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Ich sehe, meinen Lesern schwebt die Frage auf den Lippen: Wie hat es euch, die ihr nun die lange Winternacht gemeinsam verbringen solltet, bisher behagt, miteinander stets in so naher Berührung zu leben, wie die Verhältnisse an Bord der »Fram« es nothwendigerweise mit sich brachten? Und wie war Nansen, wird man mich fragen, wie Sverdrup und wie die andern?
Auf die erste Frage kann ich nur antworten, daß der Verkehr zwischen uns, den Gemeinen, bisher den Stempel einer so guten Kameradschaft getragen hat, wie man es sich nur wünschen konnte. Und gute Kameraden blieben wir, das darf ich sagen, auch während der langen drei Jahre, wenn auch der Gesprächsstoff, nachdem Monate und Jahre dahingegangen, aufs äußerste erschöpft war und wir einander so genau kannten, daß es beinahe langweilig wurde. Infolge dessen nahm das Zusammenleben nach und nach unvermerkt ein anderes, oft recht seltsames Gepräge an, worauf ich später zurückkommen werde.
Der Salon im Achter war der Mittelpunkt, in dem wir uns alle versammelten. Um ihn herum lagen die einzelnen Kabinen, die Nansen's ganz vorn links und Sverdrup's Kabine rechts, der erstern gerade gegenüber. Hinter Nansen's Kabine lag die von Blessing, dieser gegenüber die Scott-Hansen's. Und dann kamen im Hintergrunde des Salons in der Breite zwei größere Kabinen, von denen die eine für Amundsen, Johansen, Juell und Petterson, die andere ursprünglich für Mogstad, Jacobsen, Hendriksen und mich bestimmt war. Doch als noch Bentsen hinzugekommen war, mußte für ihn bei uns Platz geschaffen werden, und da wurde es doch recht eng. Räume für Bälle und große Feste hatten wir nicht, aber von solchen Lustbarkeiten konnte an Bord eines solchen Schiffes ja überhaupt keine Rede sein.
Ich darf übrigens wol aussprechen, daß ich fest davon überzeugt bin, die lange, trübe Winternacht, die sich uns allen so kalt und drückend düster aufs Gemüth legte, hätte nicht eine so bezwingende Macht über uns erlangt, wenn wir ein wenig mehr Licht und Raum an Bord gehabt hätten.
Ob die Veränderungen, die für die bevorstehende Expedition Sverdrup's auf der »Fram« vorgenommen werden sollen, auf Grund dieser Erfahrungen für nöthig befunden worden sind, weiß ich nicht, halte es aber nicht für unwahrscheinlich.
Ja, wir Kameraden sind in der That miteinander gut ausgekommen. Man kann vielleicht sogar mit Fackeln und Laternen nach einem gleichen Beispiel suchen. Natürlich kam es zwischen uns hin und wieder zu einer kleinen Reibung; anders wäre es ja auch nicht möglich, solange wir Menschen sind und nicht mit Engelsflügeln umherstiegen, aber nie drängte sich etwas zwischen uns, das uns im Ernst entzweien konnte.
Und dann will ich noch eins sagen: daß wir alle von Anfang an fest an den glücklichen Verlauf der Expedition glaubten, uns darüber freuten, an einem solchen Unternehmen theilnehmen zu dürfen, und daß wir stolz darauf waren, unter so vielen Hunderten von Bewerbern die Auserwählten zu sein.
Derjenige, der uns eines nicht so ganz geringen Theils unsers Frohsinns und unsers Vertrauens auf die Zukunft an Bord berauben sollte, war unglücklicherweise Dr. Nansen selbst. Er vergaß sich uns allen gegenüber einmal, nur ein einziges mal. Aber dies ließ auf lange Zeit einen Stachel zurück.
Und die Ursache des ganzen Spektakels war – eine Flasche Bier, die er nicht finden konnte! Wenn je, so kann man hier das englische »Much ado about nothing« (Viel Lärm um nichts) anführen.
