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Kampf und Liebe im Hause Fischel
Gerda wartete vergeblich auf Ulrichs Besuch. Die Wahrheit war, er hatte dieses Versprechen vergessen oder erinnerte sich in Augenblicken daran, wo er anderes vorhatte.
»Laß ihn!« sagte Frau Klementine, wenn Direktor Fischel murrte. »Früher waren wir ihm gut genug, und jetzt ist er wahrscheinlich anmaßend geworden. Wenn du ihn aufsuchst, machst du es noch schlechter; du bist viel zu ungeschickt dazu.«
Gerda sehnte sich nach dem älteren Freund. Sie wünschte ihn herbei und wußte, daß sie ihn fortwünschen würde, wenn er käme. Sie hatte trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre noch nichts erlebt, außer einem Herrn Glanz, der sich, von ihrem Vater unterstützt, vorsichtig um sie bewarb, und ihren christ-germanischen Freunden, die ihr manchmal nicht wie Männer, sondern wie Schulbuben vorkamen. »Warum kommt er nie?« frug sie sich, wenn sie an Ulrich dachte. Es galt im Kreis ihrer Freunde für sicher, daß die Parallelaktion den Ausbruch einer geistigen Vernichtung des deutschen Volks bedeute, und sie schämte sich seiner Beteiligung; sie würde gerne gehört haben, wie er selbst darüber denke, und hoffte, daß er Gründe habe, die ihn entlasteten.
Ihre Mutter sagte zu ihrem Vater: »Du hast den Anschluß an diese Sache versäumt. Es wäre für Gerda gut gewesen und hätte sie auf andere Gedanken gebracht; eine Menge Leute verkehren bei Tuzzis.« Es war herausgekommen, daß er die Einladung Sr. Erlaucht zu beantworten verabsäumt hatte. Er hatte zu leiden.
Die jungen Leute, die Gerda ihre Freundgeister nannte, hatten sich in seinem Haus festgesetzt wie die Freier der Penelope und berieten darin, was ein junger und deutscher Mensch angesichts der Parallelaktion zu tun habe. »Ein Finanzmann muß unter Umständen den Sinn eines Mäzens zeigen!« verlangte Frau Klementine von ihm, wenn er heftig beteuerte, daß er Hans Sepp, den »Seelenführer« Gerdas, nicht für sein gutes Geld seinerzeit als Hauslehrer aufgenommen habe, damit nun das daraus entstünde! – Denn so war es: Hans Sepp, der Student, der nicht die geringste Aussicht auf eine Versorgung bot, war als Lehrer ins Haus gekommen und hatte sich durch nichts als die darin herrschenden Gegensätze zum Tyrannen aufgeworfen; nun beriet er mit seinen Freunden, die Gerdas Freunde geworden waren, bei Fischels, wie man den deutschen Adel retten solle, der bei Diotima (von der es hieß, daß sie keinen Unterschied zwischen rasseeigenen und rassefremden Personen mache) in die Netze des Judengeistes fiel. Und wenn das auch in Leo Fischels Gegenwart gewöhnlich nur mit einer gewissen schonenden Sachlichkeit erörtert wurde, zeitigte es noch genug Worte und Grundsätze, die ihm auf die Nerven fielen. Man beunruhigte sich darüber, daß in einem Jahrhundert, dem es nicht gegeben sei, große Symbole hervorzubringen, ein solcher Versuch gemacht werde, der zur vollendeten Katastrophe führen müsse, und die Worte hochbedeutsam, Empormenschlichung und freie Menschbarkeit machten allein schon den Zwicker auf Fischels Nase erzittern, jedesmal wenn er sie hörte. In seinem Hause wuchsen Begriffe wie Lebensdenkkunst, geistiges Wuchsbild und Tatschwebung. Er kam darauf, daß alle vierzehn Tage bei ihm eine »Läuterungsstunde« abgehalten wurde. Er drang auf Aufklärung. Es stellte sich heraus, daß dabei gemeinsam Stefan George gelesen wurde. Leo Fischel suchte vergeblich in seinem alten Konversationslexikon, wer das sei. Was ihn, den alten Liberalen, aber am meisten ärgerte, war, daß diese Grünschnäbel, wenn sie von der Parallelaktion sprachen, alle beteiligten Ministerialreferenten, Bankpräsidenten und Gelehrten »aufgestutzte Menschlein« nannten; daß sie blasiert behaupteten, es gebe heutzutage keine großen Ideen mehr oder es sei niemand mehr da, der sie verstünde; daß sie sogar die Humanität für eine Phrase erklärten und nur noch die Nation oder, wie sie es nannten, das Volkstum und Brauchtum für etwas Wirkliches gelten ließen.
