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Diotimas Nächte
Diotima wunderte sich darüber, daß Arnheim alle diese Leute sichtlich mit Wohlgefallen ertrug, denn der Zustand ihrer Gefühle entsprach allzu sehr dem, was sie einigemale mit den Worten ausgedrückt hatte, Weltgeschäfte seien nicht mehr als un peu de bruit autour de notre âme.
Es wurde ihr manchmal wirr zumute, wenn sie um sich sah und ihr Haus voll vom Adel der Welt und des Geistes erblickte. Von der Geschichte ihres Lebens war nur der äußerste Gegensatz zwischen Tiefe und Höhe übrig geblieben, ihre Lage als Mädchen, voll banger Mittelstandsbeengtheit, und jetzt der die Seele blendende Erfolg. Und sie fühlte die Forderung, obgleich sie schon auf schwindelnd schmaler Stufe stand, den Fuß noch einmal zu heben, in der Erwartung, daß es noch höher gehe. Die Unsicherheit zog sie an. Sie rang mit dem Beschluß, in ein Leben einzutreten, wo Tätigkeit, Geist, Seele und Traum eins sind. Sie machte sich im Grunde keine Sorgen mehr darüber, daß sich keine krönende Idee der Parallelaktion zeigen wollte; auch Weltösterreich war ihr gleichgültiger geworden; selbst das Erlebnis, daß es zu jedem großen Entwurf des menschlichen Geistes einen Gegenentwurf gibt, hatte keine Schrecken mehr für sie. Der Gang der Dinge ist dort, wo sie wichtig sind, nicht logisch; eher erinnert er an Blitz und Feuer, und sie hatte sich daran gewöhnt, daß sie sich über die Größe, von der sie sich umgeben fühlte, nichts denken konnte. Am liebsten hätte sie ihre Aktion stehen gelassen und Arnheim geheiratet, so wie für ein kleines Mädchen alle Schwierigkeiten gut sind, wenn es sie fallen läßt und an die Brust des Vaters stürzt. Aber das unsagbare äußere Wachstum ihrer Tätigkeit hielt sie fest. Sie fand nicht die Zeit, sich zu entscheiden. Die äußere Verknüpfung der Geschehnisse und die innere liefen als zwei unabhängige Reihen nebeneinander weiter, mit vergeblichen Versuchen, sie zu verbinden. Es war das gleiche wie in ihrer Ehe, die sogar scheinbar glücklicher als früher weiterlief, indes sich alles Seelische in Auflösung befand.
Ihrem Charakter nach hätte Diotima offen mit ihrem Gatten reden müssen; aber es gab nichts, was sie ihm sagen konnte. Liebte sie Arnheim? Ihrer Beziehung zu ihm konnte man so viele Namen geben, daß dieser sehr triviale ausnahmsweise auch unter ihren Gedanken vorkam. Sie hatten sich noch nicht einmal geküßt, und äußerste Umarmungen der Seelen würde Tuzzi nicht verstehen, auch wenn sie ihm gebeichtet würden. Diotima wunderte sich zuweilen selbst darüber, daß nicht mehr Erzählbares zwischen ihr und Arnheim vor sich ging. Aber sie hatte niemals die Gewohnheit des braven, jungen Mädchens, das zu älteren Männern ehrgeizig aufblickt, ganz abgelegt, und sie hätte sich eher noch mit ihrem Vetter, der ihr jünger vorkam, als sie es selbst war, und von ihr ein wenig verachtet wurde, wenn nicht handgreifliche, so doch erzählerisch greifbare Vorgänge vorstellen können als mit dem Mann, den sie liebte und der es so sehr zu würdigen wußte, wenn sie ihre Gefühle in allgemeine Betrachtungen von großer geistiger Höhe auflöste. Diotima wußte, daß man in grundstürzende Veränderungen der Lebensumstände hineintaumeln und zwischen seinen neuen vier Wänden erwachen muß, ohne sich recht erinnern zu können, wie man hineingekommen ist, aber fühlte sich Einflüssen ausgesetzt, die sie wachsam erhielten. Sie war nicht ganz frei von der Abneigung, die der Durchschnittsösterreicher ihrer Zeit gegen den deutschen Bruder empfand. Diese Abneigung entsprach in ihrer klassischen, inzwischen selten gewordenen Form ungefähr einer Vorstellung, die