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Der Winter, dem wir jetzt entgegengingen, war der dritte im Polareise. Er erfüllte uns alle mehr und in ganz anderm Grade mit Furcht, als die beiden vorhergehenden es gethan hatten. Wir hatten das Gefühl, daß es in diesem Winter mehr Stürme, stärkere Niederschläge, heftigere Pressungen, kurz mehr zu bekämpfende Gefahren als bisher geben würde. Ferner sahen wir es nun als ziemlich sicher an, daß nahe im Westen irgendwo Land zu finden sein müsse, wenn wir auch nicht wußten, wo es lag oder wie weit es sich nach Norden erstreckte. Dieses Land war unserer Meinung nach von ungeheuern Gletschern bedeckt. Unsere Hoffnung war, daß wir es jetzt schon hinter uns hätten, denn sollte die »Fram« im Dunkel der Winternacht gegen dasselbe gepreßt werden, so würde sie damit trotz ihrer soliden Bauart dem Untergange geweiht sein.
Doch selbst wenn wir einer solchen Strandung entgingen, war das Zutrauen auf die Widerstandskraft der »Fram«, seitdem das Schiff zu lecken begonnen, nicht mehr so felsenfest wie früher; besonders da sie seit ihrer Befreiung aus dem Eislager immer noch fortfuhr, Wasser, und zwar nicht wenig, zu ziehen. Vorher war die Möglichkeit vorhanden gewesen, daß sie das Leck über der Wasserlinie hätte; nun hatten wir die Gewißheit, daß es irgendwo im Boden sein mußte.
Es galt also wirklich, seine Sachen in Ordnung zu haben, um in dem Augenblick, wenn die Anzeichen es geboten, zum Verlassen des Schiffes bereit zu sein. Schon jetzt – ich entnehme dies meinem Tagebuche vom 13. und 14. August – hatten wir jeder unsern Sack mit Zeug fertiggepackt auf Deck stehen. Schlitten, Schneeschuhe und Schneeschuhstöcke, Schneestiefel, Bärenspieße und vieles andere – alles war parat. Draußen auf dem Eise lagen die zwei Großboote und zwei andere Boote, theils um uns als Wohnung zu dienen, theils um das Schiff so viel wie möglich zu erleichtern, da die »Fram« mit ihrer Last an Kohlen und Proviant noch immer recht tief ging.
Was noch zu thun bevorstand, ehe wir uns für ganz bereit betrachten konnten, war das gründliche Ordnen der Proviantdepots. Hieran wurde mehrere Tage gearbeitet. Außerdem wurde alles, was an Bord als Sack und Tonne gelten konnte, mit Kohlen gefüllt und auf das Eis gebracht. Um dazu möglichst viele Fässer gebrauchen zu können, schütteten wir Dinge wie Oel, Salz und Thran in Kisten und Kasten.
Ich habe schon gesagt, daß der Gedanke an den bevorstehenden Winter uns ganz anders als früher mit Furcht erfüllte. Denn uns drohten nicht nur die äußern Gefahren! Selbst wenn uns nichts zustieß, selbst wenn wir in dem kommenden Winter an Bord der »Fram« ebenso sicher waren wie bisher, würden wir selbst dann auch den Winter aushalten können? Würden wir dieses Leben zum dritten mal führen können, ohne geistig zusammenzubrechen? Ja, wüßten wir nur gewiß, daß es auch der letzte Winter wäre und es nach der Heimat ginge, wenn wir ihn hinter uns hatten!
Doch dessen konnten wir durchaus nicht so sicher sein. In lichten Stunden glaubten wir es, in düstern Stunden zweifelten wir daran. Und wenn dieser Zweifel uns ins Ohr flüsterte, dann war der Gedanke an die herannahende unvermeidliche Winternacht wie das Hinabstarren in einen ungeheuern schwarzen Abgrund, aus dem es keinen Ausweg gibt. Man muß wie wir zwei lange Polarnächte durchlebt haben, um das Grauen, mit der wir der dritten entgegensahen, von Grund aus verstehen zu können, und man darf uns darum nicht der Feigheit zeihen.
Arbeit – Thätigkeit für Hand und Kopf! Das war beständig die beste Arznei gegen die Grübeleien. Und noch hatten wir genug zu thun, glücklicherweise! Später, als beinahe alle wirkliche Arbeit erledigt war, wurde es schlimmer, zehnmal schlimmer!
Ein abscheulicher Eishügel, der seit dem »Stapellaufe« der »Fram« rechts vom Schiffe in nicht ganz gefahrloser Nähe trieb, machte Scott-Hansen und mir recht viel zu schaffen. Wir waren am 14. August den ganzen Tag damit beschäftigt, zwei unterseeische Minen, jede mit 8 Prismen Schießbaumwolle, für den Unhold vorzubereiten. Nachdem wir damit fertig waren, zwei Leinen mit Senkblei versehen und das neue Eis rund herum aufgebrochen hatten, vertheilten wir die Minen mit ihren elektrischen Leitungen unter dem Eise. Nun sollten wir losknallen. Die andern standen alle erwartungsvoll an Bord oder draußen auf dem Eise, um die Wirkung zu beobachten, Sverdrup und Blessing jeder mit einem photographischen Apparate bewaffnet, um den großen Augenblick der Explosion aufzunehmen.
Ich schloß den elektrischen Strom. Wir erwarteten ein gewaltiges Donnergepolter; aber – o weh! es kam nur ein erbärmlicher Knall gleich einem schwachen Pistolenschuß, und von einer Wirkung auf das Eis konnte gleich gar keine Rede sein.