»Ich kann mir unter Menschheit nichts vorstellen, Papa« erwiderte Gerda, wenn er ihr Vorhaltungen machte, »das hat heute keinen Inhalt mehr; aber meine Nation, das ist körperlich!«
»Deine Nation!« begann dann Leo Fischel und wollte etwas von den großen Propheten sagen und von seinem eigenen Vater, der Rechtsanwalt in Triest gewesen war.
»Ich weiß« unterbrach ihn Gerda. »Aber meine Nation ist die geistige; von der spreche ich.«
»Ich werde dich solange in dein Zimmer sperren, bis du Vernunft annimmst!« sagte dann Papa Leo. »Und deinen Freunden werde ich das Haus verbieten. Das sind undisziplinierte Menschen, die sich unausgesetzt mit ihrem Gewissen beschäftigen, statt zu arbeiten!«
»Ich weiß, Papa,« erwiderte Gerda »wie du denkst. Ihr älteren Menschen glaubt, daß ihr uns entwürdigen dürft, weil Ihr uns ernährt. Ihr seid patriarchalische Kapitalisten.«
Solche Gespräche ereigneten sich durch väterliche Sorge nicht selten.
»Und wovon wolltest du leben, wenn ich nicht Kapitalist wäre?!« fragte der Herr des Hauses.
»Ich kann nicht alles wissen« schnitt Gerda gewöhnlich eine solche Erweiterung des Gespräches ab. »Aber ich weiß, daß Wissenschafter, Erzieher, Seelsorger, Politiker und andere Werkmenschen schon daran sind, neue Glaubenswerte zu schaffen!«
Vielleicht bemühte sich Direktor Fischel noch, ironisch zu fragen »Diese Seelsorger und Politiker seid Ihr wohl selbst?!« aber er tat es nur, um das letzte Wort zu behalten; er war am Ende immer froh, daß Gerda nicht merkte, wie sehr ihm etwas, das unvernünftig war, schon durch Gewohnheit die Befürchtung nahelegte, daß er werde nachgeben müssen. Es kam so weit, daß er am Schluß solcher Unterredungen einigemal sogar die Ordnung der Parallelaktion vorsichtig zu loben anfing, als Gegensatz zu den wilden Gegenbemühungen in seinem Haus; aber es geschah nur, wenn Klementine nicht in Hörweite war.
Was Gerdas Widerstand gegen die Ermahnungen ihres Vaters einen stillen Märtyrereigensinn verlieh und auch von Leo und Klementine verwirrt empfunden wurde, war ein durch dieses Haus schwebender Hauch von unschuldiger Wollust. Es wurde unter den jungen Menschen über vielerlei gesprochen, wovon die Eltern erbittert schwiegen. Selbst was sie nationales Gefühl nannten, diese Verschmelzung ihrer Ichs, die sich immerzu stritten, in eine erträumte Einigkeit, die bei ihnen germanische Christbürgergemeinschaft hieß, hatte im Gegensatz zu den wurmenden Liebesbeziehungen der Älteren etwas von geflügeltem Eros an sich. Sie verachteten altklug die »Gier«, die »aufgestutzte Lüge des plumpen Daseinsgenusses«, wie sie es nannten, aber von Übersinnlichkeit und Inbrunst sprachen sie so viel, daß in der Seele des betroffenen Zuhörers unwillkürlich und durch Kontrast ein zartes Gedenken an Sinnlichkeit und Brunst entstand, und sogar Leo Fischel mußte zugeben, daß der rückhaltlose Eifer, mit dem sie sprachen, zuweilen den Zuhörer die Wurzeln ihrer Ideen bis in die Beine fühlen mache, was er jedoch tadelte, denn er verlangte, daß man angesichts großer Ideen ein Aufschauen empfinden müsse.