arglos die verehrten Köpfe Goethes und Schillers auf einen Leib setzte, der mit klibbrigen Puddings und Tunken ernährt wurde und etwas von deren unmenschlicher Innerlichkeit hatte. Und so groß Arnheims Erfolg in ihrem Kreise war, entging ihr nicht, daß sich nach der ersten Zeit der Überraschung auch Widerstände regten, die nirgends Form annahmen oder zu Tage traten, aber sie doch raunend unsicher machten und ihr den Unterschied zu Bewußtsein brachten, der zwischen ihrer eigenen Haltung und der Zurückhaltung mancher Personen bestand, nach denen sie ihr Benehmen sonst zu richten gewohnt war. Nun sind völkische Abneigungen gewöhnlich nichts anderes als Abneigung gegen sich selbst, tief aus der Dämmerung eigener Widersprüche geholt und an ein geeignetes Opfer geheftet, ein seit den Urzeiten bewährtes Verfahren, wo der Medizinmann mit einem Stäbchen, das er zum Sitz des Dämons erklärte, die Krankheit aus dem Leib des Kranken gezogen hat. Daß ihr Geliebter ein Preuße war, verwirrte Diotimas Herz zu allem anderen also auch noch mit Schrecknissen, von denen sie sich keine rechte Vorstellung machen konnte, und es war wohl nicht ganz unberechtigt, wenn sie diesen unentschlossenen Zustand, der sich so deutlich von der einfachen Derbheit des Ehelebens unterschied, Leidenschaft nannte.
Diotima hatte schlaflose Nächte; in diesen Nächten schwankte sie zwischen einem preußischen Industriechef und einem österreichischen Sektionschef. In der Verklärung des Halbtraums zog Arnheims großes, durchglänztes Leben an ihr vorüber. Sie flog an der Seite des geliebten Mannes durch einen Himmel neuer Ehrungen, aber dieser Himmel hatte ein unangenehmes Preußischblau. In der schwarzen Nacht lag der gelbe Körper des Sektionschefs Tuzzi inzwischen noch neben dem ihren. Sie ahnte es bloß, wie ein schwarzgelbes Symbol alter kakanischer Kultur, wenn er von solcher auch nur wenig besaß. Die Barockfassade am Palast des Grafen Leinsdorf, ihres erlauchten Freundes, war dahinter, die Nähe Beethovens, Mozarts, Haydns, des Prinzen Eugen schwebte wie Heimweh darum, das sich schon vor der Flucht wieder zurücksehnt. Diotima konnte sich zu dem Schritt aus dieser Welt hinaus nicht ohneweiters entschließen, obgleich sie ihren Gatten deshalb beinahe haßte. In ihrem schönen, großen Leib saß die Seele hilflos wie in einem weiten blühenden Land.
»Ich darf nicht ungerecht sein« sprach Diotima zu sich. »Der Amts- und Berufsmensch ist wohl nicht mehr wach und weit und empfangend, aber in seiner Jugend hätte er vielleicht doch die Möglichkeit dazu gehabt.« Sie erinnerte sich an Stunden aus der Bräutigamszeit, obgleich Sektionschef Tuzzi schon damals kein Jüngling mehr gewesen war. »Er hat durch Fleiß und Pflichttreue seine Stellung und Persönlichkeit errungen« dachte sie gutmütig; »er ahnt doch selbst nicht, daß dies auf Kosten des Lebens seiner Persönlichkeit geschehen ist.«
Seit ihrem gesellschaftlichen Sieg dachte sie nachsichtiger von ihrem Gatten, und ihre Gedanken machten darum noch ein Zugeständnis. »Niemand ist reiner Verstandes- und Nützlichkeitsmensch; jeder begann damit, daß er mit einer lebenden Seele lebte« überlegte sie. »Aber der Alltag versandet ihn, die gewöhnlichen Leidenschaften ziehen über ihn hin wie ein Brand, und die kalte Welt ruft in ihm jene Kälte hervor, in der seine Seele dahinsiecht.« Vielleicht war sie zu bescheiden gewesen, um ihm das rechtzeitig mit Strenge vorzuhalten. Es war so traurig. Es kam ihr vor, daß sie niemals den Mut finden werde, Sektionschef Tuzzi in den Skandal einer Scheidung zu verwickeln, der ihn, mit seinem Amt verflochten wie er war, aufs tiefste erschüttern mußte.