Nachdem wir die Minen wieder hereingenommen hatten, stellte sich heraus, daß das Zündhütchen zwar explodirt war, jedoch ohne auf die Schießbaumwolle einzuwirken, die ganz unberührt geblieben, aber von dem eingedrungenen Wasser verdorben worden war.
Gut! Die Kameraden lachten uns natürlich aus, aber wir verloren darob den Muth nicht, sondern machten möglichst gute »Minen« zum bösen Spiel und erklärten, morgen sei auch noch ein Tag.
Der morgende Tag kam. Da legten wir eine Mine von 11 Prismen Schießbaumwolle. Da aber der Grund des Mißlingens unsers Versuches am Tage vorher darin gelegen hatte, daß die Schießbaumwolle kein Wasser vertragen konnte, steckten wir sie diesmal in wasserdichte Säcke und zündeten dann die Mine an.
Die Wirkung war großartig. Es gab einen Knall wie beim Kanonensalut am Geburtstage des Königs. Beinahe drei Viertel des Eishügels wurden losgesprengt und die Schollen rings umher in viele Stücke zerrissen. Eine andere Mine zur Sprengung der Reste des Eishügels konnten wir dagegen nicht zum Wirken bringen. Hier lag, wie sich später ergab, der Fehler in den Zündröhren.
Wir machten noch einige Versuche und hatten überhaupt viel Arbeit durch diese Minen, sowol beim Zurechtmachen wie bei ihrer Anbringung an Ort und Stelle. Man muß unter dem Eise hin eine Leine ziehen, wozu man es hier und da aufhacken und manch lästige Umwege machen muß. Darauf müssen die Minen an den Leinen bis an ihren Platz geholt und dort an beiden Enden befestigt werden, und dann kommen noch die elektrischen Batterien mit allem, was dazu gehört.
Den letzten Versuch, den sechzehnten, machten wir mit einer Mine von 12 Prismen Schießbaumwolle. Diese brachten wir auch nicht zum Explodiren, weshalb wir neue Zündröhren einsetzten und dachten: »Das nächste mal wird es wol besser glücken.«
Aber am nächsten Tage hatten wir an anderes zu denken. Gegen 8 Uhr morgens, als wir noch in unsern Kojen lagen, wurden wir plötzlich durch den Ruf aufgeschreckt: »Die Scholle ist gerissen! Auf und bergt die Boote!«
Es war die Scholle, auf der wir, nachdem die »Fram« flott geworden war, unser Eigenthum in »Sicherheit« gebracht hatten. In dem Sturme des vergangenen Tages war sie ein ziemliches Theil kleiner geworden, und die Katastrophe stand bevor.
Das Alarmsignal des Wachthabenden bewirkte, daß wir alle schleunigst aus den Kojen in die Kleider fuhren. Wir zogen uns Hals über Kopf an, denn wir wußten, was auf dem Spiele stand, wenn wir die Boote, besonders das eine große Schiffsboot, verloren. Ich glaube, keiner von uns brauchte mehr als zwei Minuten, bis wir angekleidet und auf Deck waren. Die Toilette war zwar auch danach, aber kein Soldat konnte präciser als wir auf dem Platze sein, wenn die Alarmtrommel geschlagen wird.
Das Eis war an mehrern Stellen geborsten, auch gerade unter dem Großboote, das doch auf einem verhältnißmäßig großen Eishügel lag. So mußten wir uns denn trotz des unfreundlichen, pechfinstern Morgens daran machen, unsere Habseligkeiten nach andern, sicherern Stellen zu bringen. Solcher gab es übrigens bald nicht mehr viele. Das ganze Eisfeld schien immer weniger vertrauenswürdig zu werden. Aber auch diesmal konnten wir unsere Sachen noch bergen.
Gleichzeitig hatte das Eis mit Pressungen begonnen. Die Scholle um die »Fram« herum riß an mehrern Stellen mitten durch, und beim Zusammenpressen wurde das Schiff mehrmals emporgehoben, sank aber wieder, sobald das Eis nachließ.
Von einer Scholle zur andern springend, retteten Scott-Hansen und ich mit vieler Mühe die Leinen und das sonstige Zubehör unserer Sprengminen. Wir hatten schließlich alle eine Uebung im Balanciren auf Eisschollen erlangt, vor der man wirklich alle Achtung haben konnte, und hätten gewiß bald die Meisterprüfung bestehen können, falls es verlangt worden wäre.
Im Laufe des Vormittags legte sich die Pressung ein wenig, begann aber gegen 2 Uhr von neuem in heftiger Weise. Während der Nacht stieß das Eis unaufhörlich so an den Boden des Schiffes, als wären wir auf eine Unterwasserklippe gerathen. Die beiden Schiffspumpen wurden daher der Sicherheit halber heraufgeholt.
Inzwischen fiel das Barometer immerfort, und der Wind nahm zu, beständig aus derselben wenig angenehmen Ecke, aus der wir ihn nun schon eine gute Weile gehabt hatten. Am 20. August entstand ein Sturm, der allerlei Schaden anrichtete. Unter anderm nahm er das Sonnendach des Thermometerhauses mit und brach die Ständer durch, und die »Fram« begann, zwischen den Eisschollen nach allen Richtungen hin zu treiben. Damit wir uns nicht gar zu weit von der Scholle, auf der wir unser Depot hatten, entfernten, wurde das Schiff mit zwei Trossen am Eise festgemacht. Die draußen befindlichen Hunde waren jämmerlich anzusehen. Heulend liefen sie von Scholle zu Scholle, und erst spät am Abend waren sie so müde, daß sie sich hinlegten. Wir konnten nur eben ihre Rücken aus dem Schnee, der hoch um sie herumlag, hervorragen sehen.