Es war ungefähr einen Tag nach unserer Abreise von Vardö. Nansen war, aus irgendeinem uns unbekannten Grunde, nicht bei Laune. Da begab es sich denn, daß er Flaschenbier, das er aus einer Kiste nahm, wegstauen wollte. Dabei verschwand ihm plötzlich eine Flasche sozusagen unter den Händen – wo sie geblieben, ist nie aufgeklärt worden.Ob nicht die zunächstliegende Erklärung, daß er sich verzählt haben muß, die richtige ist, und seine Erbitterung über die vermeintliche »Mauserei« durch eine Selbsttäuschung veranlaßt worden war?]
Sei es, daß ihn seine üble Laune dazu veranlaßte oder daß noch ein anderer Grund vorlag, genug, Nansen fuhr auf und warf mit allen möglichen Beschuldigungen um sich.
Ich stand in diesem Augenblick gerade oben im Windfange des Maschinenraums, und da diese Aeußerungen ebenso gut auf mich wie auf sonst jemand gemünzt sein konnten, fragte ich:
»Sagen Sie mir, Nansen, glauben Sie, daß ich oder sonst einer aus dem Maschinenraume das Bier genommen hat?«
»Nein!« antwortete Nansen kurz.
Ich ging wieder zu meiner Heizerarbeit hinunter. Ich mußte glauben, wie es auch anzunehmen war, daß das Ganze nur ein augenblicklicher Ausbruch schlechter Laune gewesen sei.
Man kann sich daher unser aller Erstaunen denken, als eine Weile darauf die ganze Mannschaft auf das Achterdeck befohlen wurde, weil Nansen uns etwas mitzutheilen habe, und als wir dort sehr bald erfuhren, daß wieder die verschwundene Bierflasche auf dem Tapet war. Das kann ich sagen, selten sind Leute so gründlich nach Noten ausgescholten worden, wie es uns bei dieser Gelegenheit ging.
Und hätte er nur, nachdem er sich beruhigt, sein Versehen wieder gut gemacht! Aber dies that er unglücklicherweise nicht.
Doch, endlich einmal! Als wir an jenem unvergeßlichen Tage im März 1895 auf dem Achterdeck der »Fram« versammelt waren, um Nansen und Johansen, die beide allein in das Polareis hinauszogen, das letzte Lebewohl zu sagen, da dankte Nansen uns mit warmen Worten für unsere Treue und sagte, daß es keine bessern Männer gebe, und da bat er uns, ihm zu verzeihen, wenn er bisweilen vielleicht hitzig gewesen sei und heftige Worte gebraucht habe, denn im Ernst habe er es nie so gemeint.
In diesem Augenblick war alles, was uns hätte scheiden können, in unserm Herzen ausgelöscht. Leider erst dann, als wir auf andere Weise voneinander scheiden mußten. Doch besser spät als niemals. Ihn, zu dessen Führereigenschaften wir alle mit so grenzenloser Bewunderung aufblickten, wollten wir doch auch als Persönlichkeit gern wirklich liebhaben können. Und darum war es sehr schade – und gerade deshalb habe ich hier dabei verweilt! –, daß jener obenerwähnte Auftritt einen Schatten auf unser sonst so ausgezeichnetes Zusammenarbeiten werfen mußte.
Nansen war sonst in seinem ganzen Wesen einfach und offen. Gab es etwas auszuführen, sei es groß oder klein, so war er zwar ernst und zugeknöpft, ja beinahe barsch, solange die Arbeit nicht fertig war. Nachher aber war er die Gutmüthigkeit und die Munterkeit selbst. Er gehörte zu den Menschen, deren Lächeln erheitert und erwärmt.
Kapitän Sverdrup war seinem Temperament nach Nansen's directer Gegensatz. Stets ernst bewegte er sich zwischen uns. Selten sah man ein Lächeln auf seinen Lippen, und ihn lachen zu hören – das, glaube ich, hat wol keiner von uns erlebt. Aber deshalb darf man nicht glauben, daß er verdrießlich gewesen wäre oder ein mürrisches Gesicht gezeigt hätte. Im Gegentheil, er war immer freundlich, ertheilte Befehle, fragte und antwortete in seiner sich stets gleichbleibenden stillen Weise. Ist er auch nicht wie Nansen einer von denen, die einen in Begeisterung mit sich fortreißen können, so erweckt er dafür Zutrauen und Sicherheit wie kein Zweiter.
