Hjalmar Johansen
Durch Nacht und Eis - Band 3
Hjalmar Johansen

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Neuntes Kapitel.

Johannisfest. Wintervorbereitungen.

Man denke, schon zwei Jahre!

Man sollte meinen, daß es uns vorgekommen sein müßte, als wollten die zwei Jahre, die wir in dieser, wenn auch freiwilligen Absperrung von der Außenwelt und den Annehmlichkeiten der Civilisation zugebracht haben, gar kein Ende nehmen.

Doch dem war nicht so. Wir fanden vielmehr, daß die Zeit merkwürdig schnell vergangen war, so schnell, daß man, wie man zu sagen pflegt, nicht weiß, wo sie geblieben ist. Und wenn wir auf diese zwei Jahre zurückblickten, mußten wir trotz alles Mißmuthes und aller Niedergeschlagenheit, die uns bisweilen gequält hatten, einräumen, daß die Expedition bisher im großen und ganzen glücklich verlaufen war. Wir waren schon weiter nach Norden dem großen Ziele aller Polarforscher, dem Pole, entgegen vorgedrungen als irgend jemand vor uns. Von Krankheit waren wir merkwürdigerweise die ganze Zeit über verschont geblieben, was wol in erster Linie unserer eigenen gesunden Constitution, dann aber auch dem frischen, arbeitsamen Leben, das wir führten, und last not least der Lebensweise an Bord zu danken war.

Den Skorbut, diesen gefährlichen Feind der Seeleute, den man bisher gewohnheitsmäßig als ein unvermeidliches Uebel betrachtete, in das man sich mit Geduld finden und gegen das man nach Kräften mediciniren müsse, diesen Feind hatte Nansen sozusagen »umgebracht « durch die sorgfältige Auswahl des Proviants, den großen Nährwerth der Lebensmittel, die gute Zubereitung und die beständige Abwechselung, die unsere Mahlzeiten dank seiner Fürsorge boten – denn auch die Verdauungsorgane bedürfen der Abwechselung. Die Fram-Expedition hat thatsächlich bewiesen, daß man sich den Skorbut fernhalten kann. Dann dürfen aber die Herren Rheder ihren Schiffsbesatzungen eigentlich nicht mehr solchen Schweinefraß von halbverfaultem Pökelfleisch und »lebendigem« Schiffszwieback zumuthen, und diese dürfen sich so etwas nicht mehr gefallen lassen, was ja noch heutzutage, wenn darin auch eine kleine Besserung eingetreten ist, leider so manchem norwegischen Seemann Magen und Gesundheit ruinirt!

Doch zurück zum zweiten Jahrestage unserer Abreise und dem Johannisfeste.

In Anbetracht des Glückes, das ohne Zweifel die Expedition diese beiden Jahre hindurch begleitet hatte, wurde der Beschluß gefaßt, daß wir den Vorabend und den Johannistag selbst in entsprechend würdiger Weise begehen wollten. Auf meine Leser macht es vielleicht den Eindruck, als wären wir geradezu darauf versessen gewesen, an Bord Feste zu veranstalten. Man mag es mir aber glauben, daß, wenn ein wirklicher Anlaß wie dieser gegeben war und nichts Gesuchtes oder Gemachtes darin lag, es in der That kein glücklicher und sicherer wirkendes Mittel als dieses gab, die allgemeine Stimmung zu heben und nutzlose Sehnsucht und gefährliche Grübeleien zu verscheuchen, die sich bei uns gern einnisteten und uns die Sonne guter Laune verdunkelten. Und nichts war so geeignet wie dieses, uns zu frohem Muthe zu erheben und daran zu erinnern, daß wir für eine Aufgabe zu leben, für ein Ziel zu kämpfen hatten, und zwar nicht nur um unserer eigenen Ehre, sondern auch um der Ehre unsers Vaterlandes willen.

Ja, wir wollten das »Fest des Lichtes« begehen, es mit Aufbietung aller Mittel und Kräfte, die uns zu Gebote standen, feiern. Es wurde sofort ein Festcomité gewählt, das aus Scott-Hansen, Amundsen und mir bestand. Wir machten uns gleich daran, das Programm aufzustellen und die Vorbereitungen in die Hand zu nehmen.

