zwei niedrige Vorgebirge mit Inseln und Wasserstraßen dazwischen. Wir segelten nach Noten. Gewöhnlich war ich ein Stück voraus; ich sauste auf den Schneeschuhen leichter dahin als Nansen, der schwerer vorwärts zu bringen war. Manchmal ging es so schnell, daß wir uns nur mit Mühe auf den Schneeschuhen aufrecht halten konnten, und gelegentlich segelten wir auch mit unsern gestutzten Schlitten um.
Am 8. Juni machten wir eines Schneesturms wegen halt und gruben uns, nachdem wir die ganze Nacht auf den Beinen gewesen waren, am Vormittage in eine Schneewehe ein. Am nächsten Tage wurde lustig weiter gesegelt; der Schnee war naß, aber es ging trotzdem.
An einer Stelle nahe beim Lande hätte ich mich beinahe unter das Eis gesegelt; die Schneeschuhe und der Schlitten schnitten ein, ich konnte nur mit knapper Noth wieder herausklettern und den Schlitten von dem Schneeschlamme weg auf festes Eis schieben. Nansen, der hinter mir war, konnte rechtzeitig beidrehen. Dann mußten wir die Segel reffen und einen langen Umweg machen, ehe wir wieder weitersausen konnten.
9. Juni. Tagsüber geht es jetzt gut. Wir ziehen vor kräftigem Segelwinde am Lande entlang, das sich noch immer in südlicher Richtung erstreckt. Wir können noch nicht recht dahinter kommen, wie es sich im Süden mit dem Lande verhält, und haben heute gefürchtet, daß wir im Begriffe seien, in einen Fjord hineinzusegeln. Doch ist dies gewiß nicht der Fall, es ist sicherlich ein Sund.
Unser Fleischvorrath ist wieder zu Ende, ein wenig gekochtes Fleisch haben wir freilich noch; heute Abend werden wir Grütze von Fischmehl essen.
Vom 10. bis zum 12. Juni segelten wir mit solcher Geschwindigkeit auf dem Eise dahin, daß es oft schwer war, sich auf den Schneeschuhen aufrecht zu halten.
Am 12. sagten wir dem Lande östlich von uns Lebewohl und hielten uns an das auf der Westseite. Eine Wasserstraße zertheilte dieses Land, und auf seiner Südseite entdeckten wir von einem Eishügel herab offenes Wasser; wir konnten das Brausen der Brandung an der Eiskante hören.
So zogen wir denn zum Wasser hinaus. Jetzt hieß es, auf anderm Eise als bisher fahren, es war wieder unser alter Bekannter, das holperige Treibeis.
Der Wind frischte auf, als wir das Wasser erreichten. Die Kajaks wurden zusammengebunden, das Segel gehißt, wir krochen in das Loch, Nansen nahm einen Schneeschuh und steuerte damit, und vor einer frischen Brise ging es vorwärts am Lande entlang.
Nun waren wir also auf der Südseite, aber noch konnten wir nicht klug daraus werden, wo wir uns eigentlich befanden. Nansen sprach davon, daß es am Ende doch Franz-Joseph-Land sein könnte. Er meinte, es stimme hier alles mit Leigh Smith's Karte über die Südseite dieses Landes überein. Ich dagegen meinte, nach Payer's Karte könne es dies nicht sein.
Inzwischen segelten wir flott weiter und legten, als der Wind am Abend abflaute, an der Eiskante an. Nansen erklomm einen Eishügel, um sich nach dem Fahrwasser umzuschauen. Als er wieder zurückkam, wollten wir miteinander auf den Hügel steigen. Die Kajaks wurden mit einem Riemen an dem in das Eis gestoßenen Schneeschuhstocke festgebunden.
Als wir oben auf dem Hügel angekommen waren, sah ich zufällig, daß die Kajaks sich von dem Stocke losgerissen hatten und im Begriffe waren, fortzutreiben. »Dort, dort!« rief ich, und beide stürmten wir den Hügel hinunter. Nansen riß sich einige Kleidungsstücke vom Leibe.
