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Rachels schwarzer Tag
Das Erwachen des Mannes und der Beschluß, Rachel zu verführen, hatten Soliman kalt gemacht wie das Wild den Jäger oder das Schlachttier den Fleischer, aber er wußte nicht, wie er sein Ziel erreichen könne, in welcher Weise dabei vorzugehen sei und welche Umstände des Beisammenseins genügten; mit einem Wort, der Wille des Mannes ließ ihn die ganze Schwäche des Knaben fühlen. Auch Rachel wußte, was kommen mußte, und seit sie Ulrichs Hand vergeßlich in der ihren gehalten und das Abenteuer mit Bonadea bestanden hatte, war sie aus Rand und Band oder sozusagen von großer erotischer Zerstreutheit, die wie ein Blumenregen auch auf Soliman fiel. Allein die Verhältnisse waren ihnen nicht günstig und schufen Verzögerungen; die Köchin war erkrankt, und Rachel mußte ihren Ausgang opfern, der Verkehr im Haus gab zu tun, und Arnheim war zwar oft bei Diotima, aber vielleicht hatte man beschlossen, auf die Kleinen mehr achtzugeben, denn er brachte nur selten seinen Soliman mit, und wenn es geschah, so sahen sie sich nur für Minuten und in Gegenwart ihrer Herrschaften, mit unschuldigen und finsteren Gesichtern, die sie machen mußten.
In dieser Zeit wurden sie beinahe böse aufeinander, weil jeder den anderen die Pein fühlen ließ, an einer zu kurzen Kette zu hängen. Soliman verleitete der drängende Trieb überdies zu gewaltsamen Ausfällen; er plante, nachts aus dem Hotel durchzugehn, und damit es sein Herr nicht erführe, stahl er ein Bettuch und versuchte, mit Schneiden und Drehn eine Strickleiter daraus zu machen, es gelang aber nicht, und er ließ das mißbrauchte Laken in einem Lichtschacht verschwinden. Dann überlegte er lange vergeblich, wie man nachts an den Figuren und Gesimsen einer Hauswand hinab- und emporklettern könnte, und sah tagsüber auf seinen Wegen von der Architektur der ihrethalben berühmten Stadt nichts als die touristischen Vorteile und Schwierigkeiten; Rachel aber, der er kurz und flüsternd diese Pläne und ihre Hindernisse anvertraute, glaubte, wenn sie abends ihr Licht auslöschte, nicht selten zu Füßen der Mauer den schwarzen Vollmond seines Gesichts auftauchen zu sehn oder hörte ein zirpendes Rufen, dem sie schüchtern Antwort gab, weit aus dem Fenster ihrer Kammer in die leere Nacht gebeugt, ehe sie eben deren Leere einsehen mußte. Sie war aber nicht mehr ungehalten über diese romantischen Störungen, sondern gab sich ihnen mit schmachtender Trauer hin. Dieses Schmachten galt eigentlich Ulrich, und Soliman war der Mann, den man nicht liebt, dessen ungeachtet man sich ihm hingeben wird, worüber sich Rachel durchaus nicht im Zweifel befand; denn daß man sie mit ihm nicht zusammenkommen ließ, daß sie in letzter Zeit ihre Stimmen kaum laut hörten und Ungunst ihrer Oberen über sie gemeinsam hereingebrochen war, wirkte ähnlich, wie eine Nacht voll Ungewißheit, Unheimlichkeiten und Seufzern auf Liebende wirkt, und sammelte ihre glühenden Vorstellungen wie ein Brennglas, unter dessen Strahl man weniger eine angenehme Wärme fühlt, als daß man es nicht länger aushält.
