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Am ersten Mai hielten wir einen Flicktag, während wir auf das Zufrieren der Rinne warteten. Es war eine angenehme Abwechselung, still zu liegen und nur zu nähen. Die Hunde sind jetzt hungerig wie die Wölfe; ein Paar Sohlen von Renthierleder, die ich die Nacht über zum Trocknen auf das Kajak gelegt, haben sie aufgefressen. Wahrscheinlich hat es »Kvik« gethan, und sie hat auch wol den Angriff auf die Bootsunterlage mit Pemmikan, die wir noch hatten, gemacht. »Kvik« frißt das Fleisch der andern Hunde nicht, wenn es frisch geschlachtet ist, es muß erst eine Nacht über liegen und durchfrieren.
In den ersten Maitagen machten uns die Rinnen viel zu schaffen. Der Wind war in dieser Zeit ganz danach angethan, die gute Stimmung an Bord der »Fram« auf den Höhepunkt zu bringen, wir jedoch konnten uns jetzt leider dieser Südostbrise nicht freuen, sie öffnete zu viele Rinnen im Eis und stellte unsere Geduld sehr auf die Probe. Erst mußten wir einen Uebergang suchen, den wir nach vielem Hin- und Herziehen vielleicht auch fanden, und dann konnte es vorkommen, daß uns der Uebergang selbst manche Schwierigkeiten und viel Kopfzerbrechen bereitete.
»Pan« und dem »Hasen« wird das Ziehen schwer, sie sind jetzt mager und elend. Die Hunde, die am allerbesten gezogen haben, sind der »Große Fuchs«, das »Füchslein«, der »Eisbär«, »Suggen«, »Baro«, »Barrabas« und »Kaiphas«. »Sultan« ist faul, aber stark. »Ulenka« hält sich im Gespann soviel wie möglich nach der Seite und scheint kein größeres Vergnügen zu kennen, als sich in die Leinen des neben ihm fahrenden Gespanns zu verwickeln. Dieser Hund hat mir viel unnöthige Arbeit gemacht.
Am 5. Mai marschirten wir von 1 ½ Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Es war ein guter Sonntag; wir kamen rasch vorwärts und überschritten viele ebene Flächen. Die Rinnen waren auch nicht schwer zu passiren, da sie sich zum Theil so verschoben hatten, daß wir Stellen finden konnten, wo die Ränder aneinander stießen und theilweise schon im Zufrieren begriffen waren, sodaß wir uns dort, wo Eisstücke und Schlammeis mit dem Wasser schon zusammengefroren waren, hinüberwagen konnten. Wir eilten, so schnell wir konnten, vorwärts und waren ganz ermattet, als wir unser Lager aufschlugen.
In der Nacht erwachte ich vor Kälte, da eine frische Brise das Zelttuch heruntergeweht hatte; wir hatten den Schlafsack in der letzten Zeit nachts nicht so fest zugemacht, da es auch ohne Klappe darin warm genug gewesen war. Nun aber hat sich der Wind gedreht und weht ziemlich stark aus Norden, was uns gar nicht unangenehm ist. Der südöstliche Wind, der in der letzten Zeit geherrscht hat, muß uns ziemlich weit nach Nordwesten getrieben haben. Die Temperatur beträgt -17,5º.
Der nächste Marsch dauerte von 5 Uhr morgens des 6. bis beinahe um 9 Uhr vormittags des 7. Mai. Wir hatten natürlich mit einigen Eisrücken zu kämpfen, aber zwischendurch kamen auch wieder ebene Flächen; im ganzen machten wir sehr gute Fortschritte.
Allmählich sehnen wir uns nach dem Lande; wir sind des Anblicks dieser ewigen Eisfelder überdrüßig, haben wir doch seit zwei Jahren kein Land gesehen! Welch herrlicher Augenblick wird es sein, wenn wir den Fuß wieder auf den Boden des Vaterlandes setzen können, vielleicht gerade in der Zeit, da alles in Blüte steht! Welch ein Unterschied zwischen dem Leben hier und dem dort im Süden! Ist es nicht eigenthümlich, Norwegen das herrliche Land des Südens zu nennen? Doch so steht es vor uns.
Am 8. Mai mußten wir früher, als wir gewollt hatten, halt machen und das Lager aufschlagen. Der Wind, den wir die ganze Zeit über aus Nordosten gehabt hatten, wurde immer heftiger und am Nachmittag brachte er uns ein solches Schneetreiben, daß wir den Marsch unterbrechen mußten. Als wir am Morgen wol fünf Stunden marschirt waren und uns auf dem holperigen Eise sehr abgequält hatten, riß »Flint«, der am Abend geschlachtet werden sollte, sich los.
Er war einer von denen, die schwer wieder einzufangen sind, wenn sie sich einmal losgemacht haben. Er war stark, aber faul und untauglich und machte sich aus Schlägen gar nichts. Gegen die andern Hunde war er beständig mürrisch und boshaft. Als wir halt machten, fand er sich von selbst wieder ein, um seine Portion Hundefleisch in Empfang zu nehmen; aber eine schwere Enttäuschung wartete seiner, denn er mußte mit mir hinter einen Eishügel gehen, um dort zum Besten der andern, die ein längeres Leben als er verdient hatten, in Stücke zerlegt zu werden.
Die armen Hunde! Sie sind jetzt nur noch Haut und Knochen, so müssen sie für uns arbeiten und hungern. Doch wir müssen vorwärts und sind gezwungen, sie zu prügeln, wenn sie plötzlich halt machen; ja, wir müssen sie mehr schlagen, als wir selbst es unter andern Umständen möchten.
»Flint« war recht fett; es ist in der That merkwürdig, daß er bei der magern Kost so fett hat bleiben können.
Die Temperatur beträgt gegen -12°, unserer Meinung nach ein herrliches Sommerwetter im Vergleich mit dem, welches wir gewohnt sind. Unsere Finger sind noch immer wund, aber es braucht uns jetzt doch nicht mehr so wie früher vor dem Ausziehen der Handschuhe und anderer Kleidungsstücke zu grauen.