»Dann lieber Ehebruch!« sagte sie sich plötzlich.
Ehebruch, diesen Gedanken hatte Diotima seit einiger Zeit gefaßt.
Es ist ein unfruchtbarer Begriff, seine Pflicht dort zu tun, wohin man gestellt worden ist; man verausgabt Kraftsummen um nichts; die wahre Pflicht ist es, seinen Platz zu wählen und die Verhältnisse bewußt zu gestalten! Wenn sie sich schon dazu verurteilte, an der Seite ihres Gatten auszuharren, so gab es doch ein unnützes und ein fruchtbares Unglück, und sie hatte die Pflicht, sich zu entscheiden. Allerdings, Diotima hatte bisher noch nie über jenes peinlich Kokottenhafte und unschön Leichtsinnige hinwegkommen können, das an allen Ehebruchsschilderungen haftete, die sie kannte. Sie vermochte sich selbst in einer solchen Lage nicht recht vorzustellen. Die Klinke eines Absteigequartiers zu berühren, erschien ihr wie das Tauchen in einen Pfuhl. Mit rauschenden Röcken fremde Stiegen hinaufzuhuschen: eine gewisse moralische Geruhsamkeit ihres Körpers wehrte sich dagegen. In Eile gegebene Küsse widersprachen ihrer Natur genau so wie flüchtig flatternde Liebesworte. Eher war sie für Katastrophen. Letzte Gänge, in der Kehle ersterbende Abschiedsworte, tiefe Konflikte zwischen der Pflicht der Geliebten und der Mutter, das entsprach viel besser ihrer Anlage. Aber sie besaß wegen der Sparsamkeit ihres Gatten keine Kinder, und die Tragödie sollte gerade vermieden werden. So entschloß sie sich, wenn es so weit käme, für Renaissancemuster. Eine Liebe, die mit dem Dolch im Herzen lebt. Das konnte sie sich nicht genau vorstellen, aber es war zweifellos etwas Aufrechtes; mit geborstenen Säulen, über denen Wolken fliegen, als Hintergrund. Schuld und Überwindung des Schuldgefühls, Lust, gesühnt durch Leid, zitterte in diesem Bild und erfüllte Diotima mit einer unerhörten Steigerung und Andacht. »Wo ein Mensch seine höchsten Möglichkeiten findet und seine reichste Kraftentfaltung erfährt, dort gehört er auch hin,« dachte sie »denn dort nützt er zugleich der tiefsten Lebenssteigerung des Ganzen!«
Sie sah, so gut es die Nacht erlaubte, ihren Gatten an. Wie das Auge die ultravioletten Strahlen des Spektrums nicht wahrnimmt, würde dieser Intelligenzmensch gewisse seelische Wirklichkeiten überhaupt nicht bemerken!