Klementine dagegen sagte: »Du solltest nicht einfach alles von dir weisen, Leo!«
»Wie können sie behaupten: Besitz entgeistigt!« fing er dann mit ihr zu streiten an. »Bin ich entgeistigt?! Vielleicht bist du es schon zur Hälfte, weil du ihre Redereien ernst nimmst!«
»Das verstehst du nicht, Leo; sie meinen es christlich, sie wollen an diesem Leben vorbei, zu einem höheren Leben auf Erden gelangen.«
»Das ist nicht christlich, sondern verdreht!« verwahrte sich Leo.
»Die wahre Wirklichkeit sehen am Ende vielleicht doch nicht die Realisten, sondern die, welche nach innen schaun« meinte Klementine.
»Ich lache!« behauptete Fischel. Aber er irrte sich, er weinte; innerlich, vor Unmacht, der geistigen Veränderungen in seiner Umgebung Herr zu werden.
Direktor Fischel empfand jetzt öfter als früher das Bedürfnis nach frischer Luft; nach Schluß der Arbeit drängte es ihn nicht, nach Hause zu eilen, und wenn er noch bei Tag aus seinem Büro kam, liebte er es, sich ein wenig in einem der Stadtgärten herumzutreiben, obgleich es Winter war. Er hatte noch aus seiner Praktikantenzeit eine Vorliebe für diese Gärten. Aus einem Grund, den er nicht einsehen konnte, hatte die Stadtverwaltung im Spätherbst die eisernen Klappstühle darin neu anstreichen lassen; nun standen sie frischgrün, aneinander gelehnt auf den schneeweißen Wegen und erregten die Phantasie mit Frühlingsfarben. Leo Fischel ließ sich zuweilen auf einem solchen Stuhl nieder, ganz allein und eingemummt, am Rand eines Spielplatzes oder einer Promenade, und sah den Kinderfräulein zu, die sich mit ihren Pfleglingen in der Sonne ein Ansehen von Wintergesundheit gaben. Sie spielten Diavolo oder warfen kleine Schneeballen, und die kleinen Mädchen machten große Frauenaugen; – ach, – dachte Fischel – es sind gerade jene Augen, die im Antlitz einer erwachsenen schönen Frau den herrlichen Eindruck hervorrufen, daß sie Kinderaugen habe. Es tat ihm wohl, den kleinen spielenden Mädchen zuzusehen, in deren Augen die Liebe noch im Märchenteich schwamm, aus dem sie später der Storch holt; und zuweilen auch den Erzieherinnen. In seinen jungen Jahren hatte er oft diesen Anblick genossen, als er noch vor der Auslagenscheibe des Lebens stand und kein Geld besaß, um einzutreten, sondern nur darüber nachdenken durfte, was ihm sein Schicksal später bescheren würde. Es sei kläglich genug ausgefallen, fand er und glaubte einen Augenblick voll der Spannung der Jugend wieder zwischen weißem Krokus und grünem Gras zu sitzen. Kehrte danach sein Wirklichkeitsbewußtsein zu der Feststellung von Schnee und grünem Eisenlack zurück, so dachte er, merkwürdig genug, jedesmal an sein Einkommen; Geld gibt Unabhängigkeit, aber derzeit ging sein Gehalt ganz für die Bedürfnisse der Familie und die von der Vernunft geforderten Rücklagen auf; man mußte also wohl – überlegte er – neben seinem Dienst noch irgendetwas anderes tun, um sich unabhängig zu machen, vielleicht die Kenntnis der Börse ausnutzen, die man besitzt, so wie es die Hauptdirektoren taten. Solche Gedanken nahten Leo aber nur, wenn er den spielenden Mädchen zusah, und er wies sie zurück, weil er keineswegs das zur Spekulation nötige Temperament in sich fühlte. Er war Prokurist, trug bloß den Titel Direktor, hatte keine Aussicht, darüber hinauszukommen, und schüchterte sich sofort geflissentlich mit dem Gedanken ein, daß ein solcher armer Arbeitsrücken wie der seine schon zu gebückt sei, um sich frei aufzurichten. Er wußte nicht, daß er das bloß dachte, um zwischen sich und den schönen Kindern und Kinderfräulein, die in diesen Gartenaugenblicken die Stelle der Lebenslockung bei ihm vertraten, ein unübersteigliches Hindernis aufzurichten; denn er war, selbst in der mißmutigen Stimmung, die ihn abhielt, nach Hause zu gehn, ein unverbesserlicher Familienmensch und würde alles darum gegeben haben, wenn er bloß den Höllenkreis daheim in einen um Gottvater-Titulardirektor schwebenden Kreis von Engeln hätte verwandeln können.