Und diese große, unwandelbare Eigenschaft Sverdrup's trat immer mehr hervor, je weiter die Zeit vorschritt und je schwerer die Einsamkeit des Polareises auf uns andern lastete. An ihm war keine sichtbare Veränderung zu bemerken. Darin lag mehr Aufmunterung und ein größerer Sporn zur Ausdauer für uns alle, als uns vielleicht selbst bewußt wurde.
Doch zurück zu meiner Erzählung.
Wir machten uns jetzt im Ernst an die Vorbereitungen für die Ueberwinterung. Alle möglichen Geräthe wurden in Stand gesetzt, geputzt und fein gemacht, nach bestimmten Regeln geordnet und jedes an seinen Platz gestellt, sodaß man es im Handumdrehen hervorholen konnte. Dann hielten wir ein Generalscheuerfest auf dem Schiffe und an unserm Leibe.
Während unser eigenes Reinigungsfest vor sich ging, wurden wir von Dr. Blessing gewogen und nicht zu leicht befunden. Er entnahm auch jedem einzelnen eine Probe Blut und konnte das vergnügliche Factum constatiren, daß wir uns alle des besten körperlichen Befindens erfreuten. Das Blut war sogar noch »besser« als das uns beim letzten Wägen abgezapfte, wenn es auch infolge des herannahenden winterlichen Dunkels ein wenig heller war.
Am 29. September, einige Tage nachdem wir uns im Winterlager festgelegt hatten, war Dr. Blessing's Geburtstag. Da wir jetzt viel überflüssige Zeit zur Verfügung hatten, konnten wir dem Tage die größte Aufmerksamkeit zuwenden. Es wurde zu Ehren des Geburtstagskindes ein Galadiner gegeben, und den Abend verbrachten wir mit fröhlicher Unterhaltung, Gesang und Musik. Ja, einige wagten sogar ein Tänzchen.
Wir lagen jetzt im Eise festgefroren, und damit begann auch die von Nansen vorherberechnete Eisdrift der »Fram«. Was die Ursachen derselben betrifft, glaube ich nicht, mich mit den von Nansen aufgestellten Theorien vollständig einverstanden erklären zu können. Ich komme später wieder darauf zurück und werde dann in aller Bescheidenheit die Ansicht darlegen, zu der ich selbst gekommen bin.
Anfangs ging es mit der Drift sehr gut. Wir trieben mit dem Eise so schnell nach Norden, daß wir uns am 1. October schon auf 79º nördlicher Breite befanden. Die Temperatur war -6º C.
Die armen Hunde, die in der ganzen Zeit seit unserer Abreise von Chabarowa deutlich an den Tag gelegt hatten, daß ihnen das eingeschlossene Leben an Bord nicht behagte, wurden nun frei gelassen und durften sich nach Herzenslust auf dem Eise herumtummeln.
Da zeigte es sich denn augenblicklich, daß sie hier die für ihre Natur besonders geeigneten »lokalen Verhältnisse« fanden, die sie so lange und so schwer entbehrt hatten. Das war eine Jagd hin und her, eine wilde Lustigkeit sondergleichen! Es war beinahe rührend, ihre Freude zu sehen. Wenn wir selbst auf das Eis kamen, stürmte uns die ganze Schar schweifwedelnd unter lautem Freudengebell entgegen; sie sprangen an uns hinauf und wußten nicht, wie sie ihren stürmischen Gefühlen deutlich genug Ausdruck verleihen sollten. In der Nacht mußten sie wieder an Bord, in das Gefängniß, zurück, aber doch nur, um dort zu schlafen.
