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Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person

 

In den folgenden Wochen nahm der Salon Diotimas einen gewaltigen neuen Aufschwung. Man kam hin, um das Neueste von der Parallelaktion zu erfahren und um den neuen Mann zu sehen, von dem es hieß, daß sich Diotima ihn verschrieben habe, einen deutschen Nabob, einen reichen Juden, einen Sonderling, der Gedichte schrieb, den Kohlenpreis diktierte und der persönliche Freund des deutschen Kaisers war. Nicht nur Damen und Herren aus den Kreisen des Grafen Leinsdorf erschienen und aus der Diplomatie, sondern auch das bürgerliche Wirtschafts- und Geistesleben zeigte sich in erhöhtem Maße angezogen. So stießen Spezialisten der Ewesprache und Komponisten aufeinander, die voneinander noch nie einen Ton gehört hatten, Webstühle und Beichtstühle, Menschen, die bei dem Worte Kurs an den Rennkurs, Börsenkurs oder Seminarkurs dachten.

Nun ereignete sich aber etwas noch nie Dagewesenes: es gab einen Mann, der mit jedem in seiner Sprache reden konnte, und das war Arnheim.

Er hielt sich von den offiziellen Sitzungen, nach dem peinlichen Eindruck, den er am Beginn der ersten empfangen hatte, weiterhin fern, aber er nahm auch nicht immer an den Gesellschaften teil, denn er war viel von der Stadt abwesend. Von der Sekretärstelle war selbstverständlich nicht mehr die Rede; er selbst hatte Diotima auseinandergesetzt, daß sich dieser Einfall nicht schicken würde, auch für ihn nicht, und Diotima konnte zwar Ulrich nicht ansehn, ohne ihn als einen Usurpator zu empfinden, aber sie fügte sich dem Urteil Arnheims. Er kam und ging; während drei oder fünf Tage wie nichts verflossen, kehrte er aus Paris, Rom, Berlin zurück; was sich bei Diotima ereignete, war nur ein kleiner Ausschnitt aus seinem Leben. Aber er bevorzugte ihn und war mit ganzer Person in ihm anwesend.

Daß er mit Großindustriellen über die Industrie und mit Bankleuten über die Wirtschaft zu sprechen vermochte, war verständlich; aber er war imstande, ebenso unumschränkt über Molekularphysik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern. Er war ein außerordentlicher Redner; wenn er einmal angefangen hatte, hörte er so wenig auf, wie man ein Buch abschließen kann, ehe darin alles gesagt ist, was zum Wort drängt; aber er hatte eine still vornehme, fließende Art zu sprechen, eine Art, die fast traurig über sich selbst war, wie ein von dunklen Büschen eingesäumter Bach, und das gab dem Vielreden gleichsam etwas Notwendiges. Seine Belesenheit und sein Gedächtnis hatten wirklich einen ungewöhnlichen Umfang; er vermochte Kennern die feinsten Stichworte ihres Wissensgebiets zu bringen, kannte aber ebensogut jede wichtige Person aus dem englischen, dem französischen oder japanischen Adel und wußte auf Renn- und Golfplätzen nicht nur in Europa, sondern auch in Australien und Amerika Bescheid. So verließen selbst die Gemsjäger, Pferdebändiger und Stammlogenbesitzer der Hoftheater, die gekommen waren, um einen verrückten reichen Juden zu sehn (halt auch so was Neiches – hieß das in ihrer Mundart), Diotimas Haus mit einem achtungsvollen Kopfschütteln.

Se. Erlaucht nahm einmal Ulrich beiseite und sagte zu ihm: »Wissen Sie, der Hochadel hat in den letzten hundert Jahren Pech mit seinen Hauslehrern gehabt! Früher sind das Menschen gewesen, von denen ein großer Teil nachher in das Konversationslexikon gekommen ist; und diese Hofmeister haben wieder Musik- und Zeichenlehrer mit sich gebracht, die zum Dank dafür Sachen gemacht haben, die man heute unsre alte Kultur nennt. Aber seit es die neue und allgemeine Schule gibt und Leute aus meinen Kreisen, entschuldigen Sie, den Doktortitel erwerben, sind irgendwie die Hauslehrer schlecht geworden. Unsere Jugend hat ja ganz recht, wenn sie Fasanen und Säue schießt, reitet und sich hübsche Frauenzimmer aussucht, – dagegen ist wenig zu sagen, wenn man jung ist; aber früher haben eben die Hauslehrer einen Teil dieser Jugendkraft darauf gelenkt, daß man den Geist und die Kunst ebenso hegen muß wie die Fasanen, und das fehlt heute.« Es war das Sr. Erlaucht eben so eingefallen, und es fielen ihm manchmal solche Dinge ein; plötzlich wandte er sich ganz zu Ulrich und schloß: »Sehen Sie, das ist das verhängnisvolle Jahr Achtundvierzig, welches das Bürgertum vom Adel zu beider Schaden getrennt hat!« Er blickte besorgt in die Gesellschaft. Er ärgerte sich jedesmal, wenn in den Oppositionsreden des Parlaments die Wortführer mit der bürgerlichen Kultur protzten, und würde es gerne gesehen haben, wenn die wahre bürgerliche Kultur beim Adel zu finden gewesen wäre; der arme Adel aber konnte nichts an ihr finden, sie war eine für ihn unsichtbare Waffe, mit der man ihn schlug, und da er im Lauf dieser Entwicklung immer mehr an Macht verloren hatte, kam man schließlich zu Diotima und besah sich die Sache. So empfand es Graf Leinsdorf manchmal mit bekümmertem Herzen, wenn er den Betrieb beobachtete; er würde gewünscht haben, daß man das Amt, zu dem in diesem Hause Gelegenheit gegeben war, ernster genommen hätte. »Erlaucht, dem Bürgertum geht es heute mit den Intellektuellen genau so, wie es seinerzeit dem Hochadel mit seinen Hofmeistern gegangen ist!« suchte ihn Ulrich zu trösten. »Das sind ihm fremde Leute. Bitte, sehn Sie sich an, wie alle diesen Doktor Arnheim bestaunen.«

Aber Graf Leinsdorf hatte ohnedies die ganze Zeit über nur auf Arnheim gesehn. »Das ist übrigens schon kein Geist mehr,« ging Ulrich auf dieses Staunen ein »das ist ein Phänomen wie ein Regenbogen, den man beim Fuß fassen und ganz richtig betasten kann. Er spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Kajakfahrten, er ist ein Gelehrter, ein Gutsbesitzer und ein Börsenmann; mit einem Wort, was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person, und da staunen wir eben. Erlaucht schütteln den Kopf? Aber ich bin überzeugt, die Wolke des sogenannten Fortschritts der Zeit, in die niemand hineinsieht, hat ihn uns aufs Parkett gestellt.«

»Ich habe nicht über Sie den Kopf geschüttelt,« berichtigte Se. Erlaucht »ich habe an den Doktor Arnheim gedacht. Alles in allem muß man zugeben, daß er eine interessante Persönlichkeit ist.«


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