Am 9. Mai war der Himmel bewölkt und die Luft unsichtig. Nach Verlauf einiger Stunden glaubten wir eine herrliche Ebene vor uns zu sehen und sagten zueinander, nun würden wir wol wieder auf glatte Flächen kommen. Es wurde jedoch immer trüber und begann so zu schneien, daß man nicht unterscheiden konnte, ob das Eis glatt oder holperig war. Zwischendurch klärte es sich wieder für einige Augenblicke auf, was uns bestimmte, noch eine Weile in Bewegung zu bleiben. Schließlich mußten wir aber doch halt machen. Zuerst gedachten wir, im Sacke Mittagsrast zu halten und abzuwarten, ob es nicht besser würde, aber schließlich schlugen wir unser Zelt auf, kochten uns Labskaus und legten uns dann schlafen, um ausgeruht zu haben, wenn das Wetter sich aufklärte. Die Hunde bekamen diesmal gar kein Futter.
Bevor wir unsern Marsch antraten, gab es im Lager noch allerlei Arbeit. Nansen hatte die Absicht gehabt, die Kufenschoner von seinem Schlitten abzunehmen, um zu sehen, ob er auf den mit Neusilber beschlagenen Schienen nicht leichter glitte, aber es zeigte sich jetzt, daß die theergetränkten Schoner auf der jetzigen Bahn sehr gut liefen, sodaß Nansen sie daran ließ. Von unserm dritten, nicht mit Neusilber beschlagenen Schlitten nahm ich sie jedoch ab, um es mit den glatten, frisch getheerten Kufen aus Birkenholz zu probiren. Dabei stellte sich heraus, daß die eine Kufe eingeknickt war, weshalb die Schoner schleunigst wieder angebracht werden mußten. Hätten wir sie nicht gehabt, so wäre es uns sicher schlecht gegangen.
Die Breite ist jetzt 84° 3', die Länge 64° 20'. Unsere Sehnsucht nach Land wird immer größer, und wir wundern uns, daß es sich noch nicht zeigt. Die Temperatur beträgt nur -10,4°. Wir müssen uns jetzt auf dem Marsche leichter kleiden.
Am 10. und 11. Mai war das Vordringen mit Schwierigkeiten verknüpft, denn mit Ausnahme eines hellen Streifens im Südwesten war der ganze Himmel gleichmäßig dick überzogen. Der helle Streifen war schon 8 Stunden vorher dagewesen, was uns hin und wieder aufgefallen war, als wir in unserm Lager auf schönes Wetter warteten. Trotz des Nebels machten wir doch einen ordentlichen Marsch.
Das Eis nimmt jetzt einen ganz andern Charakter an, was, wie wir glauben, darauf hindeutet, daß Land in der Nähe ist. Es ist nicht mehr so eben wie in der letzten Zeit, aber wir kommen doch darauf vorwärts.
13. Mai. Der gestrige Marsch war anstrengend. Schon gleich zu Anfang mußten wir uns über eine größere Strecke Schlammeis hinwegarbeiten. Das Vordringen ist jetzt mühevoller als bisher. Allerdings sind die Schlitten jetzt leichter, aber dafür haben wir jetzt auch nicht mehr als 12 Hunde zur Verfügung und dabei sind die Wege viel schlechter, da wir an einigen Stellen zwischen Eishügeln oft bis zur Hüfte in den Eismorast einsinken, wenn wir den Hunden mit den Schlitten helfen müssen. Dabei können wir nämlich die Schneeschuhe nicht anbehalten; jetzt wäre es gut, wenn wir indianische Schneeschuhe hätten. Wir waren von 3 Uhr morgens bis 7 ½ Uhr abends auf den Beinen und schlugen dann unser Lager auf, was uns nach einem so mühseligen Tage eine wahre Freude bereitete. Wir hielten auch drei Stunden Mittagsrast. Die Temperatur betrug -17°, und dabei wehte ein unfreundlicher östlicher Wind, der bisweilen sehr heftig wurde und gegen Abend mehr nach Norden umsprang. Zwischendurch passirten wir wol hin und wieder eine Strecke ebenern Eises, aber so flach wie früher war es nicht mehr. Trotz alledem kamen wir ein gutes Stück weiter, 15 bis 20 Kilometer, und das ist die Hauptsache.
Das Barometer ist beständig in gleichmäßigem Sinken begriffen. Wir sehnen uns immer mehr nach Land, wenn wir auch wissen, daß es nur ein unwirthliches, unbekanntes Eis- und Schneeland sein kann.
14. Mai. Gestern wurde aus dem Marsche nichts. Wir aßen unser Frühstück und unterhielten uns wie gewöhnlich von der Aussicht auf gutes Weiterkommen. Als wir aber unser Lager abbrechen wollten, war der Himmel vollständig bewölkt und nebelig mit Schneegestöber und nordwestlichem Winde. Wir machten uns darauf an eine Arbeit, die eigentlich schon früher hätte vorgenommen werden sollen: wir entledigten uns des einen Schlittens. Die Ladung desselben war jetzt so zusammengeschmolzen, daß wir es für zweckmäßig hielten, sie auf unsere beiden Schlitten theils als Unterlagen der Kajaks, theils als Füllung derselben zu vertheilen. Die drei Hunde, die den dritten Schlitten bisher gezogen hatten, wurden so vertheilt, daß Nansen »Barrabas« und »Kaiphas« nahm und ich den »Großen Fuchs« erhielt.
Ich freue mich über diese Veränderung und hoffe, es wird leichter für mich werden, nur einen Schlitten begleiten zu müssen, statt der zwei, die ich in den 60 Tagen seit unserer Abreise von der »Fram« zu beaufsichtigen hatte. Gestern waren die Hunde beim Umpacken in meinem Kajak gewesen und hatten uns dort unsern Tagesrationssack mit Pemmikan halb leer gefressen, und heute Nacht überraschte ich meine Freunde, den »Großen Fuchs«, »Barrabas« und »Sultan«, bei einem Angriffe auf dasselbe Kajak. Der Hunger quält sie, aber was können wir machen? Wir müssen weiter, wir müssen!
Gestern zerlegte ich den dritten Schlitten in seine Theile. Mit dem überflüssigen Holze, das wir mitgeschleppt haben, den zerbrochenen Schneeschuhen und Schneeschuhstöcken und einem Theile des Schlittens wollten wir unser Essen kochen. Aus dem leeren Theerölfasse machten wir einen Kessel und zündeten in der Zeltöffnung, in der er hing, ein tüchtiges Feuer an, aber es währte gar nicht lange, so mußten wir unsere Feuerstätte ins Freie verlegen, da das Zelt in Gefahr war, zu verbrennen. Als das Wasser endlich kochte, hatte sich auch schon im Schnee ein Loch von ein Meter Tiefe gebildet, und wir hatten eine Unmenge Holz verbrannt. Ein solches Kochen ist eine wenig lohnende Arbeit; es wurde daher beschlossen, daß Primus das übrige thun sollte. Gesagt, gethan, und wir bekamen denn auch am Abend unser Fiskegratin, das, wie gewöhnlich, köstlich schmeckte. Heute ist der Himmel klar, und strahlender Sonnenschein herrscht. Die Hunde werden mit einer halben Ration Pemmikan gefüttert.