Jetzt erbaute auch Scott-Hansen sein »Königlich Norwegisches Observatorium« auf dem Eise in Gestalt eines Zeltes. Es wurde ungefähr 1000 Meter vom Schiffe aufgeschlagen. Um die Stative und die Tische festzumachen, begoß er die Füße mit Wasser, das dann gefror.
Am 2. October, als Scott-Hansen, Blessing und Johansen gerade mit dem Zelte beschäftigt waren, ertönte auf einmal der Ruf: »Ein Bär!«, und richtig, da kam wirklich ein gewaltiger Petz angezottelt und steuerte direct auf das Zelt los. Er heftete seine Blicke »liebevoll« auf Blessing und Johansen, die beide neben dem Zelte standen, der eine mit einer Axt, der andere mit einer Stange in der Faust. Schon bereiteten sie sich darauf vor, mit diesen Waffen den Kampf mit der Bestie aufzunehmen, als Nansen vom Schiffe aus auf ihre kritische Lage aufmerksam geworden war und eine Kugel aus seiner sichern Flinte dem Kriege ein Ende machte, noch ehe er begonnen. Es war ein prächtiges Thier, aber sehr abgemagert. Alles, was sich in seinem leeren Wanste befand, war ein Stück Packpapier, auf dem der Name einer Firma aus Christiania und deren Fabrikmarke, ein Hängeschloß, aufgedruckt war.
Meine Hauptbeschäftigung in dieser Zeit war das Kochen, und oft mußte ich mir wahrhaftig ordentlich den Kopf zerbrechen, um ein Menü zu erdenken, das auf der ganzen Linie Beifall finden würde.
Die Kälte nahm mittlerweile schnell zu. Da von einem Weiterkommen mit Dampf und Segel nicht mehr die Rede sein konnte, wurde das Steuer aufgenommen, damit es in den Eispressungen nicht zerbräche.
Auch sonst richteten wir uns für den Winter ein. Unsere bisherigen Anzüge und unser Bettzeug genügten jetzt nicht mehr. Wir kleideten uns wie Esau vom Kopf bis zur Zehe in Felle und sahen in dieser Gewandung so wunderlich aus, daß wir einander anfänglich gar nicht erkennen konnten.
Ich habe früher schon von unsern Hunden erzählt und von ihrer stürmischen Freude darüber, daß sie sich frei auf dem Eise tummeln durften. Doch auch dort lief es mit ihnen nicht immer glatt ab. Ehe man sich dessen versah, kam es zwischen ihnen zu wilden Raufereien und mörderischen Treffen, und es war oft eine recht anstrengende Arbeit, die Streitenden auseinanderzubringen.
Bei diesen Tournieren waren »Barrabas« und »Pan« beinahe immer die Anführer. Sie waren stets geschworene Feinde gewesen. »Barrabas« sollte, wie die Rede ging, der Stammvater der ganzen Schar sein; er war ein prachtvolles Thier und blieb meistens Sieger, aber bei der letzten Rauferei erhielt er die allerschönsten Bisse. Er und »Pan« waren beide gute Zughunde, aber »Pan« war jünger und ebenso stark und wollte es seinem Stammvater in allen Fertigkeiten zuvorthun, was dieser augenscheinlich nicht leiden konnte. An Bord herrschte über »Pan« nur eine Meinung, die, daß er, natürlich nach »Kvik«, unser bester Hund und außerdem liebenswürdig und gehorsam sei.
Als die Hunde sich eines Tages unten auf dem Eise tummelten, begann dieses sich so zu theilen, daß auf jeder treibenden Eisscholle einige waren. Ich mußte augenblicklich mit dem Boote hinaus, um sie wieder zu holen und an Bord zu bringen; aber dies war beinahe eine Arbeit wie »des Königs Hasen hüten«, wovon uns das Märchen erzählt. Ich mußte eine ordentliche Treibjagd anstellen, um ihrer habhaft zu werden, und wenn ich einen im Boote hatte und auf die Scholle sprang, um nach einem andern zu greifen, war der eben Eingefangene schon wieder auf dem Eise, bis ich mit dem zweiten zurückkehrte.