Auch Ulrich hatte die Gärten gern und kreuzte sie, wenn sein Weg es erlaubte; so kam es, daß er in dieser Zeit wieder mit Fischel zusammenstieß, und diesem fiel augenblicklich alles ein, was er wegen der Parallelaktion zu Hause schon erlitten hatte. Er äußerte sich unbefriedigt darüber, daß sein junger Freund die Einladungen seiner alten Freunde nicht besser schätze, was er sich um so viel ehrlicher einreden konnte, als auch flüchtige Freundschaften mit der Zeit ebenso zu alten werden wie die lebhaftesten.
Der alte junge Freund behauptete, daß es ihm wirklich die größte Freude bereite, Fischel wiederzusehen, und klagte über seine lächerliche Tätigkeit, die ihn bisher daran verhindert habe.
Fischel klagte über schlechte Zeitentwicklung und schweres Geschäft. Überhaupt Lockerung der Moral. Es sei alles so materiell und überhastet.
»Und ich dachte gerade, daß ich Sie beneiden könnte!« gab Ulrich zurück. »Der Beruf des Kaufmanns muß doch ein wahres Sanatorium der Seele sein! Zumindest ist er der einzige Beruf mit einer ideell sauberen Grundlage!«
»Das ist er!« bekräftigte Fischel. »Der Kaufmann dient dem menschlichen Fortschritt und begnügt sich mit einem erlaubten Nutzen. Er hat es dabei genau so schlecht wie jeder andere!« fügte er dunkel melancholisch hinzu.
Ulrich hatte sich bereit erklärt, ihn nach Hause zu begleiten.
Als sie dort eintrafen, fanden sie schon eine aufs äußerste gespannte Stimmung vor.
Alle Freunde hatten sich eingefunden, und es war eine große Wortschlacht im Gange. Diese jungen Leute besuchten noch das Gymnasium oder sie waren in den ersten Semestern der Hochschulen, einige von ihnen hatten auch eine Anstellung als Kaufleute. Wie ihr Kreis sich zusammengeschlossen hatte, wußten sie selbst nicht mehr. Von Mann zu Mann. Die einen hatten sich in nationalen Studentenverbindungen kennengelernt, andere in sozialistischen oder in der katholischen Jugendbewegung, dritte in einer Wandervogelhorde.
Man geht nicht ganz fehl, wenn man annimmt, daß das einzige ihnen allen Gemeinsame Leo Fischel war. Eine geistige Bewegung braucht, wenn sie dauern soll, einen Körper, und das war die Fischelsche Wohnung, samt Verpflegung und einer gewissen Regelung des Verkehrs durch Frau Klementine. Zu dieser Wohnung gehörte Gerda, zu Gerda gehörte Hans Sepp, und Hans Sepp, der Student mit dem unreinen Teint und der umso reineren Seele, war zwar nicht der Führer, weil die jungen Leute keinen Führer anerkannten, aber er war die stärkste Leidenschaft unter ihnen. Gelegentlich kamen sie wohl auch anderswo zusammen, und es hospitierten dann auch andere Frauen als Gerda; aber so, wie geschildert, war der Kern der Bewegung beschaffen.
