Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Lebhafte Arbeit in den Ausschüssen der Parallelaktion. Clarisse schreibt an Se. Erlaucht und schlägt ein Nietzsche-Jahr vor
Zu dieser Zeit mußte Ulrich zwei- bis dreimal in jeder Woche Se. Erlaucht besuchen. Er fand ein hohes, schlankes, schon als Raum entzückendes Zimmer für sich bereit. Am Fenster stand ein großer Maria-Theresia-Schreibtisch. An der Wand hing ein dunkles Bild, mit verschlossen leuchtenden roten, blauen und gelben Flecken darin, das irgendwelche Reiter darstellte, die anderen, gestürzten Reitern Lanzen in die Weichteile bohrten; und an der gegenüberliegenden Wand befand sich eine vereinsamte Dame, deren Weichteile sorgfältig durch ein goldgesticktes Wespenkorsett geschützt waren. Es war nicht einzusehen, warum man sie ganz allein an diese Wand verbannt hatte, denn sie hatte offenbar der Familie Leinsdorf angehört, und ihr junges gepudertes Gesicht sah dem des Grafen so ähnlich wie eine Fußstapfe in trockenem Schnee einer Fußstapfe in nasser Lehmerde. Ulrich hatte übrigens wenig Gelegenheit, das Gesicht des Grafen Leinsdorf zu betrachten. Der äußere Verlauf der Parallelaktion hatte seit der letzten Sitzung einen solchen Aufschwung genommen, daß Se. Erlaucht niemals dazukam, sich den großen Gedanken zu widmen, sondern seine Zeit mit dem Durchlesen von Eingaben, mit Besuchern, Unterredungen und Ausfahrten verbringen mußte. So hatte er schon eine Aussprache mit dem Ministerpräsidenten, eine Unterredung mit dem Erzbischof, eine Besprechung in der Hofkanzlei gehabt und einigemale im Herrenhaus mit den Mitgliedern des Hochadels und der Nobelbourgeoisie Fühlung genommen. Ulrich war diesen Erörterungen nicht zugezogen worden und erfuhr nur soviel, daß man auf allen Seiten mit starken politischen Widerständen der Gegenseite rechne, weshalb alle diese Stellen erklärten, die Parallelaktion desto kräftiger unterstützen zu können, je weniger sie darin genannt würden, und sich vorläufig nur durch Beobachter in den Ausschüssen vertreten ließen.
Erfreulicherweise machten diese Ausschüsse von Woche zu Woche große Fortschritte. Sie hatten, wie es in der gründenden Sitzung beschlossen worden war, die Welt nach den großen Gesichtspunkten der Religion, des Unterrichts, des Handels, der Landwirtschaft und so weiter eingeteilt, in jedem Ausschuß saß schon ein Vertreter des entsprechenden Ministeriums, und alle Ausschüsse widmeten sich bereits ihrer Aufgabe, daß jeder Ausschuß im Einvernehmen mit allen anderen Ausschüssen auf die Vertreter der ressortzuständigen Körperschaften und Volksteile warte, um deren Wünsche, Anregungen und Bitten zu erfassen und dem Hauptausschuß zuzuleiten. Auf diese Weise hoffte man, ihm die »hauptsächlichsten« moralischen Kräfte des Landes geordnet und zusammengefaßt zuströmen zu lassen, und hatte schon die Genugtuung, daß dieser schriftliche Verkehr anwuchs. Die Zuschriften der Ausschüsse an den Hauptausschuß konnten sich bereits nach kurzer Zeit auf andere Zuschriften berufen, die dem Hauptausschuß bereits geschickt worden waren, und begannen mit einem Satz zu beginnen, der von einem zum andern Mal wichtiger wurde und mit den Worten anfing: »Unter Bezugnahme auf diesstellige Zahl Nummer soundsoviel, beziehungsweise Nummer soundso, gebrochen durch römisch . . .«, worauf wieder eine Zahl folgte; und alle diese Zahlen wurden mit jeder Zuschrift größer. Das hatte schon etwas von gesundem Wachstum an sich, und dazu kam, daß auch die Gesandtschaften auf halbamtlichem Wege über den Eindruck zu berichten begannen, den die Kraftäußerung des österreichischen Patriotismus auf das Ausland mache; daß bereits die fremden Gesandten vorsichtig Gelegenheit suchten, um sich Auskunft zu holen; daß aufmerksam gewordene Volksabgeordnete sich nach den Absichten erkundigten; und die private Tatkraft sich in den Anfragen von Geschäftshäusern zu äußern begann, die sich die Freiheit nahmen, Anregungen zu unterbreiten, oder um einen festen Anhaltspunkt für die Verbindung ihrer Firma mit dem Patriotismus ersuchten. Ein Apparat war da, und weil er da war, mußte er arbeiten, und weil er arbeitete, begann er zu laufen, und wenn ein Automobil in einem weiten Feld zu laufen beginnt, und es säße selbst niemand am Steuer, so wird es doch einen bestimmten, sogar sehr eindrucksvollen und besonderen Weg zurücklegen.