Das Ende vom Liede war, daß ich an Bord mußte, um mir Beistand zum Sammeln der Bande zu erbitten.
Da uns an Bord allerlei Winterarbeit sehr in Anspruch genommen hatte, waren die Hunde in dieser Zeit mehr als sonst sich selbst überlassen worden, und nun, da wir sie alle sammelten, sahen wir die Folgen davon. Bei ihren Raufereien waren drei ziemlich schwer verwundet worden, so schwer, daß wir die Aermsten verbinden und pflegen mußten. Doch nicht genug damit, sie hatten auch einen von ihnen umgebracht und ihm obendrein das Blut ausgesogen; es war ein Hund mit dem traurigen Namen »Hiob«.
Armer »Hiob«, sein Wesen entsprach seinem Namen. Er war ein wunderliches Thier; ja, ich glaube fast, ich habe noch nie etwas so Schwermüthiges, Niedergeschlagenes und Unterdrücktes gesehen. Von seiner Ankunft an Bord an suchte er stets nach einem Schlupfwinkel, in dem er sich vor den andern verstecken konnte. Er kniff den Schwanz beständig zwischen die Beine und kam nicht einmal zur Futtervertheilung aus seinem Loche heraus. Auch draußen auf dem Eise suchte er die Einsamkeit und ging den andern soweit wie möglich aus dem Wege. Diesmal aber mußte es ihm nicht geglückt sein, und da hatten sie sich wahrscheinlich gemeinschaftlich auf ihn gestürzt und ihn zerrissen.
Am 9. October sollten wir zum ersten mal kennen lernen, was eine Eispressung hier oben in diesen Gewässern bedeutet. Die »Fram« erfuhr einen solchen Druck, daß die beiden Stahldrahttrossen, mit denen wir sie mit Hülfe von zwei Eisankern vertäut hatten, mitten durchrissen.
Das Schiff hob sich sofort um zwei Fuß: der erste deutliche Beweis, daß es den Berechnungen entsprach, nach denen sein Rumpf construirt worden war. Daß die Stimmung an Bord sich mindestens zu derselben Höhe wie der Schiffsrumpf erhob, brauche ich wol nicht erst zu versichern. Denn gerade dies sollte uns ja auf der ganzen Reise unsere Sicherheit geben. Und was unser schönes Schiff hier versprach, das hat es nachher auch redlich gehalten. Die Begebenheit wurde natürlich mit einem Extrafeste und Toasten auf die »Fram« und unser geliebtes Norwegen gefeiert.
Was für eine seltsame, unheimliche, aber in ihrer Majestät auch mächtig ergreifende Stille herrschte in dieser Eiswüste, sobald wir uns von unserm Schiffe mit seinem bischen Leben und Lärm eine Strecke entfernt hatten! Das Einzige, was das Schweigen unterbrach, war das klagende, melancholische Heulen des Windes, der über die Eisfelder hinstrich. An Bord hörten wir ihn Tag und Nacht im Takelwerk heulen, klappern, kreischen und pfeifen, sodaß wir uns bald an die Musik gewöhnten und kaum mehr darauf achteten.
Doch wenn eine Eispressung kam, dann ging es aus einer andern Tonart. Als wir die Pressungen zum ersten mal hörten, fuhr es uns geradezu durch Mark und Bein, und im Anfang – bevor wir uns auch an diese Musik gewöhnt hatten – konnten wir kein Auge zuthun, solange sie dauerte. Es machte den Eindruck, als seien in der bisher so todtenstillen Eiswüste auf einmal Tausende von fürchterlichen, übernatürlichen Wesen lebendig geworden – es läßt sich dies mit Worten nicht ausdrücken! – und manchmal, immer wenn das Eis barst, hörte es sich genau so an, als würden mehrere Batterien Krupp'scher Kanonen auf einmal abgefeuert. Vor diesem Höllenconcert hatten sogar die Hunde Angst, wie man deutlich hören und sehen konnte. Sie stießen ein lautes Klagegeheul aus und bebten am ganzen Leibe wie Espenlaub; entschieden hatten sie die feste Ueberzeugung, daß ihnen irgendeine fürchterliche Gefahr drohe.