Wir hätten am 20. eine Sonnenfinsterniß beobachten sollen, doch wurde nichts daraus. Das heißt, ein wenig bekamen wir davon zu sehen, aber weder den Anfang, noch das Ende. Immerhin noch soviel, um constatiren zu können, daß unsere Chronometer sich mit der wahren Zeit in bester Uebereinstimnmng befanden und folglich die bisher gemachten Beobachtungen hoffentlich alle richtig waren.
Es war bei einem solchen abscheulichen Wetter, wie wir es in diesen Tagen die ganze Zeit über hatten, sauer, draußen auf dem Eise arbeiten zu müssen. Am 21. herrschte z.B. das reine Hundewetter. Der Sturm heulte und pfiff um uns her, und das Schneegestöber peitschte uns das Gesicht. Aber hinaus mußten wir dennoch: Scott-Hansen und ich der meteorologischen Apparate wegen und Hendriksen, um einen Beutel zu holen, den er ausgehängt hatte, um darin Copepoden für Blessing zu sammeln, der selbst nicht ausgehen konnte, weil er in der letzten Zeit unpäßlich gewesen und sich deshalb ein wenig in Acht nehmen mußte. Bei dem heftigen Schneetreiben war es fast unmöglich, sich zu orientiren, da der Schnee uns wie mit Millionen von Nadeln in die Augen schlug und uns beinahe blind machte. Als wir endlich nach vielen Mühen wieder an Bord waren, merkten wir erst, daß wir bis auf die Haut durchnäßt waren – und dies bei einer Kleidung wie der unsern – so dicht und heftig war das Schneegestöber, und fein wie Mehl drang der Schnee überall durch.
Die »Fram« lag ungeachtet ihrer zwei Trossen und Eisanker noch immer nicht gut. Einige Tage später gingen wir deshalb alle Mann daran, sie in eine Bucht hinein und an eine feste Eiskante heran zu bringen. Das Unglück dabei war jedoch, daß die ganze Bucht mit so dickem Eise bedeckt war, daß wir darauf gehen konnten. Mit Hülfe des Spills und einer Talje an den Trossen und dadurch, daß wir das Eis vor dem Buge, so gut es uns möglich war, aufbrachen, brachten wir sie allmählich doch vorwärts. Es ging gut, wenn auch nicht schnell, und am Abend desselben Tages hatten wir schon eine hübsche Strecke zurückgelegt. Am nächsten Tage griffen wir das Werk frisch von neuem an und bedienten uns der Eissäge, um das Eis vor dem Buge zu zerschneiden. Schon um die Mittagszeit lag die »Fram« mit drei Eisankern sicher vertäut in der Bucht, einen schmalen Streifen neuen Eises zwischen sich und dem festen Eise.
Der eine Eisanker löste sich unter dem starken Winde in der Nacht auf den 4. September, und wir mußten gleich zuspringen, um ihn wieder zu befestigen und die »Fram«, die von der Eiskante abzutreiben begonnen hatte, wieder herein zu holen. Dann gingen wir daran, verschiedene Gegenstände, die noch auf unserm frühern Lagerplatze liegen geblieben waren, nach dem jetzigen zu bringen. Auch das zum Seehundfang bestimmte Boot und die Schmiede mit Zubehör wurden dorthin transportirt. Scott-Hansen und ich mußten ebenfalls verschiedene Umzüge bewerkstelligen, sowie das Aufstellen des Segeltuchzeltes, das umgeweht worden war, besorgen, sodaß es einige Tage Arbeit genug gab. Nachdem der Umzugstrubel vorüber war, kehrte jeder wieder zu seiner täglichen Beschäftigung zurück.
Ich habe schon erwähnt, daß die ausgewachsenen Hunde noch auf dem Eise waren. Nun ließen wir eines Tages auch unsere kleinen jungen Hunde hinaus, die Mogstad beaufsichtigte. Doch dieser Umzug aufs Eis bekam ihnen nicht gut. Sie wurden naß und schmutzig, als sie frei umherlaufen durften, und zwei bekamen abscheuliche Krämpfe, sodaß Mogstad alle Hände voll zu thun hatte, um sie wieder an Bord zu befördern. Ein paar brachten wir in den Salon hinunter, die andern legten wir auf Decken in eine warme Kiste, und die, welche die Krampfanfälle bekommen hatten, erholten sich auch allmählich wieder. Am Nachmittag wurde Wasser heiß gemacht, und Mogstad und Sverdrup badeten alle jungen Hunde, die dann in einen Sack mit Sägemehl gesteckt wurden bis sie ordentlich trocken waren. Hierauf wurden sie in einem andern Sack auf das Eis hinausgetragen, wo ihnen aus dem Schutzdache der Vordertreppe ein neues Haus zurecht gemacht worden war und wo sie ein gutes warmes Lager von Hobelspänen erhielten.