Trotz alledem war es so merkwürdig, woher der Geist dieser jungen Leute kam, wie es das Auftreten einer neuen Krankheit oder das einer langen Trefferreihe im Glücksspiel ist. Als die Sonne des alten europäischen Idealismus zu verlöschen begann und der weiße Geist sich verdunkelte, wurden viele Fackeln von Hand zu Hand gereicht – Ideenfackeln; weiß Gott, wo sie gestohlen oder erfunden worden waren! – und bildeten da und dort den auf und nieder tanzenden Feuersee einer kleinen Geistesgemeinschaft. So war in den letzten Jahren, ehe der große Krieg die Folgerung daraus zog, unter jungen Menschen auch viel von Liebe und Gemeinschaft die Rede, und besonders die jungen Antisemiten im Haus des Bankdirektors Fischel standen im Zeichen alles umfassender Liebe und Gemeinschaft. Wahre Gemeinschaft ist das Wirken eines inneren Gesetzes, und das tiefste, einfachste, vollkommenste und erste ist das Gesetz der Liebe. Wie schon bemerkt worden, nicht Liebe im niederen, sinnlichen Sinn; denn körperlicher Besitz ist eine mammonistische Erfindung und wirkt nur trennend und entsinnend. Und natürlich kann man auch nicht jeden Menschen lieben. Aber vor eines jeden Charakter kann man Achtung haben, sofern er als wahrhafter Mensch strebt, unter strengster eigener Verantwortlichkeit. So stritten sie im Namen der Liebe gemeinsam über alles.
An diesem Tag aber hatte sich eine einige Front gegen Frau Klementine gebildet, die sich so gern noch einmal jung fühlte und innerlich zugab, daß die eheliche Liebe wirklich viel mit dem Zinsendienst eines Kapitals gemeinsam habe, aber keineswegs erlauben wollte, daß man über die Parallelaktion aburteile, weil die Arier nur dann fähig seien, Symbole zu schaffen, wenn sie rein unter sich sind. Frau Klementine hielt nur noch mit Mühe an sich, und Gerda hatte kreisrunde rote Flecken unter den Backen, vor Wut über ihre Mutter, die nicht zu bewegen war, das Zimmer zu verlassen. Als Leo Fischel mit Ulrich die Wohnung betreten hatte, machte sie Hans Sepp heimlich bittende Zeichen, daß er abbrechen möge, und Hans sagte versöhnlich: »Menschen unserer Zeit gelingt es überhaupt nicht, etwas Großes zu schaffen!« womit er die Sache auf eine unpersönliche Formel gebracht zu haben glaubte, an die man schon gewöhnt war.
In diesem Augenblick mischte sich aber Ulrich unglücklicherweise in das Gespräch und fragte Hans, mit ein wenig Bosheit gegen Fischel, ob er denn in gar keiner Weise an einen Fortschritt glaube?