16. Mai. Gestern hatten wir herrliches Wetter; der Himmel war außergewöhnlich klar, und die Sonne schien warm. Wir mußten Schneebrillen aufsetzen, was wir bisher glücklicherweise nur selten nöthig gehabt haben.
Wir haben nur noch zwei Schlitten und vor jedem sechs Hunde. Schneller als früher geht es aber nicht, die Hunde sind zu entkräftet. Auch mit unserm kecken »Baro« ging es gestern zu Ende; die andern Hunde mußten ihn zum Schlusse mitschleppen, und es blieb uns nichts weiter übrig, als dieses prächtige Thier, das so lange den Zug nach der Heimat angeführt hat, zu schlachten.
Wir stießen gestern auf eine sehr schlimme, eben entstandene ziemlich breite Rinne, an der wir lange in westlicher Richtung hinziehen mußten, ehe es uns gelang, einen Uebergang zu finden. Dann machten wir halt und schlugen unser Lager auf, denn da, wo wir jetzt sind, haben wir eine Rinne zu passiren.
Wir sind auf 83° 36' nördlicher Breite und 59° 55' östlicher Länge. Wir dringen also doch nach Süden vor, wenn es auch langsam damit geht. Wir leben in beständiger Verwunderung, daß wir noch gar kein Land sehen können. Das Land, das die Oesterreicher von Kap Fligely aus erblickten, sollte eigentlich nicht mehr als 67 Kilometer von uns entfernt sein, aber sehen können wir es nicht. Daß wir nicht wieder Fuchsspuren oder andere Spuren gesehen haben, mag von dem beständigen Schneefalle in der letzten Zeit kommen. Doch, das gibt sich mit der Zeit.
Gestern war mein 28. Geburtstag. Wir feierten im Zelte ein kleines Fest mit einer tüchtigen Portion Labskaus und einem Nachtisch, bestehend aus Bril mit Brotkrumen und Butter und aus heißem Citronensaft. Nansen brachte ein Hoch auf mich aus und wünschte mir »manche freudige Ueberraschung und manch frohen Augenblick« für das anbrechende Geburtsjahr.
Am nächsten Tage kamen wir an eine offene Stelle von außergewöhnlicher Breite, die sich so weit nach Südwesten erstreckte, als wir sehen konnten. Wir zogen in dieser Richtung daran entlang, aber unterwegs stiegen uns Bedenken auf, ob wir dem Rande noch weiter folgen sollten, da man ja nicht wissen konnte, wie weit sie sich erstreckte. Sie war mit ganz dünnem Eise bedeckt, was schlimmer war als offenes Wasser. Erst dachten wir daran, umzukehren und es in der entgegengesetzten Richtung zu versuchen, befragten dann aber die Karte und kamen zu dem Resultate, fortzufahren, wie wir begonnen.
Durch den Feldstecher konnten wir sehen, daß die Luftspiegelung Eis hinter dem offenen Wasser zeigte. Wir waren noch gar nicht lange gegangen, so stießen wir auf eine breite Rinne, die in das offene Wasser ausmündete. Es stellte sich heraus, daß das Eis derselben tragfähig war, und die nähere Untersuchung ergab, daß es hier vielleicht möglich wäre, über den großen Teich zu kommen. So machten wir uns denn auf den Weg.
Die Eisschollen hatten sich an dieser Stelle kreuz und quer übereinandergeschoben, und das Eis war dadurch recht stark geworden, wenn auch nicht überall gleich stark. In der Rinne war freilich noch Bewegung und befanden sich Streifen offenen Wassers, aber schließlich kamen wir doch hinüber, worüber wir uns sehr freuten.
Das Eis zeigte uns, daß die Drift noch immer nach Westen geht; das ist uns jetzt, da wir uns auf 59° 55' östlicher Länge befinden, sehr unangenehm. Nansen hat noch einmal mehrere Beobachtungen aus der Zeit, bevor unsere Uhren stehen blieben, ausgerechnet; mit diesem Stehenbleiben können wir uns noch gar nicht aussöhnen.
Am 17. Mai, dem Freiheitstage, brachen wir gegen 6 Uhr abends in recht gedrückter Stimmung auf, trotzdem zur Ehre des Tages auf beiden Kajaks die Flaggen im Winde wehten. Der Abwechselung halber sollte ich vorangehen. Aber meine Hunde, die daran gewöhnt waren, hinter den andern zu laufen, wollten davon durchaus nichts wissen; sie konnten nicht begreifen, weshalb sie sich in Bewegung setzen sollten, wenn die andern nicht mitkamen. Ihre Aufmerksamkeit war unausgesetzt auf das andere Gespann gerichtet, und ich konnte sie trotz aller Prügel nicht in Gang bringen. Wir mußten es also aufgeben.
Plötzlich glaubte Nansen in dem großen Teiche vor uns, den wir passiren sollten, Walfische blasen zu hören. Ich hatte diesen Laut ebenfalls vernommen, als ich im Lager umhergehend alles zum Aufbruche vorbereitete, aber ich hatte geglaubt, es komme davon, daß die Schollen sich gegeneinander rieben. Doch wirklich, dort war ein Wal; jetzt sahen wir deutlich, wie er sich über die Wasserfläche erhob und dann wieder verschwand. Hui, schnell in die Kajaks, Büchsen und Patronen geholt und Harpune und Leine hervorgesucht! Das war doch einmal ein Fund, hier gab es Lebensmittel genug für uns! Nansen zog bis an die Zähne bewaffnet an der Rinne entlang, um sein Jagdglück zu versuchen; inzwischen sollte ich zusehen, daß ich einen Uebergang fände. Nansen kehrte jedoch bald unverrichteter Dinge zurück; es seien mehrere Narwale, sagte er, sie schienen aber über die Maßen scheu zu sein.