Und hierin war Rachel, die sich nicht mit Strickleitern und Kletterträumen ablenkte, die Praktischere. Aus der Nebelgestalt einer Entführung auf Lebensdauer war bald eine heimlich zu verschaffende Nacht und aus der Nacht, da auch sie unerreichbar blieb, eine unbewachte Viertelstunde geworden; und schließlich dachten weder Diotima noch Graf Leinsdorf oder Arnheim daran, wenn ihr »Amt« sie bewog, nach großen und erfolglosen Versammlungen des Geistes besorgte Überlegungen des Ergebnisses auszutauschen, die sie oft noch eine Stunde lang, bar jedes anderen Bedürfnisses, festhielten, daß eine solche Stunde aus vier Viertelstunden besteht. Aber Rachel hatte das berechnet, und weil die Köchin noch immer nicht ganz auf dem Posten war und die Erlaubnis besaß, sich früh zur Ruhe zu begeben, genoß ihre jüngere Kollegin den Vorzug, so viel zu tun zu haben, daß man nie wissen konnte, wo sie sich gerade aufhielt, und wurde im Zimmerdienst während dieser Zeit nach Möglichkeit geschont. Zur Probe – immerhin bloß so, wie Personen, die zu feig zum Selbstmord sind, so lange vorgespiegelte Versuche unternehmen, bis ihnen einer aus Versehen gelingt – hatte sie schon einige Male Soliman eingeschmuggelt, der mit einer dienstbeflissenen Ausrede für den Fall seiner Entdeckung ausgerüstet war, und hatte ihm zu verstehen gegeben, daß dieser Weg in ihre Kammer auch möglich wäre, und nicht nur der an der Hauswand empor. Über gemeinsames Gähnen im Vorzimmer und lauschende Beobachtung der Lage war das junge Liebespaar aber noch nicht hinausgekommen, bis eines Abends, wo die Stimmen im Zimmer so gleichmäßig einander folgten wie die Töne beim Dreschen, Soliman mit einer wunderschönen Romanphrase erklärte, daß er sich nicht mehr länger zu gedulden vermöge.
Auch in der Kammer war es noch er, der den Riegel vorschob; aber dann trauten sie sich nicht, Licht zu machen, und standen zuerst blind vor einander, irgendwie zugleich mit dem Augenlicht aller Sinne beraubt, wie Statuen in einem dunklen Park. Soliman dachte wohl daran, Rachels Hand zu pressen oder sie ins Bein zu zwicken, damit sie aufschrie, denn so beschaffen waren bisher seine männlichen Siege gewesen, aber er mußte sich Zwang auferlegen, denn sie durften keinen Lärm machen, und als er doch schüchtern einen kleinen rohen Versuch unternahm, strömte aus Rachel bloß ungeduldige Gleichgültigkeit zu ihm zurück. Denn Rachel spürte die Hand des Geschicks, die sie im Kreuz anfaßte und vorwärts schob, während ihr Nase und Stirn eiskalt wurden, als wäre sie schon jetzt von allen ihren Einbildungen verlassen. Da fühlte sich auch Soliman gänzlich von sich verlassen und bis in die Knochen ungeschickt, und es ließ sich nicht absehen, wie das dunkle voreinander Stehen ein Ende finden solle. Schließlich mußte eben die edle, aber etwas erfahrenere Rachel doch den Verführer machen. Und dabei kam ihr der Groll zu Hilfe, den sie gegen Diotima an Stelle der früheren Liebe empfand, denn seit sie sich nicht mehr damit begnügte, Teilhaberin an den hohen Entzückungen ihrer Herrin zu sein, und ihr eigenes Liebesgeschäft betrieb, hatte sie sich sehr verändert. Sie log nicht nur, um ihre Zusammenkünfte mit Soliman zu decken, sondern sie riß auch beim Frisieren mit dem Kamm an Diotimas Haar, um sich für die Aufmerksamkeit zu rächen, mit der ihre Unschuld bewacht wurde. Am meisten aber ärgerte sie nun, was sie früher am höchsten begeistert hatte, daß sie die Hemden, Hosen und Strümpfe tragen mußte, die ihr Diotima schenkte, wenn sie ausgedient hatten, denn wenn sie auch das Weißzeug auf ein Drittel seines Umfangs zusammenschneiderte und gänzlich neu gestaltete, kam sie sich darin eingekerkert vor und fühlte das Joch der Sitte am nackten Leib. Gerade das gab ihr aber diesmal den erfinderischen Gedanken ein, dessen sie in ihrer Lage Not hatte. Denn sie hatte Soliman ja schon früher von den Veränderungen erzählt, die sich an der Wäsche ihrer Herrin seit geraumer Zeit bemerken ließen, und brauchte sie ihm bloß zu zeigen, um eine Anknüpfung zu finden, die politisch dringend nötig war. »Du kannst daran sehen, wie schlecht sie sind« sagte sie, indem sie Soliman im Dunkel den weißen Mondlichtsaum ihrer Höschen sehen ließ, »und wenn sie etwas miteinander haben, so betrügen sie den Herrn sicher auch in der Geschichte mit dem Krieg, der bei uns vorbereitet wird!« Und als der Knabe vorsichtig die zarten und gefährlichen Hosen betastete, fügte sie etwas atemlos hinzu: »Ich wette, Soliman, daß deine Hosen so schwarz wie du sind; so hab ich es immer gehört!« Und Soliman grub beleidigt, aber sanft seine Nägel in ihr Bein, und Rachel mußte eine Bewegung zu ihm machen, um sich zu befreien, und mußte noch dies und jenes sagen oder tun, was keinen rechten Erfolg hatte, aber schließlich gebrauchte sie ihre spitzen kleinen Zähne und behandelte Solimans Gesicht, das sich kindisch an das ihre preßte und bei jeder Bewegung diesem knabenhaft von neuem in den Weg sprang, wie einen großen Apfel. Und da vergaß sie, sich dieser Anstrengungen, und Soliman vergaß, sich seiner Ungeschicklichkeit zu schämen, und durch das Dunkel sauste der schwebende Sturm der Liebe.