»Fortschritt?!« antwortete Hans Sepp von oben. »Vergleichen Sie bloß, was für Menschen vor hundert Jahren dagewesen sind, ehe es zum Fortschritt kam: Beethoven! Goethe! Napoleon! Hebbel!«
»Hm,« meinte Ulrich »der letzte war vor hundert Jahren gerade ein Säugling.«
»Zahlengenauigkeit verachten die jungen Herrschaften!« erklärte Direktor Fischel vergnügt. Ulrich ging nicht darauf ein; er wußte, daß Hans Sepp ihn eifersüchtig verachte, aber er selbst hatte mancherlei für die wunderlichen Freunde Gerdas übrig. Er setzte sich darum in den Kreis und fuhr fort: »Wir machen in den einzelnen Zweigen des menschlichen Könnens unleugbar so viele Fortschritte, daß wir ordentlich das Gefühl haben, ihnen nicht nachkommen zu können; wäre es nicht möglich, daß daraus auch das Gefühl entsteht, wir erlebten keinen Fortschritt? Schließlich ist Fortschritt doch das, was sich aus allen Anstrengungen gemeinsam ergibt, und man kann eigentlich von vornherein sagen, der wirkliche Fortschritt wird immer gerade das sein, was keiner wollte.«
Hans Sepps dunkler Schopf richtete sich wie ein zitterndes Horn gegen ihn. »Da sagen Sie es doch selbst: Was keiner wollte! Ein gackerndes Hin und Her; hundert Wege, aber kein Weg! Gedanken also, aber keine Seele! Und kein Charakter! Der Satz springt aus der Seite, das Wort springt aus dem Satz, das Ganze ist kein Ganzes mehr – sagt schon Nietzsche; ganz abgesehen davon, daß Nietzsches Ichsucht auch ein Daseinsunwert ist! Nennen Sie mir einen einzigen festen, letzten Wert, nach dem zum Beispiel Sie sich in Ihrem Leben richten!«
»Ausgerechnet sofort!« protestierte Direktor Fischel; aber Ulrich fragte Hans: »Sind Sie wirklich niemals imstande, ohne einen letzten Wert zu leben?«
»Nein« sagte Hans. »Aber ich gebe Ihnen zu, daß ich deshalb unglücklich sein muß.«
»Der Teufel soll Sie holen!« lachte Ulrich. »Alles, was wir können, beruht darauf, daß wir nicht allzu streng sind und auf die höchste Erkenntnis warten; das Mittelalter hat das getan und ist unwissend geblieben.«
»Das ist sehr die Frage« antwortete Hans Sepp. »Ich behaupte, daß wir unwissend sind!«
»Aber Sie müssen zugeben, daß unsere Unwissenheit offenbar eine äußerst glückliche und abwechslungsreiche ist.«
Aus dem Hintergrund brummte eine gelassene Stimme: »Abwechslungsreich! Wissen! Relativer Fortschritt! Das sind Begriffe der mechanischen Denkweise einer vom Kapitalismus zerfaserten Zeit! Mehr brauche ich Ihnen nicht zu sagen –«
Auch Leo Fischel brummte; soviel zu verstehen war, fand er, daß Ulrich mit diesen respektlosen Jungen sich viel zu sehr einlasse; er verschanzte sich hinter einer Zeitung, die er aus der Tasche zog.
Aber Ulrich machte es nun einmal Vergnügen. »Ist das moderne Bürgerhaus mit Sechszimmerwohnung, Dienstbotenbad, Vacuum Cleaner und so weiter, wenn man es mit den alten Häusern vergleicht, die hohe Zimmer, dicke Mauern und schöne Gewölbe haben, ein Fortschritt oder nicht?« fragte er.
»Nein!« schrie Hans Sepp.
»Ist das Flugzeug ein Fortschritt gegenüber der Postkutsche?«
»Ja!« schrie Direktor Fischel.