Das Programm war folgendes:

»Am Vorabend des Festes wird ein mächtiges Johannisfeuer abgebrannt, und am Johannistag morgens Schlag 8 Uhr werden alle mit einem Schusse von der Salutbatterie und mit Orgelmusik geweckt.

»Vormittags 10 Uhr Preisschießen und, falls das Eis kein Hinderniß in den Weg legt, Wettrudern. Darauf Festdiner und Kaffee. Dann ein Mittagsschläfchen.

»Abends präcis 9 Uhr in dem neuen, eleganten, mit allem Comfort ausgestatteten Theater erstes Auftreten des berühmten Negerkomikers Hannibal Nicodemus Nebukadnezar Zebedäus (Scott-Hansen), des bekannten Humoristen und Liedersängers Ohlsen (Amundsen), des Gelegenheitssängers Lasse (Petterson) und des phänomenalen Coupletsängers Tone Oetarisen ( meine Wenigkeit).

»NB. Das Wettrudern findet in der Bucht von Frognerkilen, das Preisschießen auf GrasholmBeides in Christiania wohlbekannte Oertlichkeiten. statt.

»Nach Schluß der Theatervorstellung wird auf dem Vorderdeck getanzt, und dann steht die Bühne Sängern und Rednern zur Verfügung.«

Wie man sieht, waren es keine Kleinigkeiten, zu denen wir einluden; doch um ein so umfassendes Programm durchführen zu können, mußten wir auch unsere Findigkeit aufs äußerste anstrengen und ernstlich ins Zeug gehen.

Aus allerlei sonst zu nichts brauchbaren, dafür aber um so brennbarern Dingen errichteten wir auf einem Eishügel in der Nähe des Schiffes einen gewaltigen Scheiterhaufen. Damit er wirklich prachtvoll auflodern könne, begossen wir ihn mit Theer. Dann wurden die beiden Großboote der »Fram« in eine Rinne gebracht und die Bahn für das Wettrudern abgesteckt. Das Vorderdeck wurde auf Backbord frei gemacht, mit Segeln bekleidet, mit Flaggen und Fahnen geschmückt und zu einem neuen, eleganten, mit allem Comfort ausgestatteten Theater umgestaltet. In dem Halbdeck auf derselben Seite hatten wir gratis die allervorzüglichste Bühne, die Beleuchtung besorgte eine Petroleumlampe, und als Garderobe und Frisirsalon diente das Kartenhaus. Wie man sieht, hatte das Festcomité unter großartigen Verhältnissen zu arbeiten, und wir hatten deshalb auch alle zusammen reichlich zu thun.

Am Vorabende des Johannisfestes gab ein Kanonenschuß um 8 Uhr abends das Signal zum Anzünden des Scheiterhaufens. Er flammte mit einem male heftig auf. Der Rauch wurde vom Winde in dichten, gewaltigen Massen in der Richtung nach Franz-Joseph-Land fortgetrieben, gleich einem Gruße von uns an Nansen und Johansen, die, wie wir glaubten, sich jetzt, so lange nach ihrer Abreise vom Schiffe, in jener Gegend befinden mußten.Dies war noch nicht der Fall. Nansen und Johansen kämpften noch immer ihren Strauß mit dem Eise, wenn auch südlicher als die »Fram«. Nansen schreibt hierüber II, 157: »... und wir sitzen hier noch immer auf dem Treibeise, kochen und braten uns Seehundspeck, essen Seehundfleisch, bis uns der Thran vom Leibe tropft, und vor allen Dingen wissen wir nicht, wie schnell dieses Leben ein Ende nehmen wird! Vielleicht haben wir noch einen Winter vor uns. Am allerwenigsten hätte ich geglaubt, daß wir jetzt hier sein würden.« Das war gerade das, was wir uns auch nicht gedacht hatten.

Das Johannisfeuer sah wirklich großartig aus, als es flammend und knisternd zu dem sich röthenden Abendhimmel emporloderte und die Eisfelder mit einem sprühenden Funkenregen überschüttete. Wir stellten uns in einer Gruppe um den Holzstoß auf und wurden so von Blessing photographirt. Dann gingen wir wieder aufs Schiff, aßen gut zu Abend, unter anderm unser norwegisches Nationalgericht, Buttergrütze, setzten uns dann um eine dampfende Frampunsch-Bowle und verbrachten einen sehr gemüthlichen Abend, lebhaft in Anspruch genommen durch das große Programm für den folgenden Tag.