»Nimm die Uhr!« sagte er und gab sie mir; sorgenvoll schaute er nach den Kajaks aus, während er sich auszog, und sprang dann ins kalte Eiswasser.
Dort trieb unser ganzes Hab und Gut fort: unser Proviant, Kleider, Munition, Gewehre und unsere einzigen Mittel, vorwärts zu kommen. Das Einzige, was auf dem Eise lag, war mein Packsack; ich hatte das Schuhzeug gewechselt, während Nansen das erste mal auf dem Eishügel war.
Nansen schwamm, und die Kajaks trieben. Immer weiter entfernten sie sich, immer ernster wurde die Situation; es war ungewiß, ob er in dem kalten Wasser eine so lange Strecke würde schwimmen können. Ich konnte nicht ruhig bleiben. Ich lief auf dem Eise hin und her und konnte doch nichts, gar nichts thun. Ich sah nach Nansen hin, der von Zeit zu Zeit auf dem Rücken schwamm, um auszuruhen, und hatte Angst, er möchte einen Krampf bekommen und vor meinen Augen sinken. Es half ja nichts, wenn auch ich mich hineinstürzte.
Er entfernte sich immer mehr, die Schläge wurden matter und matter. Nun kann er bald nicht mehr – endlich sehe ich ihn mit Mühe in das eine Kajak greifen; er versucht, sich emporzuschwingen, ist aber anfänglich nicht dazu im Stande; noch ein Versuch, es glückt ihm, jetzt sitzt er oben auf dem einen Kajak. Mir fällt ein schwerer Stein vom Herzen.
Nansen ergreift ein Ruder und beginnt, wieder auf die Eiskante zusteuernd, auf beiden Seiten der zusammengebundenen Kajaks zu paddeln. Diese Ruderfahrt war, wie er nachher sagte, beinahe das Allerschlimmste. In den dünnen, klatschnassen Kleidern, durch die der Wind blies, fror er entsetzlich.
Plötzlich sehe ich ihn aufhören zu rudern; er ergreift die Flinte und schießt zwei Alke, die vor dem Buge liegen. Da muß es, denke ich, doch nicht so schlecht um ihn stehen. Er fischt die Alke auf und rudert weiter, endlich legt er an der Eiskante an, eine kleine Strecke östlich von der Stelle, wo die Kajaks abgetrieben sind. Ich eile dorthin, und gleich sind wir wieder am Landungsplatze. »Wie geht es dir?« frage ich.
»Es ist so kalt, so kalt«, antwortet er mühsam.
Ich half ihm beim Ausziehen der nassen Kleider und zog ihm die paar trockenen Sachen an, die wir noch hatten. Hierauf entledigte ich mich meiner Beinkleider und gab sie ihm, holte den Schlafsack ans Land, ließ ihn hineinkriechen und deckte ihn dann mit den Segeln zu.
Er sah schlecht aus, als er kam. Das Gesicht war bleich, das lange Haar und der Bart naß; Schaum stand ihm vor dem Munde, das Sprechen machte ihm Mühe, er konnte beinahe nicht stehen und zitterte vor Kälte unaufhörlich.
Als Nansen gut im Sacke untergebracht worden war, galt es, unsere Habe höher auf das Eis hinaufzubringen, ein ordentliches Haus zu bauen, das nasse Zeug auszuringen, Essen zu kochen u. s. w. Ich besorgte dies alles in meiner leichten Kleidung; glücklicherweise war schönes Wetter. Dann und wann eilte ich zum Schlafsacke, der sich noch immer bewegte, und lauschte gespannt. Nach einer Weile schlief Nansen; ich ließ ihn schlafen, bis alles fertig war.
Als er wieder aufwachte und ich mich nach seinem Befinden erkundigte, hatte er seine natürliche Stimme wieder und befand sich wohl. Wir verzehrten nun die Alke, die unter so außergewöhnlichen Umständen geschossen worden waren, besprachen die ernsten Ereignisse dieses Tages und priesen uns glücklich, daß wir alle unsere Sachen behalten hatten.