Die Reise wurde in Wind und Schneegestöber bis Mittag fortgesetzt. Es ging entsetzlich langsam mit den Hunden, und wir mußten uns gehörig anstrengen. Als wir zwei Stunden Mittagsrast gehalten hatten und wieder weiter wollten, war es so nebelig, daß wir die Augen wieder schlossen und noch ein paar Stunden warteten. Das war das Vernünftigste; dann setzten wir unsern Weg neugestärkt fort, doch erst, nachdem Nansen die Kufenschoner von seinem Schlitten abgenommen hatte. Wir wollten es doch mit den Neusilberkufen probiren.
Es war dies etwas ganz anderes, der Schlitten lief unvergleichlich viel leichter als früher. Wir benutzten deshalb auch die neusilbernen Beschläge meines Schlittens, und von da an ging die Reise sehr gut, so gut, daß wir in viel heiterer Stimmung halt machten. Dann feierten wir den Siebzehnten Mai, obgleich es schon der 18. war; natürlich auf die alte Weise, mit Essen und Trinken. Diesmal hatten wir auch ein neues Getränk, das wir anfangs Bier, schließlich aber Meth nannten. Es war ein Aufguß von Citronensaft auf framefood stamina-Tafeln.
20. Mai. Wir liegen des Schneetreibens wegen still. Gestern machten wir bei recht guter Bahn einen hübschen Marsch von ungefähr 20 Kilometer. Verschiedene Eishügel sahen wir unterwegs – aber kein Land! Danach werden wir gewiß noch eine Weile vergeblich ausschauen, es hat ganz den Anschein dazu.
Im Grunde genommen ist es schön, so im Zelte zu liegen, während der Sturm daran rüttelt und der Schnee sich draußen rundherum immer höher aufthürmt. Hier im Sacke fühlt man sich so sicher; laßt das Unwetter draußen toben, uns kümmert es nicht! Ich lasse die Gedanken in wärmern Gegenden umherschweifen, wo im Mai keine Schneestürme vorkommen, wo die Natur zu neuem Leben erwacht und auch neues Leben in die Menschen bringt. Ja ja, auch für uns wird die Zeit einmal kommen!
Man kann nicht wissen, wann wir nach Hause kommen werden; wir haben eben über die Aussichten dafür gesprochen. Dieser anhaltende östliche und nordöstliche Wind treibt uns immer mehr nach Westen; es kann sein, daß wir vor Spitzbergen gar kein Land erreichen, und wer weiß, ob wir dort so rechtzeitig anlangen, daß wir noch in diesem Jahre wieder in die Heimat kommen können. Wir müssen es darauf ankommen lassen.
An zwei verschiedenen Stellen sahen wir Bärenspuren. Sind es Anzeichen von Land?
Während des 21. Mai dauerte das Unwetter fort, aber wir konnten nicht mehr warten, bis es sich legte, und zogen deshalb weiter, nachdem wir die Hunde mit je einer halben Portion Pemmikan gefüttert und drei Kufenschoner fortgeworfen hatten. Das Wetter wurde immer schlechter, zum Schneegestöber kam noch ein sehr heftiger Nordwind; dazu war es unsichtig, und die Bahn war sehr schlecht. Trotz alledem arbeiteten wir uns unaufhaltsam hindurch. Bis Mittag war das Eis noch leidlich und ohne Rinnen. Nachmittags wurde es schlechter, aber wir ließen uns dadurch nicht zurückhalten, und als das Wetter sich ein wenig aufhellte, kamen wir auf ebene Flächen, wo es gut ging.
Nansen setzte zum ersten male auf seinen Schlitten ein Segel, infolge dessen brauchten die Hunde beinahe gar nicht zu ziehen; sie liefen deshalb allerdings nicht schneller, aber sie machten doch nicht so oft als sonst halt, was für den, der hinterdrein kam, auch schon ein Gewinn war.
Wir passirten eine breite Rinne, obgleich das Eis in heftiger Bewegung war und einige Stellen nicht solche Sicherheit boten, als dem Auge schien. Wir waren mit diesem Tage, der so schlecht angefangen hatte und so gut endete, sehr zufrieden und nahmen an, daß wir den 83. Breitengrad jetzt hinter uns haben. Um so sonderbarer ist es, daß wir noch immer kein Land sehen.
»Sultan« wurde geschlachtet und so zerlegt, daß sich 2 ½ Rationen aus ihm machen ließen.
Am 23. Mai gab es tüchtige Arbeit. Schlimmer, als die Rinnen hier waren, können sie schwerlich sein; so etwas haben wir noch nie gesehen, und ich nehme an, auch niemand anderer vor uns.
Bevor wir aufbrachen, lief Nansen recognoscirend an der breiten Rinne entlang, die wir schon abends, als wir das Lager aufschlugen, gesehen hatten. Er blieb drei Stunden fort. Ich flickte inzwischen das Zelt, das schadhaft zu werden begann. Da die Temperatur jetzt bei Tage nur ungefähr -12° betrug, nähte es sich leicht.
Nansen hatte den Rand der Rinne nach Osten hin abgestreift, dort aber keinen Uebergang gefunden. Sie theilte sich jedoch in zwei Arme, und er glaubte, irgendwo müsse es uns gelingen, hinüberzukommen. Wir zogen also nach Osten, theils weil wir unserer Meinung nach schon viel zu weit westlich waren, theils weil wir in dieser Richtung viele blaue Streifen, anscheinend von offenem Wasser herrührend, sahen. Das Resultat unsers Zuges war, daß wir nicht eine Rinne, sondern deren wol 20 trafen und passiren mußten. Einen solchen Wirrwarr von Rinnen und losem Eise kann man sich gar nicht vorstellen. Bald wanden wir uns in dieser, bald in jener Richtung hindurch, nachdem wir erst mühsam recognoscirt und einen Weg erspäht hatten.
Auch viele Eisrücken passirten wir; beständig war das Eis in heftiger Bewegung, und oft wurden wir vom Eisschlamm, der wie gutes, festes Eis aussah, getäuscht. An einer Stelle fand gerade, als wir hinüber wollten, eine starke Pressung statt; die Eisrücken wuchsen immer höher an, und die Blöcke wälzten sich nach den Seiten hin, worauf plötzlich Stillstand eintrat. Wir räumten das Schlimmste aus dem Wege und beeilten uns, mit den Schlitten hinüberzukommen. Kaum war dies geschehen, so fing die Pressung wieder an.