Auf diese Weise entstand also ein mächtiger Vortrieb, und Graf Leinsdorf bekam ihn zu fühlen. Er setzte seinen Kneifer auf und las alle Zuschriften mit großem Ernst vom Anfang bis zum Ende. Dies waren nicht mehr die Vorschläge und Wünsche unbekannter leidenschaftlicher Personen, die ihn anfangs überschwemmt hatten, ehe die Angelegenheit in eine geregelte Bahn gebracht worden war, und selbst wenn diese Eingaben oder Anfragen aus dem Schoß des Volkes kamen, so waren sie von den Vorständen alpiner Genossenschaften unterzeichnet, von Freidenkerbünden, Jungfrauenkongregationen, gewerblichen Vereinen, Geselligkeitsbünden, Bürgerklubs und anderen jener groben Grüppchen, die dem Übergang vom Individualismus zum Kollektivismus vorauslaufen wie Kehrichthäufchen einem wirbelnden Wind. Und wenn Se. Erlaucht auch nicht mit allem einverstanden war, was von ihm verlangt wurde, so stellte er doch im ganzen einen wesentlichen Fortschritt fest. Er setzte seinen Kneifer ab, reichte die Zuschrift dem Ministerialrat oder Sekretär zurück, der sie ihm übergeben hatte, und nickte befriedigt, ohne ein Wort zu äußern; er hatte das Gefühl, daß die Parallelaktion auf einem guten und ordentlichen Wege sei, und der wahre Weg werde sich schon finden.
Der Ministerialrat, der die Zuschrift wieder übernahm, legte sie gewöhnlich auf einen Stapel anderer Zuschriften, und wenn die letzte oben lag, las er in den Augen Sr. Erlaucht. Dann pflegte der Mund Sr. Erlaucht zu sprechen: »Das ist alles ausgezeichnet, aber man kann nicht ja und nicht nein sagen, solange wir über den Mittelpunkt unserer Ziele nichts Grundsätzliches wissen.« Das aber war es, was der Ministerialrat schon bei jeder vorangegangenen Zuschrift in den Augen Sr. Erlaucht gelesen hatte, und es bildete genau auch seine eigene Meinung, und er hielt einen goldgefaßten Taschenbleistift in der Hand, mit dem er schon an das Ende einer jeden Zuschrift die Zauberformel »Ass.« geschrieben hatte. Diese Zauberformel Ass., die in den kakanischen Ämtern in Gebrauch war, hieß »Asserviert«, auf deutsch soviel wie »Zu späterer Entscheidung aufgehoben«, und war ein Vorbild der Umsicht, die nichts verloren gehen läßt und nichts übereilt. Asserviert wurde zum Beispiel die Bitte des kleinen Beamten um eine außergewöhnliche Wöchnerinnenbeihilfe so lange, bis das Kind erwachsen und selbständig erwerbsfähig war, aus keinem anderen Grunde als dem, daß die Materie bis dahin vielleicht gesetzlich geregelt sein konnte und das Herz der Vorgesetzten vorher die Bitte nicht abschlagen wollte; asserviert wurde aber auch die Eingabe einer einflußreichen Person oder Amtsstelle, die man durch Ablehnung nicht kränken durfte, obgleich man wußte, daß eine andere einflußreiche Stelle gegen ihre Eingabe war, und grundsätzlich wurde alles, was zum erstenmal an ein Amt herantrat, solange asserviert, bis ihm ein ähnlicher Fall voranging.