Am Tage darauf ließ Mogstad sie zum zweiten mal auf das Eis hinaus; aber dieses Bild hätte man sehen sollen! Sie waren nun so glänzend rein und hübsch, daß man sie kaum wieder erkannte. Und wie lebendig waren sie geworden! Sie hüpften und tanzten und sprangen wie besessen umher. Einige von ihnen purzelten denn auch richtig in die Rinne, halfen sich aber selbst wieder heraus und das kalte Bad schien ihnen nach dem gestrigen warmen nichts zu schaden.
Im übrigen ging das Leben an Bord eine Weile seinen gewohnten Gang. Jeder that seine Arbeit, und immer gab es für alle genug zu schaffen. Eine Arbeit, von der die meisten von uns am liebsten befreit sein wollten, war der wechselweise umgehende Küchendienst. Einige konnten sich mit der Kocherei gar nicht aussöhnen, und diese Pflicht hatte im Laufe der Zeit manches mal zu privaten Reibereien oft ziemlich unangenehmer Art Veranlassung gegeben. Wir hatten unter uns nur einen einzigen, der die Küchenarbeit recht gern besorgte: Lars Petterson. Wir freuten uns deshalb alle, als mit seiner freiwilligen Zustimmung abgemacht wurde, daß er die Küche allein übernehmen sollte. Während einige der andern, wenn sie an der Reihe gewesen waren, dieses Geschäft nur soso lala und oft unter aller berechtigten Kritik besorgt hatten, trotzdem sie stets einen Mann zur Hülfe verlangt und auch bekommen, meinte Petterson, mit der Arbeit würde er recht gut allein fertig. Ja, er erbot sich sogar, in seiner freien Zeit noch für uns zu arbeiten, wenn wir etwas gethan haben wollten. Und zu seiner Ehre muß man sagen, daß dies keine Prahlerei von ihm war. Ohne auch nur eine Spur von Hülfe hielt er die Küche in einer so musterhaften Ordnung, wie es früher schwerlich je der Fall gewesen war, und ebenso war das Menü gut zusammengestellt und das Essen schmackhaft zubereitet. Das Allerbeste bei der ganzen Sache aber war, daß hiermit eine Quelle von Unruhe, Streit und unausgesetzten Reibungen für die Zukunft beseitigt worden war.
Ende August hatte sich der Wind endlich gedreht und war uns längere Zeit hindurch günstig. Die am 12. September angestellte Beobachtung ergab, daß wir den 85. Breitengrad feiern konnten. Es war dies kein so schlechtes Resultat für eine Zeit von vierzehn Tagen. Das Stimmungsbarometer, das während all des vielen Gegenwindes, all des schlechten Wetters und der Mühe und Arbeit, die wir eine ganze Weile gehabt, just nicht besonders hoch gestanden hatte, stieg auf einmal ganz großartig. Solche Gemüthsmenschen waren wir alle sammt und sonders, in verschiedenem Grade natürlich, durch die Macht der Verhältnisse geworden. Der einzige, bei dem sich nie eine sichtbare Veränderung zeigte, weder in der guten Laune noch im Wesen, war Kapitän Sverdrup. Er war und blieb stets derselbe ruhige, gleichmäßig freundliche, scharfblickende Mann. Es hatte fast den Anschein, als gäbe es gar nichts, was ihn aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Ob es sich wirklich so verhielt oder ob nur die beispiellose Kraft der Selbstbeherrschung des Mannes ihn so erscheinen ließ, während er vielleicht ebenso litt wie wir andern, »innerlich« vielleicht sogar doppelt litt, darüber kann ich natürlich kein Urtheil abgeben. In jedem Fall blieb diese unerschütterliche Ruhe bewundernswerth.
Am 14. September verließ uns die Mitternachtssonne für dieses Jahr. Es werden nicht mehr als zwei, drei Wochen hingehen, bis sie uns auch den Tag über verläßt und für diesmal ganz von uns Abschied nimmt. So hoch im Norden, wie wir uns jetzt befinden, steigt die Sonne, sobald sie sich zum erstenmal sehen läßt, am Himmel sehr schnell in die Höhe, doch wenn sie diese Gegend im Herbste verläßt, geht sie auch ebenso hurtig wieder zu Thal.
So stand denn die lange Winternacht schon da, guckte in die halbgeöffnete Thür und fragte, ob wir bereit seien, sie zu empfangen. Ja, ja, es ließ sich wol nicht ändern? Wir waren gezwungen, sie zu empfangen, ob wir wollten oder nicht. Außerdem hatten wir uns selbst frei und unbeeinflußt in die Gewalt der Schrecken und der Gefahren des Polareises begeben. Niemand hatte uns damals dazu gezwungen, und deshalb mußten wir uns auch wie Männer in das finden, was uns das Schicksal brachte. Da biß die Maus keinen Faden ab.
Während der folgenden Tage begannen Scott-Hansen und ich wieder allerlei beschwerliche Arbeit. Die beständige Unruhe im Eise hatte das Beobachtungshaus auf der neuen Scholle zerstört; wir mußten aber ein solches Haus haben. All die feinen Instrumente an Bord zu bringen, war nicht rathsam. Dort war viel zu viel Eisen, das einen störenden Einfluß auf sie ausgeübt hätte, und konnten wir draußen auf dem Eise einen guten sichern Platz für sie finden, so war es das Beste.