Oft war der Uebergang über die Rinnen, die wir gefunden, schon zerstört, wenn wir mit den Schlitten nachkamen; denn darüber ging natürlich Zeit hin, sosehr wir uns auch sputeten. Dann galt es, einen neuen Weg zu finden. Vierzehn Stunden kostete uns dieses Wirrsal von Rinnen, bis wir endlich über die letzte Rinne und die letzten Eisrücken hinüberkamen und eine schöne Ebene zu unsern Füßen liegen sahen. Tief aufathmend wanderten wir zur angenehmen Abwechselung über das ebene Eis, bis wir schließlich wieder auf eine Rinne stießen, während es immer nebeliger wurde. Nun mußten wir unser Zelt aufschlagen und zogen deshalb an der Rinne entlang, bis wir einen passenden Platz dazu fanden. An diesem Abend schmeckte uns aber das Essen!
Die heutige Mittagshöhe ergab 82° 52' nördlicher Breite. Es ist ja sehr erfreulich, daß wir schon so weit südlich sind, aber sonderbar ist es doch, daß wir noch gar kein Land sehen. Das ist die große Frage.
Am nächsten Tag legten wir gegen 20 Kilometer zurück; in den ersten 8 Stunden hatten wir mit Rinnen zu kämpfen, nachher aber ging es gut. Bei dem stürmischen Nordwind konnten wir nur den ersten Schlitten mit einem Segel versehen.
Die Länge ist 61° 27' östlich von Greenwich, was uns freudig überraschte; wir hatten uns viel weiter westlich geglaubt und gefürchtet, wir würden nicht auf Kap Fligely lossteuern, und haben deshalb den Kurs in der letzten Zeit möglichst nach Osten gerichtet. Jetzt geht es direct nach Süden.
Wir hatten das Unglück, daß unser Zelt durch Eisstücke bös zerrissen wurde, sodaß ich gestern und heute alle Hände voll zu thun hatte, um es wieder in Stand zu setzen.
Am 27. Mai wurde die Breite auf 82° 29' bestimmt. Wir nehmen als sicher an, daß wir ziemlich weit östlich vom Lande sind, denn sonst müßten wir es jetzt auf jeden Fall sehen können, sollten wir uns doch südlich von Petermann-Land befinden! Daß wir uns westlich von Land befinden, ist vernünftigerweise nicht anzunehmen; wir müßten in diesem Falle bei unsern Beobachtungen einen Fehler von 10° haben, was doch nicht zu glauben ist. Wir gehen auf jeden Fall von der Voraussetzung aus, daß wir östlich von Land sind, und steuern nach Südwesten. Die Zeit wird es dann lehren. Einstweilen aber tappen wir noch im Dunkeln. Wir haben die Karten hervorgeholt und ergehen uns darüber in Speculationen. Etwas ist uns in den letzten Tagen auf den Märschen und beim Zeltaufschlagen aufgefallen: daß nirgends Süßwassereis zu finden war und das Eis, das wir passirt haben, ausschließlich winteraltes Salzwassereis gewesen ist; dort, wo es herkommt, muß also offenes Wasser sein.
Die letzten Maitage brachten dieselben Anstrengungen; Rinnen und Eisrücken erschwerten das Vordringen. Am 28. gewahrte Nansen einen Eissturmvogel über dem einen Kajak kreisen; er wollte gewiß »Kvik's« irdische Ueberreste mit den Hunden theilen. Am Tage darauf beobachteten wir mehrere Narwale in einer Rinne, einen Seehund auf dem Eise und eine Lumme in der Luft. Es ist doch herrlich, Leben zu sehen; es erheitert und stärkt den Glauben an die Nähe des Landes!
31. Mai. Heute geht der Monat Mai zu Ende, und noch immer sehen wir kein Land, nur Wolken am Horizont und Eis, das wir nun schon zwei Jahre lang angestarrt haben. Manchmal ist es recht traurig. Es dauert so entsetzlich lange, bis wir Land erreichen! Und was für ein Land! Ein ödes, tristes, eisbedecktes Land im äußersten Norden, wohin sich kein Mensch wünscht, und nach diesem Lande steht all unser Sehnen. Ein Tag nach dem andern vergeht, längst hätten wir dort sein sollen. Einmal muß es doch kommen; dann hoffen wir gerettet zu sein! Aber bald muß es kommen, denn jetzt geht es mit den Hunden zu Ende!
Gestern wurde »Pan« geschlachtet, der seinerzeit für drei zog, und »Kvik«, die zuletzt ihr Segeltuchgeschirr auffraß, ist auch schon dahingegangen. Nansen war an dem Abend, da »Kvik« unter dem Messer starb, ganz anders als sonst. Sie war die einzige von unsern Hunden, die in Norwegen gewesen war; Nansen hatte sie in seinem Hause gehabt, wo alle sie liebgewonnen hatten. Ich erstach sie heimlich, ehe er noch recht zum Bewußtsein darüber kam.
Unsere Märsche sind jetzt kürzer geworden und die Ruhestunden ebenfalls; wir müssen versuchen, uns nach den Tagen zu richten, damit nicht alles bunt durcheinander geht. Die Hunde werden öfter gefüttert, und wir glauben, daß sie so bis zum Lande ausdauern werden. Wir halten jetzt nicht mehr im Sacke Mittagsrast, sondern essen unser Butterbrot auf einem Segel im Schnee sitzend.
Am Fuße eines Eishügels fanden wir die frischen Spuren von drei Bären; sie führten nach einer Rinne, aber wir konnten uns nicht darauf einlassen, ihnen nachzugehen. Wir sind jetzt auf 82° 21' nördlicher Breite; das ist schön, aber jetzt weht ein häßlicher, starker Südwind, der am Zelte rüttelt, obgleich wir eigentlich Schutz an diesem Platze haben sollten, der mitten zwischen alten, mit Süßwassereis untermengten Eisrücken liegt. Auf der andern Seite hat man die Aussicht auf eine offene, ganz nahe gelegene Rinne. Es ist dafür, daß man im Eise ist, eine malerische Stelle. Oestlich von uns haben wir den »schiefen Thurm von Pisa«; es ist ein außerordentlich großer Eishügel, aus einer Scholle bestehend, die infolge der Pressungen aufgerichtet worden ist.
Am 1. Juni überschritten wir eine Rinne auf einer losen Eisscholle, die beständig zu kentern drohte, da sich kleine Schollen darunter schoben und die ganze Rinne in starker Bewegung war. Kaum hatten wir uns mit Hunden und Schlitten in Hast und Eile hinübergebracht, als auch schon die ganze lose Scholle in Stücke sprang und der Uebergang zerstört wurde.