Dieser fing mit demselben schönen Wetter an, das wir tagsvorher gehabt hatten. Nach dem Frühstück wurde mit dem Schlage 10 Uhr zum Wettrudern aufgebrochen. Scott-Hansen und Juell sollten in dem einen Boote mit langen Rudern, Bentsen und Hendriksen in dem andern mit kurzen Handrudern rudern. Beide Boote wurden gut gerudert, aber die Handruder kamen zuerst ans Ziel und gewannen den Preis (10 Kronen = 11 M. 25 Pf.), den Kapitän Sverdrup ausgesetzt hatte. Der eifrige, äußerst spannende Wettstreit wurde sowol von den Kampfrichtern wie von dem zahlreichen Publikum mit lebhaftem Interesse verfolgt und die Sieger wurden mit donnerndem Beifall belohnt.

Als dritte Nummer des Programms sollte ein Preisschießen stattfinden, wurde aber der schon weit vorgerückten Zeit wegen im letzten Augenblick von der Liste gestrichen. Wir zogen vor, unser Festmahl in Ruhe und Gemüthlichkeit zu verzehren und uns dann zu dem großen anstrengenden Programm des Abends durch einen ordentlichen Mittagsschlaf zu stärken. Schon eine gute Stunde, bevor sich das Theater mit einem zahlreichen, festlich gekleideten Publikum füllte (man konnte darunter eine Menge Notabilitäten der »Fram« sowie viele Vertreter der Presse, der Kunst und Literatur bemerken), hatten wir, die Auftretenden, eine Heidenarbeit gehabt, uns zu costümiren, zu frisiren und gehörig herauszuputzen. Da ich programmäßig erst später auftrat, half ich den andern beim Ankleiden. Unsere hauptsächlichste Schminke war – Holzkohle, und mit den Costümen halfen wir uns, so gut es ging. Bald konnte Scott-Hansen als ein ausgezeichneter Negerkomiker auftreten; Amundsen war mit verhältnißmäßig geringen Mitteln ein ungemein realistischer Lazzarone geworden, und einen natürlichern reisenden Handwerksburschen als Petterson trifft man auf keiner Landstraße.

Als alles so weit fertig war, daß die Vorstellung beginnen konnte, wurde das Publikum aufgefordert, sich einzufinden und Punschbowle und Pfeifen mitzubringen (so gemüthlich hat man es nicht in allen Theatern!). Mogstad »versammelte sich« mit seiner Violine als Orchester vor der »Lampenreihe«, und das Publikum nahm seine respectiven Plätze ein.

Es war bestimmt, daß das Vergnügen mit einem Prolog über die Bedeutung des Tages eröffnet werden sollte, welchen Auftrag ich bekommen hatte. Das Mogstad-Orchester spielte eine Ouverture; dann trat ich vor, etwas vom Lampenfieber befallen, das mich aber gleich verließ und einer wirklich gerührten Stimmung Platz machte, als ich auf allen Gesichtern las, wie vergnügt sie waren über unsere bescheidenen Anstrengungen, ein wenig Leben in die Bude zu bringen.

Ich möchte um die Erlaubniß bitten, die Worte, die ich bei dieser Gelegenheit sprach, hier anführen zu dürfen. Nicht daß sie etwas besonderes wären, sondern weil sie ausdrücken, wie wir alle miteinander zu dieser Zeit die Expedition betrachteten und wie wir über Nansen's und Johansen's Schicksal dachten. Sie lauteten nach den Aufzeichnungen in meinem Tagebuche folgendermaßen:

»Kameraden!