Wir gingen also ans Bauen und führten ein ordentliches, solides Haus mit Grundmauern von Eisblöcken auf. Scott-Hansen sollte der Baumeister sein und ich das Material herbeischaffen. Letzteres war eine gehörige Anstrengung. Die Eisblöcke, die wir zu den Grundmauern verwenden sollten, lagen in ziemlicher Entfernung von uns um einen Eishügel herum zerstreut. Dort mußte ich sie mit einer Axt nothdürftig behauen, dann auf den Schlitten aufschichten und mit einem Gespanne von sieben Hunden nach dem Bauplatze fahren. Es waren die schlechtesten Zugthiere, mit denen ich im Leben je zu thun gehabt habe. Da sie zu solcher Arbeit nicht abgerichtet waren, wollten sie alles andere lieber als ziehen. Sie begannen, sich vor dem Schlitten zu beißen, oder legten sich platt auf den Schnee nieder. Dann mußte die Peitsche herbei und über den Widerspenstigen geschwungen werden. Pfui, was für eine Wirthschaft! Ich hatte mehrere Tage lang mit diesem Eisfahren zu thun und muß gestehen, daß es eine Arbeit war, die unsere Kräfte und Geduld gehörig mitnahm. Schließlich leistete mir jedoch Kapitän Sverdrup gute Hülfe und später, am Vormittage des letzten Tages, halfen auch Hendriksen, Juell und Bentsen mit. Da ein Riß im Eise den Weg nach dem Eis-Steinbruch plötzlich unterbrochen hatte, mußten Hendriksen und ich einen andern suchen, den wir auch endlich jenseits einer Rinne fanden. Nun wurde die Geschichte aber noch schlimmer. Nach ein paar Fahrten mit den Hunden sahen wir ein, daß uns nichts weiter übrigblieb, als unsere Baumaterialien bis an die feste Eiskante zu tragen und erst dort auf den Schlitten zu laden, da wir sonst riskirten, Hunde und Schlitten in der Rinne verschwinden zu sehen. Hendriksen schleppte Eisblöcke, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann und ich hatte bei meinen Fahrten denselben Erfolg, denn, da wir nicht weniger als vier Mann mit Eis zu versorgen hatten, blieb zum Rasten keine Zeit. Aber um Mittag war das Haus endlich fertig. Wir pflanzten die norwegische Flagge auf dem Dache auf und weihten unser Haus feierlich mit einem Hoch auf den Baumeister und seine Gehülfen ein, in das die Hunde trotz ihrer Widerspenstigkeit einbegriffen wurden. Ich glaube aber nicht, daß sie unsern Edelmuth anerkannten.
Eine Arbeit, die uns tagtäglich viel Mühe machte, war das Lenzpumpen des Maschinenraums von dem Wasser, das dort durch das verborgene Leck beständig eindrang. Wir bedienten uns bei dieser Arbeit des Aschenhebers und des Ascheneimers. Unten im Raume stand Amundsen und schöpfte Wasser und Eis aus, das dann zwei Mann aufhißten und über die Rehling schütteten. Mit dieser Arbeit waren wir von früh morgens bis 5 Uhr nachmittags beinahe unausgesetzt beschäftigt; man sieht also, daß das Schiff nicht wenig Wasser zog.
Der 22. September war ein denkwürdiger Tag: es war die zweite Wiederkehr jenes Tages, an welchem wir im Eise einfroren. Scott-Hansen stellte am Nachmittag noch eine Beobachtung an, durch die wir erfuhren, daß wir uns nun auf 85° 2' nördlicher Breite und 82° 5' östlicher Länge befanden. Beide Begebenheiten feierten wir mit einer Bowle Punsch und waren den ganzen Abend sehr angelegentlich damit beschäftigt, mit Hülfe des Zirkels auf der Karte nachzumessen, wie weit wir in diesen zwei Jahren getrieben waren. Die Resultate, zu denen wir indessen kamen, waren gerade nicht aufmunternd, wenn man den langen Zeitraum, den wir dazu gebraucht hatten, mit in Anschlag brachte, und sie erschienen uns noch geringer, als wir in der Richtung, in der wir weiterkommen sollten, den uns noch bleibenden Abstand nachmaßen. Das Einzige, worauf wir bauen konnten, war thatsächlich allein die Aussicht, im Sommer von der Dampfmaschine Gebrauch machen zu können, d.h., wenn wir in hinreichend große Rinnen gelangten, die sich in der gewünschten Richtung erstreckten. Sonst mochten, nach den bisher erreichten Resultaten zu urtheilen, noch zwei, drei Jahre vergehen, bis wir endlich aus unserm Gefängniß herauskamen!
Unser größter Kummer war und blieb jedoch das Leck der »Fram«. Es ging uns wie einem Manne, der eine noch nicht zum Ausbruch gekommene Krankheit mit sich herumträgt; er will nicht glauben, daß ihm wirklich etwas Ernstliches fehlt, aber die Symptome sind da und quälen ihn täglich. Obgleich wir so wenig wie möglich von diesem Leck redeten, fühlte doch jeder instinctiv, daß nicht nur er selbst, sondern auch die andern sich in Gedanken beständig damit beschäftigten.
Gegen Ende September fiel die Temperatur auf -25 °C. Infolge dessen wurde es nöthig, den Hunden, die sich bisher im Freien auf dem Eise aufgehalten hatten, ein ordentliches Obdach zu bereiten.
Dasselbe mußte mit der Schmiede geschehen, wo Petterson seit dem Zerreißen des Eises auch kein Dach mehr über dem Kopfe hatte. Jetzt mußte also erst hieran tüchtig gearbeitet werden. Für die ausgewachsenen Hunde bauten wir Hütten aus Proviantkisten. Wir stellten diese aufeinander und füllten die Zwischenräume mit Schnee aus, und für die jungen Hunde errichteten wir ebensolche Hütten aus dem Schirmdache der Vorderluke. Die Hütten wurden so warm, daß es drinnen nur -7° waren, wenn wir draußen -25° hatten.