Bei strahlendem Sonnenschein bietet sich ein schönes Bild: rabenschwarz heben sich die Rinnen von dem fleckenlosen weißen Eise ab, während die Eisrücken und Hügel zwischen den Blöcken azurblau schimmern. Vergebens sucht das Auge an der Eiswand hinab in die Tiefe bis auf den Grund zu dringen; es sind gewaltige Massen dort unten, und kein Wunder ist es, daß alles, was sie in ihre Arme schließen, wenn Wind und Strömung sie gegeneinander hetzen, zermalmt und zerbrochen wird.
Anfang Juni lagen wir sieben Tage an derselben Stelle still, auf einer auf allen Seiten von Rinnen umgebenen Eisinsel. Wir setzten dort unsere Kajaks in Stand, nahmen die Bezüge ab, flickten sie und banden und spleißten die Skelette, denen das Eis übel mitgespielt hatte. Zu all diesem gehörte Zeit, aber jetzt mußte es gethan werden; wir mußten den Rinnen Trotz bieten und ihnen ein Schnippchen schlagen können. Am liebsten sähen wir, daß wir draußen viel offenes Wasser hätten, damit wir statt all der bisherigen Quälerei bequem in unsern Kajaks fahren könnten.
Vom 2. Juni heißt es im Tagebuche:
Herrgott, heute Abend ist der Abend vor Pfingsten, für uns aber ist er wie ein anderer Tag, Sonntag und Montag sind gleich! Wir können uns am Pfingstfeste nicht über den Sommer mit seinem Reichthum an »allerhand Laub und Blumen« freuen. Aber herrlich muß es sein, dies alles wiederzusehen, und zu dem, was einem lieb und theuer ist, heimzukehren, muß eine Freude über alle Beschreibung sein.
Es ist traurig, hier zu liegen und nicht weiter zu kommen; es ist traurig, daran zu denken, welchen Weg wir noch zurückzulegen haben, bevor wir Spitzbergen erreichen und dort nach dem Schiffe, das uns nach Hause bringen soll, auszuschauen beginnen können. Doppelt traurig ist es an einem Tage wie heute, da ich in Gedanken die Lieben in der Heimat sich freuen sehe, in dem schönen Sommerwetter Gottes herrliche Natur preisend. Traurig ist es, hier an das Eis gebunden zu sein, aber:
Ist auch noch so lang die Nacht,
Einmal doch der Morgen tagt.
Auch für mich kommt sicher der Morgen. Du lichter, gesegneter Morgen sei mir willkommen!
Die nun beginnende Zeit war sehr schlimm; es sah für uns allmählich immer verzweifelter aus. Die Lebensmittel verminderten sich Tag für Tag, mit ihnen das Brennmaterial; die Hunde schwanden dahin, die Schlitten waren noch schwer, die Wege und das Eis wurden immer schlechter, die Tage vergingen, und wir sahen kein Land. Aber vorwärts mußten wir! An Geduld besaßen wir beide eine hübsche Portion, die auch gehörig auf die Probe gestellt wurde.
Ich glaube, der Leser wird am besten erkennen, wie wir es hatten, wenn ich ein wenig aus dem Tagebuche aus jener Zeit anführe:
Dienstag, 11. Juni. Wir haben unsere Rationen Aleuronatbrot, Butter und Chocolade verspeist und werden nun mit unserm Tagewerk beginnen. Unter unsern gegenwärtigen Verhältnissen ist es nicht immer leicht, so heitern Sinnes zu sein, wie man eigentlich sein sollte. Das Aufhören der Schlittenbahn steht vor der Thür; der Schnee ist schon durch und durch naß, und die armen fünf Hunde, die wir noch haben, sinken tief darin ein; bald heißt es geradezu im Wasser gehen. Der Rinnen und des schlechten Eises wegen ist schwer vorwärts zu kommen, auch wissen wir nicht, wo wir sind.
Das Land, dem wir so lange Zeit voll Hoffnung entgegengegangen sind, haben wir jetzt beinahe aufgegeben. Nun ist es das Meer, auf das wir zustreben; aber es ist weit bis zum Meere und es wird daher sehr schwierig sein, auf diesem Wege Spitzbergen zu erreichen. Die Gewehre müssen uns von nun an den Lebensunterhalt verschaffen.
Manchmal fühlen wir, wie schwer wir es haben, und unter dem Einflusse dieser Empfindung sagte Nansen gestern: »Denken Sie sich, wie schön es sein wird, seine Beine ausruhen lassen und sagen zu können: es ist alles überwunden, es bleibt jetzt nichts mehr zu thun übrig.«
Wir marschirten gestern circa 5 Kilometer. Nach unserm Mittagessen, das gegenwärtig aus 100 Gramm Pemmikan und 100 Gramm Brot besteht, guckte die Sonne hin und wieder zwischen dunkeln, phantastischen, beinahe schwarzen Wolken hervor, während die andern unten am Horizont hell waren. Das schneebedeckte Eis war blendend weiß, das Wasser in den Rinnen tief schwarz und der südliche Horizont goldigroth, während dunkle Haufenwolken beständig von Ostsüdost über den Himmel jagten und von Zeit zu Zeit die Sonne verfinsterten. Es war wunderbar schön; wir erfreuten uns daran und kamen in gute Stimmung.
Gestern fand Nansen in einer Rinne einen kleinen Fisch, einen Polarkabeljau. Gibt es Fische im Wasser, so laufen wir keine Gefahr. Heute Nacht wurde eine Angel mit dem Fische als Köder in der Rinne, an der wir uns befinden, ausgelegt; nun werden wir ja sehen! Fische bekamen wir aber doch nicht.
Manchmal mußten wir uns von Eisstücken, die wir mit Hülfe von Bambusstangen an eine passende Stelle flößten, Brücken bauen und gleich Akrobaten Sprünge von Scholle zu Scholle machen.
15. Juni. Bevor wir gestern das Lager abbrachen, gelang es Nansen, eine Sonnenhöhe zu nehmen und dann eine Längenbestimmung anzustellen. Wir sehen übrigens in der letzten Zeit die Sonne äußerst selten. Das Wetter ist so trübe, wie es nur sein kann, und unsere Aussichten sind es ebenfalls. Die Beobachtungen ergaben 57º östlicher Länge und 82º 23' nördlicher Breite. Wir sind also seit der letzten Beobachtung 4º nach Westen getrieben. Ich weiß nicht, soll man dies erfreulich oder betrübend nennen. Vielleicht deutet es darauf hin, daß wir im Westen von Land sind; denn so unrichtig können unsere Uhren wol kaum gegangen sein, daß wir kein Land sehen könnten, selbst wenn wir annehmen, daß wir ein gutes Stück weiter östlich sind. Sind wir aber schon im Westen, so ist die Aussicht, bald Land zu treffen, nicht sicher; dann sind wir andauernd auf dieses ewige Treibeis angewiesen. Und die Lebensmittel in diesem Falle? Wo sollen wir sie hernehmen? Bisher ist hier nicht viel zu holen gewesen. Wird es damit nicht besser, so sieht es böse aus.