»Von allen Johannisfesten wird dieses wol am höchsten im Norden gefeiert.So war es auch. Nansen und Johansen befanden sich zu dieser Zeit auf 82° 4,3' nördlicher Breite. Laßt es uns deshalb mit Glanz feiern, laßt es uns so feiern, daß es nie aus unserer Erinnerung entschwindet! Laßt uns heute Abend so tief wie möglich in die Vorrathskammer der guten Laune greifen, um die trübe Stimmung des Polarlebens zu ersticken! Heute ist ja auch die zweite Wiederkehr des Tages, an dem wir die Anker lichteten und uns dem Schicksal überlieferten. Wir können uns zu dieser Stunde auch wol Nansen und Johansen sicher an Land denken, vielleicht auch auf irgendeinem Walfischfängerschiffe auf dem Wege nach der Heimat, mit staunenswerthen Resultaten. Heute ist das Fest der Laubhütten; aber, meine Herren! Sie müssen das Festcomité entschuldigen: es hat kein Laub auftreiben können. Wir müssen es denen daheim überlassen, wie wir es ihnen auch überlassen müssen, sich auf grünem Rasen unter schattigen Bäumen zu tummeln. Unser Tummelplatz sind die Schnee- und Eisfelder der Polarregion. Wir athmen ihre bacillenfreie Luft ein und sind damit zufrieden. Laßt uns unsere Gläser auf das Johannisfest, auf Nansen und Johansen und auf unsere Lieben in der Heimat leeren!«

Dieser Toast wurde mit allgemeiner Zustimmung aufgenommen. Wir sangen: »Daheim, ach daheim, da lebte es sich gut«, und dann fing die Vorstellung an.

Amundsen trug ein nettes Lied vor und machte seine Sache vortrefflich; dasselbe war auch bei Scott-Hansen und bei Petterson's »Bruder Straubinger« der Fall.

Nach beendeter Vorstellung gingen wir zum Tanze über. Damen hatten unsere Ballcavaliere allerdings nicht zur Verfügung, aber doch ging der Tanz, mit verschiedenen andern Erheiterungen abwechselnd, mit Lust und Leben über die Dielen. Der Abend währte bis 2 Uhr morgens, und die Stimmung war so urgemüthlich und lebhaft, daß das Johannisfest auf den sonnigen Abhängen in der Heimat wol auch nicht heiterer verlaufen ist als unseres hier im Polareise.

In diesem Sommer bildeten sich in unmittelbarer Nähe des Schiffes mehrere größere Rinnen, was im Jahre vorher nicht der Fall gewesen war. Nach den Erfahrungen, die wir jetzt von den Eispressungen in der Rinne um die »Fram« herum hatten, war das Erscheinen dieser größern Rinnen ein nichts weniger als beruhigender Anblick, und wir dachten mit bangen Ahnungen daran, was uns der Herbst und der Winter alles bringen mochten.

Um auf alles vorbereitet zu sein, selbst auf die schlimmste Möglichkeit – daß wir im Ernst unser Schiff verlassen müßten –, wurde während der Sommerszeit alle Kraft daran gewendet, eine genügende Anzahl Schlitten, Kajaks und Schneeschuhe anzufertigen und uns mit Zelten, Säcken für Lebensmittel und vielen andern Dingen zu versehen, deren wir im Falle einer Wanderung über das Eis bedurften.

Das Eis um das Schiff herum sah bald wie eine richtige Schiffswerft aus. Es wurde dort mit Säge, Axt und Hobel hantiert. Den Lärm, den die Arbeit der Zimmerleute und der Schreiner machte, accompagnirten die im Takt erschallenden Hammerschläge des Schmiedes. Als die Eichenstämme soviel als möglich verarbeitet waren, nahmen wir, wie schon erwähnt, das Petroleumboot auseinander und benutzten sein vorzügliches Material zu verschiedenen Dingen.

Außer den drohenden offenen Rinnen gab uns noch ein Umstand begründete Ursache zur Besorgniß: die »Fram« hatte seit den Pressungen im vorigen Herbst Wasser gezogen.

Das Leck war allerdings nicht von solcher Bedeutung, daß es unter gewöhnlichen Verhältnissen Anlaß zur Beunruhigung gegeben hätte. Aber da die »Fram« mit dem Vordersteven höher lag als mit dem Achterende, sickerte das eindringende Wasser nach hinten und sammelte sich unten im Maschinenraume an. Es wurde deshalb dort eine Pumpe eingesetzt, mit der wir das Schiff vom Wasser befreiten. Augenblicklich war also noch keine Gefahr vorhanden. Aber das Leck war nun einmal da und bewies, daß die »Fram« trotz ihrer durch und durch soliden Bauart im Kampfe mit den Eismassen doch Schaden genommen hatte. Wir waren dabei insofern machtlos, als wir durchaus nicht dahinter kommen konnten, wo das Leck eigentlich saß, und also auch nicht im Stande waren, es dicht zu machen. Man konnte ebensowenig wissen, wie es bei einem härtern Zusammenstoße mit den gewaltigen Mächten des Eises gehen würde.