Die heftigen Pressungen rissen das Eis um uns her auf, sodaß die »Fram« plötzlich in einer Rinne lag, die nach allen Seiten viele Meter breit war. Aber auch dieser war nicht zu trauen; den einen Augenblick konnten wir darin rudern und segeln, im nächsten hatte sie sich schon wieder geschlossen. Wir mußten deshalb in größter Hast das Beobachtungszelt und die Instrumente wieder an Bord bringen, nachdem wir eben erst mit vieler Mühe draußen auf dem Eise alles so vortrefflich eingerichtet hatten.
Am 10. war Nansen's Geburtstag – sein erster an Bord der »Fram« –, weshalb wir ihn auch nach Gebühr zu feiern gedacht hatten. Aber Nansen war gerade in diesen Tagen durchaus nicht wohl; es lag ihm etwas in den Gliedern, wie man zu sagen pflegt, vielleicht eine kleine Influenza als letzte Erinnerung an die Civilisation, der wir den Rücken gekehrt hatten. Trotzdem gab es, wie immer bei solchen Gelegenheiten, ein wenig Extratractament, im übrigen aber wurde der Tag »im Stillen gefeiert«, wie es in den Hofberichten heißt.
Am 13. schloß sich das Eis wieder zusammen, und die Hunde wurden wieder auf das Eis hinuntergelassen. Am Abend des nächsten Tages – wir saßen gerade, die einen plaudernd, die andern Karten spielend, gemächlich im Salon beisammen – hörten wir die Hunde ein fürchterliches Concert anstimmen. Scott-Hansen ging hinauf und kam bald mit der Nachricht wieder, daß gewiß Bären draußen seien.
Wir, alle wie ein Mann, mit unsern Gewehren auf Deck. Draußen auf dem Eise gewahrten wir einen Schatten, den wir für einen Meister Petz hielten; wir mußten aber die größte Vorsicht beobachten, um nicht in der Dunkelheit statt seiner die Hunde zu treffen. Als wir endlich ohne dieses Risiko schießen konnten, knallten unsere Büchsen alle auf einmal, und bald darauf fanden wir den Bären mausetodt. Es war ein einjähriges Männchen, mit dem wir nach allen Regeln der Kunst umsprangen, nachdem es an Bord gebracht worden war.
Am Tage darauf, einem Sonntag, fanden wir im Schnee die Spuren einer kleinen Bärenfamilie. Nansen, Sverdrup, Blessing, Mogstad, Hendriksen, Bentsen und ich zogen sofort mit allem zur Jagd Gehörigen, darunter fünfzehn Hunden, aus und machten uns daran, die Spuren zu verfolgen.
Bald fanden wir auch Blutstropfen, die uns zeigten, daß wir auf der rechten Fährte waren. Und wir brauchten auch nicht weit zu gehen, als wir in der Entfernung einen Bären gewahrten, der sich mühsam, den Unterkörper nachziehend, fortschleppte. Wir holten ihn rasch ein und machten seinen Leiden schnell ein Ende. Das erlegte Thier war ein Junges vom letzten Wurfe, woraus wir den naheliegenden Schluß ziehen konnten, daß die Mutter ebenfalls in der Nähe sein mußte. Verschiedene Umstände bewirkten jedoch, daß diese Jagd eingestellt wurde.
Bis zum 26. October ging an Bord alles seinen gewöhnlichen Gang. Ich besorgte die Arbeiten bei der Beleuchtungsanlage und der Windmühle und war außerdem noch, sobald ich Zeit fand, in der Küche thätig. Die Windmühle war eine prächtige Einrichtung. Hätten wir sie nicht gehabt, so hätten wir die ganze lange Winternacht in unheimlicher, von einer matten Petroleumlampe nur spärlich erhellter Finsterniß zubringen müssen. Doch wenn die Mühle im Gange war, strahlte unser Salon im schönsten, schneeweißen elektrischen Lichte ebenso hell wie der Salon im »Grand Hotel« zu Christiania, und es ist kaum zu glauben, wie das den Sinn belebte! In den Kabinen war aus verschiedenen Gründen schon seit längerer Zeit kein Licht gestattet, was den Aufenthalt dort natürlich nicht besonders anziehend machte.