Die Schmiede führte Petterson ebenso aus, wie wir kurz vorher das Beobachtungshaus erbaut hatten. Er war sehr stolz auf sein Bauwerk, als er damit fertig war, und freute sich außerordentlich darüber, daß er wieder unter Dach und Fach arbeiten konnte. Er nannte es »Polareis-Schmiede und Maschinenfabrik« und ließ diesen großartigen Namen auf ein gewaltiges Schild malen, das er über der Thür anbrachte.
Am 6. October zeigte sich die Sonne zum letzten mal, und die Winternacht begann. Als ein Mittel gegen unsern schlimmsten Feind in der Zeit der Finsterniß hatten Amundsen und ich uns dahin geeinigt, eine Art schriftlichen Gedankenaustausches über verschiedene Themata miteinander zu führen. Die Correspondenz sollte in ein Buch eingetragen werden, das dann einer von uns verwahrte. Als Gegenstand unserer Betrachtungen wurde unter anderm auch ein Vergleich zwischen frühern Polarexpeditionen und der unsern aufgestellt. Wir gelangten hierbei zu folgenden Resultaten:
»Keine Expedition ist so lange ohne Verbindung mit Land und ohne Verkehr mit andern Menschen gewesen. Keine ist so lange ohne frische Nahrungsmittel geblieben und hat eine so lange Polarnacht durchgemacht wie wir.«
»Doch dabei hatte trotzdem keine eine bessere Ausrüstung, bessern Gesundheitszustand und geringere Strapazen gehabt, und keine hat eine so hohe nördliche Breite erreicht wie wir oder solche wissenschaftliche Resultate aufzuweisen gehabt.«
Amundsen und ich fuhren mit diesem schriftlichen Meinungsaustausch bis tief in den Winter hinein fort und kamen beide zu der Ansicht, daß er uns in unsern melancholischen Stunden eine große Hülfe war. Es wurde von jetzt an immer offenbarer, daß diejenigen, welche irgendwie geistige Interessen hatten, auf die sie zurückgreifen konnten, die größte Widerstandskraft gegen düstere Gedanken an den Tag legten. Diesen Wink gebe ich daher dem, der sich vielleicht an künftigen Expeditionen ähnlicher Art betheiligen will.
Am 7. October fand Jacobsen auf einem Schneeschuhausfluge einen Treibholzstamm, den er und Sverdrup auf einem Schlitten nach Hause beförderten. Der Stamm war ungefähr 2- ½ Meter lang und augenscheinlich aus der Lena-Mündung gekommen. Jedenfalls war es ein interessanter Fund.
Am 19. October ergaben unsere Beobachtungen, daß wir uns auf 85° 45' nördlicher Breite befanden. Die Temperatur betrug -29 °C. Um diese Zeit war die schlimmste Arbeit gethan, und wenn nicht etwas Besonderes vorfiel, was uns einmal einen Tag in Anspruch nahm, so benutzten wir die Zeit jetzt hauptsächlich zu Schneeschuhausflügen, um uns Bewegung zu machen, uns guten Appetit zu holen und – nicht zum wenigsten – den Tag hinzubringen und uns aufzuheitern.
Wir waren nun mit verschiedenen Kleidungsstücken gut versehen, nur mit den Handschuhen kamen wir zu kurz. Die wir von Hause mitgebracht hatten, waren längst dahin, und wir wußten uns weiter keinen Rath, als zu versuchen, aus alten Hosen und ähnlichem Material neue zu machen. Doch bald stellte sich heraus, daß solche Handschuhe bei der strengen Kälte gar nicht zu gebrauchen waren. Wenn wir die Fäuste zur Arbeit benutzten, ging es einigermaßen, und dann zogen wir sie auch an. Doch für unsere Schneeschuhausflüge und dergleichen nähten wir uns Fausthandschuhe von Wolfsfell, die wir infolge dessen auch als eine Art Promenadenhandschuhe betrachteten.
Am 25. October begann das Eis bedenklich unruhig zu werden. Es erhielt an Backbord einen so gewaltigen Riß, daß wir mit einer Anzahl unserer Sachen, die am meisten bedroht waren, wieder umziehen mußten. Die Bewegung hielt auch die folgenden Tage an; es bildeten sich mehrere Rinnen, und dann und wann gab es ziemlich starke Pressungen, und zwar dicht beim Schiffe. Sie waren nicht so heftig, daß wir uns veranlaßt gesehen hätten, aufs Eis zu flüchten, aber wir hatten doch alles bis auf unsere Schiffskisten an der Lenzluke bereitstehen und behielten das Eis beständig im Auge. Der Wind brachte die Eismassen jedoch ins Treiben, und die Pressungen hörten allmählich auf.