Unter solchen Umständen konnten wir uns unmöglich sicher fühlen, doch ließ sich dabei nur eins thun: dem, was kam, mit aller Kraft entgegenzutreten.

Da wir glaubten, aus dem festen Eise herauskommen und die Maschine wieder gebrauchen zu können, wurde diese auseinander genommen und jeder einzelne Theil nachgesehen, gereinigt, geputzt und geölt, worauf sie wieder zusammengesetzt wurde, um in jedem Augenblick gebrauchsfertig zu sein. Ein ähnlicher Untersuchungs- und Reinigungsprozeß wurde auch mit der elektrischen Batterie vorgenommen.

In den Rinnen um das Schiff herum zeigten sich oft Narwale und Seehunde. Wir verschwendeten manchen nutzlosen Schuß an die Wale, bis wir durch Schaden klug wurden und einsahen, daß härtere Geschosse dazu gehören, um einen Walfisch zu tödten.

Wir wollten es nun mit Harpunen versuchen. Ein Fangboot wurde in die Rinne gebracht; Blessing saß hinten mit einer Flinte, und vorn stand Hendriksen mit einer Harpune. Aber es war gar nicht daran zu denken, auf Wurfweite an sie heranzukommen; dazu waren sie viel zu scheu.

Im übrigen vergeht die Zeit schnell mit allerlei Arbeit und dieser oder jener unerwartet hinzukommenden Thätigkeit. Eine solche fiel mir eines Tages durch unsere Eisthermometer zu, die sich erlaubt hatten, im Eise festzufrieren. Hier mußte mit List und Vorsicht zu Werk gegangen werden. Ich füllte die Löcher mit grobem Salz und bekam im Laufe des Tages die beiden obersten Thermometer heraus. Um auch das letzte, das am tiefsten hing, wieder zu erlangen, streute ich Ruß und Asche um das Loch, damit die Sonne stärker wirken und das Eis um das Thermometer herum allmählich zum Schmelzen bringen könnte. Mit Aufbietung eines guten Theiles Vorsicht und einer tüchtigen Portion Geduld gelang es uns, das Thermometer unbeschädigt aus dem Eise zu ziehen.

Blessing beschäftigt sich noch immer mit dem Entnehmen von Blutproben. Er hat es gethan, seit wir Chabarowa verlassen haben; er macht uns einen kleinen Einschnitt ins Ohrläppchen und »zapft« uns auf diese Weise das Blut ab.

Jeder hat seine bestimmte tägliche Arbeit. Ich habe Bentsen in der Küche abgelöst. Er hat nun angefangen, »Schuhe« (Unterkufen) für die Schlittenkufen bei schneefreier Bahn zu verfertigen. Bei dem nassen Eise im Sommer ist nämlich Holz besser als Aluminium und Stahl. Petterson ist damit beschäftigt gewesen, eine neue Art Harpunen zu schmieden, die nach den bisher mißglückten Versuchen dazu bestimmt sind, den Narwalen ernstlich den Garaus zu machen; außerdem schmiedet er große Nägel für die Schlitten. Als Material benutzt er Stahldraht, der früher zum Festbinden gebraucht worden ist, und der »Primus« dient ihm als Esse.

Während wir auf die Resultate der Petterson'schen Harpune warteten, hatten wir ein wenig mehr Glück mit den Seehunden, als uns bisher mit den Walfischen beschieden war. Auch die Seehunde waren ziemlich scheu, aber wir schossen dennoch ein paar, sodaß wir nun zwischen all den Conserven auch ab und zu ein bischen frisches Fleisch zu essen bekamen. Ich glaube nicht, daß Seehundsbraten daheim in unserm Vaterlande für ein besonders feines Essen gilt oder je gegolten hat, aber uns schmeckte er wie die delicatesten Krammetsvögel, und man hätte nur sehen sollen, mit welcher Gier wir über den köstlichen Braten herfielen, als er zum ersten male auf den Tisch kam.