In der Küche, ja! Essen wollten sie natürlich alle haben, aber der sein, der es zubereitet – das war doch etwas anderes. Es waren nicht viele da, die Lust zum Kochen hatten, und deshalb war es auch keinem als Hauptbeschäftigung übertragen worden.
Der 26. October war ein sehr bedeutungsvoller Tag: der Geburtstag der »Fram«. Und da sie unsere Erwartungen durchaus nicht getäuscht, sondern sie in reichstem Maße erfüllt hatte, war es nicht mehr als schuldige Dankbarkeit, daß wir ein Fest veranstalteten. Es fing mit einem Preisschießen draußen auf dem Eise an.
Zwei Fahnenstangen mit der norwegischen Flagge wurden dort angebracht und eine Schußbahn von 100 Meter abgesteckt. Dorthin begaben wir uns alle, außer Amundsen, der nicht mitwollte. Nun ging es los; wir merkten aber bald, daß es hier nicht so war wie auf dem Grasholm in Christiania. Wir mußten wahrhaftig flink zielen, wenn wir nicht wollten, daß unsere Finger an dem Hahne und dem Laufe festfroren. Es herrschte nämlich an jenem Tage eine milde Temperatur von -24º. Du liebe Zeit, wir mußten uns später noch an viel stärkern Pfeffer gewöhnen, aber vorläufig fanden wir diese Temperatur hinreichend kühl.
Das Schießen verlief nichtsdestoweniger ausgezeichnet; die Treffsicherheit war durchgehends sehr respektabel, und wir erhielten alle einen Preis, sogar Amundsen, der doch gar nicht mitgeschossen hatte. Alle Preise waren von einer scherzhaften Devise begleitet. Dann folgte ein Festmahl mit Kaffee und am Abend Musik und gesellige Zusammenkunft, wobei große Verschwendung mit Reden getrieben wurde.
Aber der 26. October war auch in anderer Hinsicht für uns ein bedeutungsvoller Tag: wir sahen heute die Sonne zum letzten mal in diesem Jahre, um sie dann mehrere Monate hindurch nicht wieder zu erblicken. Nun erst sollte sich zeigen, ob wir im Stande waren, auszuhalten und – zusammenzuhalten, wenn die schwere, niederdrückende Finsterniß der Polarnacht mit ihrer ewigen Einförmigkeit uns in ihren schwarzen Mantel hüllte.
Mit seltsamen, wehmüthigen Gefühlen sahen wir den letzten Strahl der feurigen runden Kugel, dieser Licht- und Lebenspenderin, unter dem Horizonte verschwinden und auf mehrere Monate in der Tiefe versinken, und, zu einer Gruppe an der Schiffsseite versammelt, schauten wir alle stumm und ergriffen ihrem Verschwinden zu.
Am nächsten Tage waren wir gegen 8½ Uhr abends Augenzeugen einer recht merkwürdigen Naturerscheinung am östlichen Himmel. Auf einmal flammte dort ein bläuliches Licht auf, stärker als Tausende von Bogenlampen, ja, so stark, daß unsere Augen davon beinahe geblendet wurden. Dann erlosch die Flamme ebenso plötzlich und hinterließ nur einen matten wagerechten Streifen, der sich von Osten nach Westen zog und allmählich auch verschwand.
Am 3. November sank die Temperatur bis auf -33º C. Trotzdem dachten wir noch nicht daran, den Ofen im Salon zu heizen, sondern versuchten, die Kälte, den vielen Reif und die Feuchtigkeit, die den Aufenthalt dort immer unbehaglicher zu machen begannen, uns mit der Wärme vom Leibe zu halten, die von den Lampen und Petroleumapparaten, von denen wir so viele wie möglich anzündeten, ausstrahlte.
So sollte denn unser Winterleben im Ernst beginnen.