Der November kam, und mit ihm nahmen die Schneestürme ihren Anfang. Am 11. hatten wir einen aus Südsüdost, der mit einer Geschwindigkeit von nahezu 15 Meter in der Secunde wehte. Die Temperatur war bis auf -38° gesunken. Ein abscheulicher Tag! Die Musik, die uns am Morgen weckte, war das Heulen, Brausen und gellende Pfeifen des Sturmes im Takelwerk und in den Tauen, und steckten wir den Kopf aus der Salonthür, so schlug uns das Schneegestöber ins Gesicht, daß uns schier der Athem verging und wir unsere liebe Noth hatten, die Thür wieder zuzumachen. Es war, wie man sagt, ein Wetter, in welchem man keinen Hund vor die Thür jagen möchte. Doch für unsere Hunde schien es gar kein so fürchterliches »Hundewetter« zu sein. Sie hielten sich wie sonst draußen auf dem Eise auf und dachten gar nicht daran, unter Dach in ihre Hütte zu kriechen, sondern hatten sich im Schnee lang hingestreckt. Bald waren sie so tief eingeschneit, daß wir ihre Köpfe nur noch eben wie unter einer weißen Nachtmütze hervorgucken sahen.
Die Mannschaft der »Fram« hielt sich übrigens den ganzen Tag vorsichtig in den vier Pfählen auf. Nur wir, die die meteorologischen Instrumente abzulesen hatten, mußten hinaus und versuchen, ob uns dies gelingen würde. Es war eine saure Arbeit. Nicht einmal unsere Fellanzüge gewährten den nöthigen Schutz gegen Wind und Schneetreiben. Wir fanden die Verschanzungen, die wir auf dem Eise aufgeführt hatten, verschneit, und es kostete uns die allergrößte Mühe, unsere Instrumente wiederzufinden. Am nächsten Tag hatten wir eine anstrengende Arbeit, ehe wir all unsere Sachen wieder aus den Schneewehen herausgegraben hatten. Dabei kamen uns die Wolfsfellhandschuhe gut zu statten. Wir nahmen sie zum ersten mal in Gebrauch und fanden sie vortrefflich.
Wir trieben nun beständig nach Westen und durften also bald erwarten, den 60. Längengrad zu passiren. Dies bedeutete ungefähr ebensoviel, als daß wir dann durch das ganze unbekannte Polarmeer zwischen den Neusibirischen Inseln und Franz-Joseph-Land getrieben waren. Wir sahen diesem Ereigniß mit wirklicher Sehnsucht entgegen. Bedeutete es doch nicht weniger, als daß wir dann unsere Aufgabe als gelöst betrachten konnten und fürderhin das Recht hatten, uns soviel als möglich anzustrengen, aus dem Eise loszukommen und nach der Heimat zu steuern. Und hatten wir erst den 60. Grad passirt, so würde in dieser Hinsicht viel gewonnen sein. Denn dann waren wir auch in bekannte Gewässer gekommen, aus denen andere als wir einst glücklich zurückgekehrt waren.
Allmählich stellte sich heraus, daß bald dieses, bald jenes Mitglied der Expedition sich nicht wohl fühlte, kurz, daß der Gesundheitszustand nicht so gut wie bisher war. Die Ursache mußte unzweifelhaft in dem Mangel an Bewegung gesucht werden. Der ziemlich schroffe Uebergang von unausgesetzter, angestrengter Arbeit zu verhältnißmäßiger Unthätigkeit, der ja an und für sich schon nicht gut war, wurde bei einzelnen noch dazu nicht genügend durch Bewegung in freier Luft ausgeglichen. Kapitän Sverdrup mußte deshalb allen »befehlen«, jeden Tag einen mindestens zweistündigen Schneeschuhlauf auf dem Eise zu unternehmen. Da weitere Ausflüge der herrschenden Dunkelheit wegen nicht anzuempfehlen waren, wurden diese Bewegungen meistens in Gestalt von Spaziergängen in unmittelbarer Nähe des Schiffes unternommen.
Mehrere Tage lang machte der wolkenschwere, Schnee verkündende Himmel alle Beobachtungen unmöglich. Erst am 27. November war der Himmel wieder klar genug, sodaß wir eine Ortsbestimmung anstellen konnten. Ihre Ausrechnung ergab zu unserer großen Freude, daß unsere Hoffnung auf baldiges Ueberschreiten des 60. Längengrades sich schon erfüllt hatte. Er war bereits überschritten; wir befanden uns jetzt auf 85° 29' nördlicher Breite und 57° 41' östlicher Länge. Ich brauche wol kaum zu betheuern, daß dieses Resultat mit wahrem Jubel aufgenommen wurde. Ja, ich kann behaupten, daß die Stimmung in den beiden nun verflossenen Jahren, während welcher wir von den Launen des Eises und der Winde abhängig gewesen, noch nie so gehoben war.
Es war schon lange her, daß wir uns aufgelegt gefühlt hatten, einen Freudenbecher zu leeren. Wir, die wir früher regelmäßig die Geburtstage unserer Freunde feierten, hatten sogar den unseres Freundes Blessing, der auf den 29. September fiel, mit Stillschweigen übergangen. Etwas besseres Essen war das Einzige, wodurch dieser Tag sich vor den andern auszeichnete. Weder Blessing selbst, noch wir waren in der rechten Stimmung dazu gewesen. Wir hätten uns Gewalt anthun müssen, wenn wir es versucht hätten, festlich gestimmt zu erscheinen. Ein wenig besser, vielmehr bedeutend besser, war die Stimmung an Kapitän Sverdrup's Geburtstag, dem 31. October. Wir waren eben einer Eispressung glücklich entgangen und hatten guten Wind. Dergleichen erhellte stets das Gemüth. Wir verbrachten einen sehr angenehmen Abend miteinander bei Gesang, Musik und einer gemüthlichen Kartenpartie.