»Lina«, unsere theure »Lina«, hatte seit ziemlich langer Zeit ihren Verehrern alles andre als Wohlwollen gezeigt und echt weiblichen Wankelmuth an den Tag gelegt. Bald wies sie in ihrer Laune nach dieser, bald nach jener Richtung, aber stets nach einer verkehrten. Die am 31. Juli angestellte Beobachtung ergab, daß wir seit Johannis wieder um 4 Minuten zurückgetrieben waren. Dabei war es unfreundliches Wetter, Regen mit Schnee gemischt und Schneegestöber.

Die Scholle um unser Schiff herum wurde immer mehr zerstückelt, und das Schiff fing an, sich mit dem Eise zu drehen. Es sah wirklich aus, als sei schon der Winter im Anzuge. Dies, in Verbindung damit, daß unser Leben in der freien Luft infolge der erbärmlichen Eisverhältnisse auf einen gelegentlichen Spaziergang auf Deck beschränkt werden mußte, trug nicht dazu bei, die gute Laune zu erhöhen, und die Stimmung an Bord war besonders wegen der drohenden Aussichten für den Winter oft nichts weniger als gehoben.

Ein Glück war es wenigstens, daß uns die Verhältnisse so viel Arbeit brachten, daß uns nur wenig oder gar keine Zeit zu Grübeleien blieb. Nachdem die Großboote auf das Eis gesetzt worden waren, kam die Reihe an das Göpelwerk, das auch an Land gebracht wurde, um das Schiff soviel wie möglich zu erleichtern, was bei einer Pressung von großem Nutzen sein konnte. Mancherlei andere Dinge, fertige Schlitten und Kajaks, Proviant u. s. w., wurden ebenfalls hinausgeschafft und auf dem größten Eishügel sicher befestigt, und alle möglichen Vorbereitungen wurden mit größtmöglicher Umsicht und Fürsorge getroffen. Für alle Fälle sollte auch an Bord der »Fram« ein Depot von Proviant und andern Ausrüstungsgegenständen errichtet werden, entsprechend dem, welches wir auf dem Eise hatten. Beide waren darauf berechnet, für mindestens 70 Tage auszureichen, und der Zweck dabei war natürlich, daß wir, wenn uns das eine verloren ginge, das andere in Reserve behielten.

Dreiundzwanzig Monate lang hatte unsere theure »Fram« im Eise wie in einem Trockendock gelegen. Eine Schattenseite hatte dies aber gehabt. Seit der gewaltsamen Pressung im letzten Herbst, die sie so heftig nach der Steuerbordseite hinüberdrängte, war das Schiff in derselben Neigung liegen geblieben. Ein jeder wird verstehen, wie unbehaglich diese »Schlagseite«, wie der seemännische Ausdruck lautet, für uns an Bord sein mußte. Sobald wir über Deck gingen, waren wir gezwungen, es im »Seemannsgange« zu thun. Natürlich war uns dies auch bei allen unsern Arbeiten ein böses Hinderniß; wir konnten kaum etwas aus der Hand legen, ohne befürchten zu müssen, daß es herunterfiele. Der Winkel, in dem das Schiff geneigt lag, betrug 6 ½ Grad. Am 9. August ging jedoch darin eine Veränderung vor sich – vorläufig nur insofern, als wir »dasselbe auf andere Weise« bekamen.

Es riß nämlich die Eisscholle, die uns umschloß, dicht am Schiffe selbst. Sowie die Scholle barst, glitt die »Fram« auf der Steuerbordseite von dem hohen Eisstapel, auf dem sie gelegen, herab. Für die, welche sich in diesem Augenblicke draußen auf dem Eise befanden, war es ein imponirender Anblick, als die »Fram«, die so lange wie eine an ihrem Lager festgenagelte, todte Masse dagelegen hatte, plötzlich wieder Leben bekam und sich zu rühren begann. Und uns, die wir an Bord waren, klang es, als stoße sie einen Seufzer der Erleichterung aus, daß sie nun die Eisfesseln abschütteln, wieder dahingleiten und sich von ihrem eigentlichen Elemente umfangen lassen durfte.