Sind wir dagegen im Osten, was jetzt vielleicht wenig wahrscheinlich ist, so kann das Land nicht mehr weit sein, und dort finden wir Nahrungsmittel. Daß wir aber auch wieder nach Norden getrieben sind, muß uns mit Sorge erfüllen.
Der Marsch geht gegenwärtig in der Weise vor sich, daß Nansen eine Strecke Weges recognoscirt, ich mit beiden Schlitten Strecke für Strecke nachkomme, bis ich Nansen, der nach der Recognoscirung wieder umkehrt, treffe und dann jeder von uns seinen Schlitten nimmt. Oft mußten wir alle zwei die Schlitten über Eisrücken heben oder über Rinnen und unsicheres Eis ziehen. Wenn die Schlittenbahn so schlecht wie jetzt zu befahren ist, dann geht es nicht flott vorwärts. Unsere ganze Hoffnung auf Fortkommen ist nun auf lockeres Eis mit vielen nach Südwesten laufenden Rinnen gerichtet. Nachdem wir unsere letzten Hunde geschlachtet haben werden, deren Fleisch zu essen wir uns werden bequemen müssen, können wir uns durch Rudern weiterbringen.
Wir speculiren auch darauf, nur ein Kajak zu nehmen, das wir mit dem andern und einem Schlitten größer machen, alles zu cassiren, was wir irgendwie entbehren können, und dann drauflos zu fahren.
Die Temperatur hält sich meistens unter dem Nullpunkte. Auf diesem Marsche schlachtete ich, während Nansen auf Recognoscirung aus war, das »Füchslein«, das vor dem Schlitten gestürzt war. Der »Große Fuchs« hielt bis zum Abend aus, dann mußte auch er daran. Nansen bereitete aus seinem Blute das Abendessen; wenn ich sagte, es habe gut geschmeckt, so müßte ich lügen, aber es glitt hinunter, und das ist die Hauptsache.
16. Juni. Heute ist es windstill, Sonntagsfrieden liegt über dem Eise. Seit langem habe ich nicht empfunden, daß Sonntag ist, aber heute habe ich das Gefühl davon. In mein Gemüth ist Ruhe und Frieden eingekehrt, und voll Wehmuth sehne ich mich nach einem Sonntag in der Heimat.
Wir haben uns jetzt Zugriemen angefertigt und müssen uns ordentlich anstrengen, um ein bischen vorwärts zu kommen.
Am 20. Juni mußten wir uns entschließen, das Lager an einer Rinne aufzuschlagen und auf Fang auszuziehen. Nansen's Kajak wurde aufs Wasser gesetzt. Wir sahen auch Seehunde, bekamen aber keinen. Nansen versuchte außerdem, mit Hülfe des zu diesem Zweck mitgebrachten Netzes kleine Seethiere zu fangen, aber auch dies glückte nicht. Wir hungern nach bestem Vermögen, sodaß unsere Eingeweide knurren; wird es gar zu arg, so nehmen wir uns 50-60 Gramm Pemmikan und ebensoviel Brot. Im Laufe von zweieinhalb Tagen haben wir erst eine ordentliche Mahlzeit gehabt, es waren zwei Möven, die wie Thau vor der Sonne verschwanden. Einmal bekamen wir 50 Gramm Brot und ebensoviel Pemmikan, ein anderes mal 60 Gramm Aleuronatbrot und 30 Gramm Butter. Nun aber werden wir eine anständige Mahlzeit halten, bevor wir wieder weiterziehen.
Am Abend des 20. Juni brachen wir auf, nachdem wir mehrere vergebliche Versuche gemacht hatten, einen Seehund zu schießen. Nansen war vorausgegangen und hatte den Weg ausgesucht. »Wenn wir eine Strecke weiter sind«, sagte er »kommt ein großer Teich, wir haben also Gelegenheit, es mit einer Ueberfahrt im Kajak zu versuchen.« Unterwegs beschlossen wir, um ordentlich vorwärts zu kommen, Holzgriffe unter die Kajaks zu machen und die auf den Schlitten befindlichen Lasten in die Kajaks zu packen, damit sie so, wie sie waren, in die Rinne gesetzt und nach beendeter Ueberfahrt wieder aufs Eis gezogen werden könnten, um sodann die Fahrt fortzusetzen. Auch mußten wir uns alles dessen, was wir irgendwie entbehren konnten, entledigen.
Bevor wir an den Teich kamen, sahen wir in einer Rinne einen Seehund; Nansen schoß auf ihn, aber ohne Erfolg. Nun kam unsere erste Ueberfahrt.
Die Kajaks wurden nebeneinander gesetzt und vermittelst zweier Schneeschuhe miteinander verbunden, die durch die auf Deck befindlichen Strippen gesteckt wurden; die Schlitten mit den Unterlagen wurden, einer vorn, einer hinten, quer darüber gelegt. Die Hunde gingen willig an Bord und legten sich so still hin, als hätten sie dies schon früher gethan. Die Pumpen wurden in Ordnung gebracht, die Flinten auf die Knie gelegt, die Ruder eingetaucht, und das Rudern begann.
So waren wir denn mit all unserer irdischen Habe den Wogen preisgegeben. Zur Abwechselung war diese Zigeunerflotte ganz spaßhaft, obwol wir die Pumpen sehr oft gebrauchen mußten; besonders mein Kajak machte es arg. Als wir an den jenseitigen Eisrand kamen, sprang Nansen mit dem photographischen Apparat ans Ufer und machte einige Aufnahmen von der Flotte, während mein Kajak inzwischen sich immer mehr mit Wasser füllte und ich vom Rande abtrieb.
Plötzlich hörten wir hinter uns im Wasser ein gewaltiges Plätschern.
»Was war das?«
»Ein Seehund«, sagte Nansen.