Doch daß wir jetzt thatsächlich den 60. Längengrad passirt hatten, das war etwas! Das mußte gefeiert und zwar glänzend gefeiert werden. Wir konnten allerdings kein Land sehen, konnten auch nicht die Hoffnung hegen, ein solches noch in Sicht zu bekommen; aber nach unsern Berechnungen mußten wir Kap Fligely an der Nordspitze von Franz-Joseph-Land passirt haben und dieses sich jetzt in einer Entfernung von 350 bis 400 Kilometer von uns befinden.
Scott-Hansen, Amundsen und ich mußten wie bei frühern Gelegenheiten so auch jetzt das Amt eines Festcomités übernehmen. Am 28. November standen wir sehr früh auf, um alles zu arrangiren. Der Salon wurde wie gewöhnlich mit Flaggen und Fahnen decorirt. Die Standarte der »Fram« mit der norwegischen Flagge darüber erhielt heute den Ehrenplatz, die übrigen Fahnen wurden an den Seitenwänden angebracht.
Dann weckten wir die andern mit Kanonensalut und Orgelmusik. Auch Petterson war früh auf den Beinen gewesen und konnte mit frischem Kuchen zum Frühstück aufwarten.
Alle Arbeit, mit Ausnahme der meteorologischen Ablesungen und der Küchenarbeit, ruhte an diesem Tage. Um 1 Uhr hatten wir großes Festdiner, und am Abend versammelten wir uns bei einer Bowle Punsch, wozu wir außerdem noch mit verschiedenen Arten Süßigkeiten tractirt wurden. Kapitän Sverdrup brachte ein Hoch auf den Tag aus. Er knüpfte daran eine Rede, worin er uns zu den erreichten Resultaten gratulirte und daran erinnerte, daß wir uns jetzt als innerhalb des Meridians der civilisirten Welt befindlich betrachten dürften, da der Längengrad, auf dem wir nun seien, durch Chabarowa gehe, wo es Kirchen und Priester gebe. Allerdings befänden wir uns noch auf einem ziemlich hohen Breitengrade, aber nach dem, was die Beobachtungen der letzten Zeit ergeben hätten, werde die Breite in demselben Maße niedriger, wie sich die Länge verringere. Wir könnten deshalb die gute Hoffnung nähren, auch in Zukunft nach Süden und Westen zu treiben, und könnten daher einer Befreiung aus unserm Eisgefängnisse binnen nicht allzu langer Zeit sicher entgegensehen. Er wolle uns gleichzeitig dafür danken, daß wir uns stets bestrebt, ein gutes Verhältniß an Bord aufrecht zu halten, und bitte uns, die Stunde der Freiheit geduldig zu erwarten.
Die Zeit verging, das Weihnachtsfest näherte sich mit großen Schritten. Der Koch begann schon seine Vorbereitungen mit Kuchenbacken und dergleichen, doch im übrigen waren die Aussichten auf eine Festmahlzeit mäßig. Vorigen Winter konnten wir wenigstens noch mit frischem Bärenbraten auf dem Tische Staat machen, aber diesmal? Nicht mehr frisches Fleisch als mein Handrücken, und dem Anscheine nach auch keine Gelegenheit, welches zu bekommen.
So mußten wir uns denn sowol am Weihnachtsabend wie an den Festtagen mit den gewöhnlichen Conserven begnügen. An und für sich waren diese ja sehr gut und wohlschmeckend, aber wir hatten doch schon so lange davon gelebt, daß sie für unsern Gaumen beinahe gar keinen Geschmack mehr hatten. Wir fanden, daß sie alle gleich schmeckten, und es war wirklich lustig anzusehen, von welch winzigen Portionen Kraftmenschen wie Hendriksen und Bentsen jetzt satt wurden. Daheim würden die meisten beim Anblick des gedeckten Tisches, um den wir uns am Heiligen Abend setzten, ohne Zweifel gesagt haben, es sei ein vorzügliches Essen – und gewiß war das Essen auch gut genug. Aber was nützte es uns, da dies nun schon zwei Jahre hindurch unsere tägliche Kost gewesen war. Wir hätten alles freudig für das kleinste Stück frisches Fleisch oder frischen Fisch hingegeben. Dazu kam die Schwermuth, die uns an solchen Festabenden immer überfiel und uns mit nagendem Heimweh quälte, mit Phantasien von Glockengeläute, brennenden Weihnachtsbäumen und all dem, was jetzt nur weh that und wie eine offene Wunde schmerzte.
Wie der Weihnachtsabend verlief auch der erste Festtag. Den ganzen Tag über gingen elf Männer stumm aneinander vorbei, ohne mehr als das Allernothwendigste zu sprechen. Wenn ich sage, daß es das langweiligste Weihnachtsfest war, das ich je erlebt habe, so ist das nicht genug; es war auch das traurigste, und sicherlich hatten alle andern dieselbe Empfindung. Wir fingen an, uns gewissermaßen aus dem Wege zu gehen, um uns unsern krankhaften Grübeleien in größter Einsamkeit frei hingeben zu können. Diese Weihnachtsstimmung wurde durch die letzten Beobachtungen keineswegs verbessert, da diese bewiesen, daß wir anstatt vorwärts zurück getrieben waren.
Dies also war unser Weihnachtsgeschenk. So tanzten unsere Hoffnungen und unsere Stimmung auf und nieder wie ein Boot bei hohem Seegang. Bald hoch oben auf den Wogenkämmen, bald tief unten im Wellenthale, so tief, daß es uns schien, als würden wir nie wieder emporsteigen.