Aber es wäre ganz falsch, sich über diese Gewohnheit der Ämter lustig zu machen, denn außerhalb der Büros wird noch viel mehr asserviert. Wie wenig will es sogar bedeuten, daß in den Thronschwüren der Könige noch immer das Versprechen vorkommt, die Türken oder die Heiden zu bekriegen, wenn man bedenkt, daß in der Geschichte der Menschheit noch nie ein Satz ganz durchstrichen oder ganz zu Ende geschrieben worden ist, woraus zuweilen jenes verwirrende Tempo des Fortschritts entsteht, das täuschend einem geflügelten Ochsen gleicht. Dabei geht in den Ämtern doch wenigstens einiges verloren, in der Welt aber nichts. So ist Asservation eine der Grundformeln unseres Lebensgebäudes. Wenn Sr. Erlaucht aber etwas besonders dringend erschien, so mußte er eine andere Methode wählen. Er schickte dann die Anregung zunächst zum Hof, an seinen Freund Graf Stallburg, mit der Anfrage, ob man sie als »vorläufig definitiv«, wie er das nannte, in Aussicht nehmen dürfe. Nach einiger Zeit kam dann jedesmal die Antwort zurück, daß in diesem Punkte eine Allerhöchste Willensmeinung derzeit nicht übermittelt werden könne, vielmehr es erwünscht erscheine, sich zunächst die öffentliche Meinung selbst bilden zu lassen, und je nach der Aufnahme, die der Vorschlag in ihr finde, und sonstigen sich herausstellen sollenden Erfordernissen ihn später wieder in Erwägung zu ziehn. Der Akt, zu dem die Anregung damit geworden war, ging dann an die ressortzuständige Ministerialstelle und kam von dort mit dem Vermerk zurück, daß man sich hieramts zur alleinigen Entscheidung nicht für zuständig erachte, und wenn das geschehen war, merkte sich Graf Leinsdorf vor, in einer der nächsten Sitzungen des Hauptausschusses zu beantragen, daß ein interministerieller Unterausschuß zum Studium der Angelegenheit eingesetzt werde.
Unerbittlich entschieden war er nur in dem einen Fall, wo ein Schriftstück einlief, das weder die Unterschrift eines Vereinsvorstandes noch einer staatlich anerkannten kirchlichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Korporation trug. Ein solcher Brief kam in diesen Tagen von Clarisse, worin sie sich auf Ulrich berief und vorschlug, ein österreichisches Nietzsche-Jahr zu veranstalten, wobei man gleichzeitig für den Frauenmörder Moosbrugger etwas tun müsse; als Frau fühle sie sich berufen, das vorzuschlagen, schrieb sie, und dann wegen der bedeutungsvollen Übereinstimmung, die darin bestehe, daß Nietzsche geisteskrank gewesen sei und Moosbrugger es auch sei. Ulrich konnte seinen Ärger kaum unter einem Scherz verbergen, als Graf Leinsdorf ihm diesen Brief zeigte, den er schon an der eigenartig unreifen, aber von dicken Balkenstrichen und Unterstreichungen durchkreuzten Schrift erkannte. Jedoch Graf Leinsdorf, als er seine Verlegenheit wahrzunehmen glaubte, sagte ernst und gütig: »Das ist nicht uninteressant. Es ist, ich möchte sagen, feurig und tatkräftig; aber wir müssen leider alle solche Einzelvorschläge ad acta legen, sonst kommen wir zu keinem Ziel. Vielleicht übergeben Sie diesen Brief, da Sie die Dame, die ihn schreibt, doch persönlich zu kennen scheinen, Ihrer Frau Kusine?«