Den Schlitten, der hinten auf meinem Kajak lag und daran schuld war, daß das Wasser oben an der Rehling, wo der Bezug noch nicht zusammengenäht war, eindrang, begann Nansen ans Land zu ziehen. Das Pumpen nützte nichts, ich saß im Wasser.
Platsch! machte es wieder, und ein großer, glänzender bärtiger Seehund tauchte auf, that ein paar Schläge gegen den Eisrand und verschwand dann wieder. Wir glaubten nicht, daß wir ihn wiedersehen würden, aber ich griff doch nach der auf dem Kajak liegenden Harpune und warf sie der Sicherheit wegen Nansen zu. Unterdessen füllte sich mein Kajak immer mehr und es mußte ernstlich daran gedacht werden, es vollends ans Land zu ziehen. Platsch! machte es noch einmal, und der Seehundskopf erschien dicht am Eisrande. Hurtig griff ich nach der Flinte und schoß auf ihn, als er gerade im Begriff war, unter dem Eise zu verschwinden. Noch ein letztes, heftiges Plätschern, dann blieb er liegen und das Wasser färbte sich roth. Der Kopf war zerschmettert, der Seehund schwamm auf dem Wasser. Wie der Wind eilte Nansen mit der Harpune herbei und stieß sie in das Thier. Da die Harpune klein und schwach war, hielt Nansen es für das Beste, ihm das Messer in den Hals zu stoßen.
Nun folgte ein lebhafter Auftritt. Ich trieb mit den beiden Kajaks ab; der Schlitten, den wir hatten ans Ufer ziehen wollen, lag zur Hälfte im Wasser, die Hunde begannen auch schon unruhig zu werden, ich wagte nicht, den Schlitten loszulassen, und konnte auch nicht aufstehen und so viel Kraft anwenden, daß ich ihn hätte an Bord ziehen können. Hinten am Eisrande lag Nansen und wollte den Seehund um keinen Preis sinken lassen, denn hier war Ueberfluß an Speise und Brennmaterial, dessen wir sosehr benöthigten.
Als der Seehund oben schwamm, entschloß sich Nansen, von dem Thiere abzulassen, um mich und meine im Untergehen begriffenen Sachen zu retten; es war hohe Zeit. Ich kam mit den Hunden ans Ufer, die Schlitten und mein Kajak wurden aufgezogen, um das andere kümmerten wir uns einstweilen noch nicht. Dann eilten wir fort, um unsere kostbare Beute in Sicherheit zu bringen; aber es war für zwei Mann nicht leicht, einen schweren, fetten Seehund aus dem Wasser zu ziehen. Während wir damit beschäftigt waren, wurde unsere Aufmerksamkeit wieder auf unsere andern Sachen gelenkt, da wir entdeckten, daß Nansen's Kajak ein Stück von uns forttrieb und der Kochapparat, leicht wie er war, hoch auf dem Wasser schwamm und seinen eigenen Kurs steuerte. Diese wurden geborgen, dann ging es wieder zurück zum Seehunde, den wir endlich an Land bekamen, nachdem wir ihm ein Tau um den Unterkiefer gebunden hatten.
Da lag er nun am Ufer vor unsern Füßen. Deß waren wir froh; war doch jetzt fürs erste keine Gefahr, hungern zu müssen. Jetzt hatten wir Lebensmittel auf lange Zeit, des Brennmaterials nicht zu gedenken, und konnten ruhig eine bessere Schlittenbahn und offeneres Eis abwarten.
Eine große Frage bestand noch: war die Munition, die in meinem Kajak lag, durch das Wasser verdorben worden? Und die Streichhölzer? Brot und Pemmikan hatte ich ebenfalls darin.
Der Munition wegen schwebten wir in besonderer Angst. Wir breiteten die nassen Patronen auf dem Schlafsacke aus, und Nansen probirte eine der Schrotpatronen an zwei Elfenbeinmöven, die sich eingefunden hatten, um die Beute zu theilen; sie zündete. Auch die Streichhölzer thaten noch Dienste; den Hauptvorrath hatten wir in Zinkbüchsen eingelöthet.
Nansen zerlegte nun den Seehund und fing das noch vorhandene Blut auf. Ich machte mich daran, einen Zeltplatz auszuwählen, suchte unsere da und dort am Ufer zerstreuten Habseligkeiten zusammen, fuhr sie nach dem Zelte und schöpfte und rang das Wasser aus den Sachen. Inzwischen hatte Nansen unsern Schatz hübsch und fein zerlegt; das Fleisch und das Fell lagen mit einer Menge Speck verlockend auf dem reinen weißen Schnee. Wir schleppten alles zusammen zum Zelte und machten uns zu einer tüchtigen Mahlzeit bereit.
Bevor wir den Seehund bekamen, hatten wir beschlossen, die kommende Nacht nur in wollenen Decken im Zelte zu liegen, um zu sehen, ob wir ohne den Schlafsack gut fertig werden könnten. Nun nahmen wir Decken und Schlafsack und krochen hinein, um erst zu speisen und dann gleich zu schlafen. Der Topf wurde mit frischem Seehundfleisch ganz vollgestopft; mit rohem Speck dazu schmeckte es wunderbar. Seit mehr als 24 Stunden hatten wir nichts gegessen.
So sind wir denn aller Nahrungssorgen für lange Zeit ledig. Es wird vielleicht langweilig, einen ganzen Monat von Seehundfleisch zu leben, aber dagegen läßt sich nichts machen; die Hauptsache ist, daß wir zu essen haben.
Heute hat sich der Wind gedreht, er ist jetzt nördlich und frisch. Ich bin ein wenig draußen gewesen und habe mir die Dinge angesehen. Das Fleisch und das Fell mit dem Speck liegen rund um unser Zelt herum, und Elfenbeinmöven kreisen ab und zu darüber. Eine kleine Strecke davon steht einer der Schlitten mit den drei Hunden in ehrerbietiger Entfernung vom Fleische; die armen Geschöpfe hatten gestern speien müssen, als sie die Eingeweide des Seehunds bekommen hatten.
Der See, in dem wir auf Fang ausgehen wollen, ist heute Nacht ein wenig eingeschrumpft, ist aber doch noch ganz respectabel. Zwei Angeln, die ich gestern mit Speck zum Mövenfangen ausgesetzt hatte, waren heute hübsch abgefressen. Die Elfenbeinmöven sind zu schlau, um auf den Leim zu gehen; wir denken aber nicht daran, sie zu schießen, sind wir doch jetzt wieder oben auf.