»Die Kraftmaschine gegenüber der Handarbeit?«
»Handarbeit!« schrie Hans, »Maschine! Leo.«
»Ich denke« sagte Ulrich »jeder Fortschritt ist zugleich ein Rückschritt. Es gibt Fortschritt immer nur in einem bestimmten Sinn. Und da unser Leben im Ganzen keinen Sinn hat, hat es im Ganzen auch keinen Fortschritt.«
Leo Fischel ließ die Zeitung sinken: »Halten Sie es für besser, in sechs Tagen über den Atlantik zu fahren oder sechs Wochen dazu zu brauchen?!«
»Ich würde wahrscheinlich sagen, es sei unbedingt ein Fortschritt, beides zu können. Unsere jungen Christen bestreiten jedoch auch das.«
Der Kreis blieb reglos wie ein gespannter Bogen. Ulrich hatte das Gespräch gelähmt, aber nicht die Angriffslust. Er fuhr ruhig fort: »Aber man kann auch das Umgekehrte sagen: Wenn unser Leben Fortschritte im einzelnen hat, hat es Sinn im einzelnen. Wenn es aber einmal einen Sinn gehabt hat, zum Beispiel den Göttern Menschen zu opfern oder Hexen zu verbrennen oder das Haar zu pudern, dann bleibt das doch ein sinnvolles Lebensgefühl, auch wenn hygienischere Sitten und Humanität Fortschritte sind. Der Fehler ist, daß der Fortschritt immer mit dem alten Sinn aufräumen will.«
»Sie wollen vielleicht sagen,« fragte Fischel »daß wir wieder zu den Menschenopfern zurückkehren sollen, nachdem wir ihre verabscheuenswürdige Finsternis glücklich überwunden haben?!«
»Finsternis ist gar nicht so sicher zu behaupten!« antwortete Hans Sepp an Ulrichs Stelle. »Wenn Sie einen unschuldigen Hasen verschlingen, ist das finster; wenn aber ein Kannibale unter religiösen Zeremonien ehrfürchtig einen Stammesfremden verspeist, wissen wir einfach nicht, was in ihm vorgeht!«
»Es muß wirklich an überwundenen Zeiten etwas daran gewesen sein,« schloß sich ihm Ulrich an, »sonst wären doch nicht so viele nette Menschen einst mit ihnen einverstanden gewesen. Vielleicht ließe sich das für uns ausnützen, ohne große Opfer zu bringen? Und vielleicht opfern wir heute gerade deshalb noch viele Menschen, weil wir uns die Frage der richtigen Überwindung früherer Menschheitseinfälle nie deutlich gestellt haben!? Es sind das schwer auszudrückende und undurchsichtige Beziehungen.«
»Aber für Ihre Denkweise bleibt das Wunschziel trotzdem immer nur eine Summe oder eine Bilanz!« platzte da Hans Sepp, nun gegen Ulrich, heraus. »Sie glauben geradeso an den bürgerlichen Fortschritt wie Direktor Fischel, nur drücken Sie das möglichst verwickelt und pervers aus, damit man Ihnen nicht daraufkommen soll!« Hans hatte die Meinung seiner Freunde ausgesprochen. Ulrich suchte Gerdas Gesicht. Er wollte nachlässig seine Gedanken noch einmal aufnehmen, ohne zu beachten, daß Fischel und die jungen Leute ebenso bereit waren, sich auf ihn wie aufeinander zu stürzen.
»Aber Sie streben doch ein Ziel an, Hans?« sagte er von neuem.
»Es strebt. In mir. Durch mich«, erwiderte Hans Sepp kurz.
»Und wird es das erreichen?« Leo Fischel hatte sich zu dieser spöttischen Frage hinreißen lassen und trat damit, wie es alle bis auf ihn selbst verstanden, Ulrich zur Seite.
»Das weiß ich nicht!« antwortete Hans finster.
»Sie sollten Ihre Examen machen: das wäre ein Fortschritt!« Leo Fischel hatte es sich nicht versagen können, auch das zu bemerken, so sehr war er gereizt; aber nicht minder durch seinen Freund wie durch die unreifen Buben.
In diesem Augenblick flog das Zimmer in die Luft. Frau Klementine warf ihrem Gatten einen beschwörenden Blick zu; Gerda suchte Hans zuvorzukommen, und Hans rang nach Worten, die sich schließlich wieder auf Ulrich entluden: »Seien Sie sicher,« rief er ihm zu »im Grunde denken auch Sie nicht einen einzigen Gedanken, den nicht Direktor Fischel denken könnte!«
Damit stürzte er hinaus, und seine Freunde drängten mit zorniger Verbeugung hinter ihm drein. Direktor Fischel, von Klementine mit Blicken gestoßen, tat so, als ob er sich nachträglich seiner Hausherrnpflicht besänne, und verzog sich brummig ins Vorzimmer, um den jungen Leuten noch ein gutes Wort zu geben. Im Zimmer waren nur Gerda, Ulrich und Frau Klementine zurückgeblieben, die einigemale beruhigt atmete, weil die Luft nun geklärt war. Dann stand sie auf, und Ulrich fand sich zu seiner Überraschung mit Gerda allein.