Wir hatten nun an Steuerbordseite offenes Wasser. An Backbord hingegen lagen wir noch immer im Eise fest. Wir hatten jetzt die Schlagseite auf der entgegengesetzten Seite, aber doch nicht so schlimm wie vorher. Es war, als wenn der Eisriese mit der rechten Hand das Schiff hätte loslassen müssen, aber es nun noch mit der linken packte, um uns bis zum äußersten festzuhalten.

Wir begannen deshalb hin und her zu überlegen, wie wir uns auch die Schlagseite an Backbord vom Halse schaffen könnten, und beschlossen zuletzt, es mit einer Dosis Pulver zu versuchen. Es wurde ein Versuch mit einer Ladung von drei Kilogramm angestellt, die an Backbord hinter dem Schiffe angebracht wurde. Scott-Hansen fuhr auf einem Prahm hinaus und zündete mit Hülfe einer elektrischen Batterie die Mine an. Es gab einen großartigen Knall, und Eisstücke und Wasser flogen und spritzten himmelhoch auf, aber der »Fram« fiel es nicht einmal ein, sich zu rühren. Noch hatte die Eisfaust ihren Griff nicht gelockert; es war nur ein schwacher Klaps, den sie bekommen.

Wir lachten alle, als wir dies sahen, wußten wir doch, daß hierzu andere Kugeln gehörten. Wir fingen schon an, alles für den nächsten Tag in Stand zu setzen, damit wir dann eine weit kräftigere Ladung anbringen könnten, als wir mit einem mal über einem schwachen Geräusche auffuhren, das rasch an Stärke zunahm. Scott-Hansen und Petterson, die draußen auf dem Prahm am Rande des Eises damit beschäftigt waren, den elektrischen Leitungsdraht einzuholen, mußten Hals über Kopf die Flucht ergreifen, denn das Eis war unter Lärm und Gepolter plötzlich gerissen: die andere Riesenfaust ließ ebenfalls los, und die »Fram« konnte frei und majestätisch ins offene Wasser gleiten.

Welch ein Anblick, sie nach so langer Zeit wieder in ihrem wahren Element schaukeln und ihre hohen Masten sich in dem klaren Wasser spiegeln zu sehen! Wir freuten uns alle wie kleine Buben, wenn sie im Frühling bei Thauwetter wieder Gelegenheit haben, ihre kleinen Schiffe auf den Pfützen schwimmen zu lassen. Es gab sofort muntere Thätigkeit durch das Hervorsuchen der Trossen und der Eisanker, mit denen das Schiff fest vertäut werden mußte.

Bei dieser Naturrevolution war jedoch große Verwirrung unter vielen unserer Habseligkeiten entstanden, die nun auf den losen Eisschollen forttrieben, die einen hierhin, die andern dorthin. Es gab tüchtig zu thun, bis wir sie alle wieder beisammen hatten, um so mehr, als wir auch gezwungen waren, mit unserm Depot von dem Eishügel umzuziehen. Doch die Freude über die Befreiung der »Fram« war so groß und so allgemein, daß uns all die viele Arbeit mit Lust und Liebe und unter beständigem Lachen und Scherzen von der Hand ging.

Was mich betrifft, mußte ich schnell mit Scott-Hansen das Haus mit den meteorologischen Instrumenten und das Beobachtungszelt, sowie die Instrumente für die Tiefseelothungen und verschiedenes andere, was noch zur wissenschaftlichen Ausrüstung gehörte, nach der neuen Scholle bringen, die wir gewählt hatten, als die alte in Drift gekommen war. Es war anstrengend, aber »das gehört zum Vergnügen«, sagte der Mann, als er an seinem Hochzeitstage Prügel bekam.

Ja, so sind wir Menschenkinder. Ein paar Tage schlechtes Wetter und eine Enttäuschung in Betreff der Drift konnten unser Gemüth oft derartig niederdrücken, daß wir uns alle Aussichten verschlossen sahen und ernstlich in Gefahr schwebten, in gänzlichen Stumpfsinn zu versinken, aus dem wir uns mit Gewalt aufrütteln mußten, damit die uns obliegende Arbeit gethan wurde. Bei einem Ereignisse wie dem eben erzählten aber war es, als zertheile sich die Nebelwand und alles läge hell und sonnig wie ein strahlender Tag vor uns.

Und dies war gut. Denn es war doch das erste Anzeichen dessen, was uns schließlich vorwärts und nach Hause führen sollte.


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