Sektionschef Tuzzi atmete ahnungslos, ruhig und eingewiegt von dem Gedanken, daß während seiner verdienten Geistesabwesenheit von acht Stunden in Europa nichts von Wichtigkeit vor sich gehen könne. Dieser Frieden verfehlte nicht, auch auf Diotima Eindruck zu machen, und nicht nur einmal erwog sie dann den Gedanken: Entsagung! Abschied von Arnheim, große, edle Worte des Leids, himmelstürmender Verzicht, Beethovensches Scheiden: der kräftige Muskel ihres Herzens spannte sich unter solchen Anforderungen. Zitternde, herbstlich glänzende Gespräche, voll von der Wehmut ferner blauer Berge, erfüllten die Zukunft. Aber Entsagen und eheliches Doppelbett?! Diotima fuhr in den Polstern empor, ihr schwarzes Haar ringelte sich wild. Sektionschef Tuzzis Schlaf war jetzt nicht mehr jener der Unschuld, sondern der der Schlange, die ein Kaninchen in ihrem Leibe hat. Es fehlte nicht viel, so hätte Diotima ihn geweckt und ihm angesichts dieser neuen Frage ins Gesicht geschrien, daß sie ihn verlassen müsse, müsse, wolle!! Eine solche Flucht in eine hysterische Szene wäre in ihrer zwiespältigen Lage gut zu verstehen gewesen; aber ihr Leib war zu gesund dazu, sie fühlte, daß er einfach nicht mit äußerstem Entsetzen auf Tuzzis Nähe antwortete. Vor diesem fehlenden Entsetzen fühlte sie ein trockenes Grauen. Tränen versuchten dann vergeblich, über ihre Wange zu rinnen, aber merkwürdigerweise bedeutete ihr gerade in diesem Zustand der Gedanke an Ulrich einen gewissen Trost. Sie dachte in dieser Zeit sonst nie an ihn, aber seine wunderlichen Äußerungen, er möchte die Wirklichkeit abschaffen und Arnheim überschätze sie, hatten einen unverständlichen Nebenton, einen schwebenden, über den Diotima seinerzeit weggehört hatte, der aber in diesen Nächten wieder zum Vorschein kam. »Das heißt doch nichts anderes, als daß man sich nicht zu sehr um das kümmern soll, was geschehen wird« sagte sie sich ärgerlich; »es ist das Gewöhnlichste von der Welt!« Und während sie diesen Gedanken so schlecht und einfach übersetzte, wußte sie, daß sie etwas daran nicht verstand, und gerade davon ging die Beruhigung aus, die wie ein Schlafpulver war, das ihre Verzweiflung samt dem Bewußtsein lähmte. Die Zeit huschte wie ein dunkler Strich davon, sie fühlte getröstet, daß man irgendwie ihren Mangel an anhaltender Verzweiflung auch anerkennenswert finden könne, aber es wurde ihr nicht mehr klar.
In der Nacht fließen die Gedanken bald im Hellen, bald durch Schlaf, wie Wasser im Karst, und wenn sie nach einer Weile wieder ruhig zum Vorschein kamen, hatte Diotima den Eindruck, sie habe das vorangegangene Schäumen bloß geträumt. Der kochende kleine Fluß, der hinter dem dunklen Gebirgsstock lag, war nicht der gleiche wie der stille Strom, in den Diotima schließlich hineinglitt. Zorn, Abscheu, Mut, Angst waren verronnen, es durfte solche Gefühle nicht geben, es gab sie nicht: in den Kämpfen der Seelen hat niemand Schuld! Auch Ulrich war dann wieder vergessen. Denn es waren nun bloß noch die letzten Geheimnisse, das ewige Sehnen der Seele vorhanden. Ihre Sittlichkeit liegt nicht in dem, was man tut. Sie liegt nicht in den Bewegungen des Bewußtseins noch in denen der Leidenschaft. Auch die Leidenschaften sind nur un peu de bruit autour de notre âme. Man kann Königreiche gewinnen oder verlieren, aber die Seele rührt sich nicht, und man kann nichts tun, um sein Schicksal zu erreichen, aber zuweilen wächst es aus der Tiefe des Wesens, still und täglich, wie der Gesang der Sphären. Diotima lag dann so wach wie zu keiner anderen Stunde, aber voll Vertrauen. Diese Gedanken, mit ihrem dem Auge entzogenen Schlußpunkt, hatten den Vorzug, sie selbst in den schlaflosesten Nächten nach ganz kurzer Weile einzuschläfern. Wie eine samtene Vision spürte sie ihre Liebe in das unendliche Dunkel übergehen, das über die Sterne hinausreicht, untrennbar von ihr, untrennbar von Paul Arnheim, durch keine Pläne und Absichten zu berühren. Sie fand kaum noch Zeit, nach dem Glas Zuckerwasser zu greifen, das sie zur Bekämpfung ihrer Schlaflosigkeit auf dem Nachttischlein stehen hatte, aber immer erst in diesem letzten Augenblick benutzte, weil sie es in denen der Aufregung vergaß. Der leise Laut des Trinkens perlte wie das Flüstern von Liebenden hinter einer Wand neben dem Schlaf ihres Gatten, der nichts davon hörte; dann legte sich Diotima andächtig in die Polster zurück und versank in das Schweigen des Seins.