Hart setzte er die Liebenden zur Erde, als er sie losließ; er verschwand durch die Wände, und das Dunkel zwischen ihnen war wie ein Stück Kohle, an dem sich die Sünder schwarz gemacht hatten. Sie wußten nicht, wie spät es sei, überschätzten die verflossene Zeit und fürchteten sich. Rachels zaghafter letzter Kuß schmeckte Soliman wie eine Belästigung; er wünschte Licht zu machen und benahm sich wie ein Einbrecher, der die Beute hat und nun alle Kräfte darauf richtet, gut davonzukommen. Rachel, die verschämt und schnell ihre Kleidung in Ordnung gebracht hatte, sah ihn mit einem Blick an, der kein Ziel und keinen Boden hatte. Über die Augen hing ihr das wirre Haar, und hinter den Augen begegneten ihr zum erstenmal wieder alle die weiten Bilder ihrer Ehrliebe, die sie bis zu diesem Augenblick vergessen hatte. Sie hatte sich außer allen möglichen eigenen Tugenden einen schönen, reichen und abenteuerlichen Geliebten gewünscht, und da stand Soliman, nicht sehr ordentlich angezogen, erschreckend häßlich, und sie glaubte von allem, was er ihr erzählt hatte, kein Wort. Vielleicht hätte sie sein dickes, gespanntes Gesicht im Dunkel ganz gerne noch eine Weile in ihren Armen gehalten, ehe sie sich voneinander lösten; aber nun, wo Licht brannte, war er ihr neuer Geliebter und weiter nichts, eingeschrumpft aus tausend Männern zu einem etwas lächerlichen kleinen Wicht und dem einen, der alle anderen ausschließt. Rachel aber war wieder ein Dienstmädchen, das sich verführen hatte lassen und sich nun sehr vor einem Kind fürchtete, durch das dies an den Tag käme. Sie war bloß zu eingeschüchtert von dieser Verwandlung, um zu seufzen. Sie half Soliman beim Ankleiden, denn der Junge hatte in der Verwirrung seinen engen Rock mit den vielen Knöpfen abgeworfen, aber sie half ihm nicht aus Zärtlichkeit, sondern damit sie rascher hinunterkämen. Es kam ihr alles furchtbar überzahlt vor, und eine Entdeckung wäre nicht zu ertragen gewesen. Immerhin, als sie fertig waren, drehte sich Soliman ihr zu und wieherte ein großartiges Lächeln, denn schließlich war er doch sehr stolz; und Rachel nahm rasch eine Streichholzschachtel an sich, löschte das Licht, schob leise den Riegel zurück, und ehe sie die Türe öffnete, flüsterte sie ihm zu: »Du mußt mir noch einen Kuß geben!« Denn so gehörte es sich, aber es schmeckte beiden, als hätten sie Zahnpulver auf den Lippen.
Als sie im Vorzimmer ankamen, waren sie sehr erstaunt, daß es noch zur rechten Zeit geschah und die Gespräche hinter der Türe genau so weiterliefen wie vorher; als die Gäste aufbrachen, war Soliman verschwunden, und eine halbe Stunde später kämmte Rachel das Haar ihrer Herrin mit großer Sorgfalt und beinahe mit der alten demütigen Liebe.
»Ich freue mich, daß meine Ermahnungen bei dir Erfolg gehabt haben!« lobte Diotima, und sie, die in so vielen Fragen zu keiner rechten Zufriedenheit kam, klopfte ihre kleine Dienerin freundlich auf die Hand.